Der rapide Realitätsverlust von Regierung und Regierungsfraktionen

Friedrich Merz ist London, wo er mit Starmer und Macron einen Frieden will, den er nicht bekommt, dafür aber Deutschland ruiniert. Vorrangig geht es um Geld. In der CDU/CSU will man Deutschland als Hort der Stabilität sehen und bleibt stabil weltfremd. Wer Stärke demonstrieren will, wo er keine hat, macht sich nur lächerlich.

picture alliance / empics | Jonathan Brady

Es bleibt der Staatskunst eines Bundeskanzlers Merz vorbehalten, Wünsche über Realität zu stellen, die Möglichkeit, einen Frieden in der Ukraine zu erreichen, zu torpedieren, weil er sich im Wolkenkuckucksamt einen Frieden in der Ukraine wünscht, den er nicht bekommt, dafür aber Deutschland ruiniert. Wunschdenken fußt oft auf Narzissmus.

Friedrich Hölderlin nannte es einmal die bleierne Zeit, in der sich Deutschland damals und heute wieder befindet, eine Tristesse, ein langsamer Zerfall, ein Anachronismus wie ein Verhängnis. Wenn die Wirklichkeit geht, kommen Wunschdenken, der Glaube an Wunderwaffen, überhaupt an Wunder, Durchhalteparolen und Beschwörungen inklusive Verschwörungstheorien, die Dämonisierung des zum Feind erklärten politischen Gegners.

Auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: Nicht die AfD ist der Feind dieser Regierung, sondern die Wirklichkeit. Weil man die Botschaft nicht hören will, verfolgt man den Boten. Gerade eben wollte Friedrich Merz die Finanzarchitektur der Welt in Turbulenzen bringen, die europäische Finanzarchitektur zum Einsturz und Deutschland finanziell in Schutt und Asche legen.

Die Vorstellung, die eingefrorenen russischen Vermögenswerte den Russen zu stehlen und sie den Ukrainern zu geben, wo man noch dazu nicht wissen kann, welche Kassen und Schatullen sie füllen werden, und dann als einziger Staat dafür zu haften, heißt, Deutschland zur Kriegspartei machen, heißt, Deutschland zum Paria zu machen. Denn wer wird nach dem Friedensschluss, wenn alle wieder mit Russland sprechen – Macron zuerst, wenn es ihn dann als Präsidenten noch gibt – mit Deutschland solidarisch sein? Niemand. Am wenigsten Frankreich, ganz gleich, was Macron sagt. Friedrich Merz hat offenbar noch nicht begriffen, dass bereits jetzt die Nachkriegsordnung entsteht.

Möglicherweise geht der Kelch, für die eingefrorenen russischen Vermögenswerte zu haften, an den Deutschen vorüber, weil alle anderen auf die Bremse treten, denn alle Finanzmarktexperten warnen vor den verheerenden Folgen eines solchen Schrittes. Es muss eindringlich gewarnt werden – und ist zugleich beunruhigend zu sehen, wie leichtfertig, getrieben eher von Atavismen als von Rationalität Merz und von der Leyen mit Deutschlands Zukunft spielen. Doch auch wenn dieser große Kelch an uns vorübergeht, die kleineren Kelche eben nicht.

Schon begibt sich Friedrich Merz nach seinem doch eher missglückten Besuch in Israel nach London, um dort mit Macron, Starmer und Selenskyj zusammenzutreffen. Worum es geht, ist klar, vorrangig um Geld. Starmer, Macron und Merz, für die seit kurzem die euphemistische Sammelbezeichnung die „Europäer“ verwandt wird, um eine Einigkeit vorzutäuschen, die EU-Europa nicht ist, träumen von einem Frieden, den die Ukraine bestimmen kann. Doch dafür bestehen nicht die geringsten Voraussetzungen. Die Welt berichtet, dass ein Diplomat die Sichtweise Washingtons so zusammenfasst: „Zu Beginn des Krieges hatten die Russen drei Prozent des ukrainischen Territoriums, jetzt sind es 20. Es wird nicht besser für Kiew.“

Interessant ist auch, dass die Medien tief in das Vokabular der deutschen Rechten im und nach dem I. Weltkrieg greifen, wenn sie die schwierige Sprachfigur „Siegfrieden“ aktivieren. Starmer, Macron und Merz wollen viel Geld organisieren, damit die Ukraine keinen „Siegfrieden“ Russlands akzeptieren muss, damit die Ukraine den Kriegswinter noch durchhält. Europas Musterstrategen hoffen auf ein Wunder, nämlich, dass Russlands Wirtschaft im nächsten Jahr ins Trudeln gerät und Putins Verhandlungsspielraum damit sich reduzieren würde. Die Leute, die das denken, sind ihr Geld und eigentlich überhaupt kein Geld wert.

Im Jahr 2024 betrug das russische Wirtschaftswachstum 4,08 Prozent, das deutsche -0,2 Prozent, 2025 soll das russische Wirtschaftswachstum bei 0,6 Prozent liegen, das deutsche stagniert. Laut Prognosen wird sich das russische Wirtschaftswachstum in den folgenden Jahren stabil bei 1 Prozent einpegeln. Außerdem vergisst man in der Rechnung, dass die Zeit gegen Deutschland und Frankreich und England, also gegen die selbsternannten „Europäer“ läuft. Vor allem Frankreich und Deutschland rasen in eine Staatsfinanzkrise und Deutschland – fanatisch in der Klimaideologie gefangen – in den wirtschaftlichen Ruin. Deutschland kann nicht wie Russland auf eine Vielzahl von Bodenschätzen zurückgreifen, Bodenschätze, die in immer stabileren Beziehungen gehandelt werden, beispielsweise mit China, beispielsweise mit Indien. Russland hat den Handelspartner Deutschland längst ersetzt.

Mit anderen Worten, der Ruin Deutschlands folgt aus der falschen Energie- und Wirtschaftspolitik und aus der irrationalen Haltung der Ukraine gegenüber. Letztlich würden wirtschaftliche Schwierigkeiten Putin nicht verhandlungsbereiter machen, eher im Gegenteil. Um es anekdotisch auszudrücken: Ein Volk, das seine eigene Hauptstadt anzündet, um den Gegner zu besiegen, wird sich kaum von einem Wirtschaftsrückgang beeindrucken lassen. Man muss auch bedenken, dass die Russen nur Stärke akzeptieren. Putin hat die Ukraine angegriffen, als Europa schwach war – und es ist seitdem noch schwächer geworden. Die falsche Politik Russland gegenüber, die Übererfüllung des Embargos kombiniert mit der falschen Energiepolitik, kombiniert mit der falschen China-Politik haben Deutschland entscheidend geschwächt.

Wer Stärke dort demonstrieren will, wo er keine besitzt, macht sich nur lächerlich. Was Europa, allzumal Deutschland dringend benötigt, ist Frieden für notwendige Reformen, um dadurch wieder „zu Kräften“ zu kommen. Daher liegt es im fundamentalen deutschen Interesse, Donald Trump im Versuch, Frieden zu schaffen, zu unterstützen. Man muss sich von der Illusion eines „gerechten Friedens“ frei machen. In der Geschichte wurde Frieden geschlossen, wenn die kriegführenden Seiten erschöpft waren und keiner mehr glaubte, seine Ziele erreichen zu können, oder wenn eine der beiden Seiten die Stärke besaß, ihre Ziele durchzusetzen.

Merz, Macron und Starmer wollen im Grunde Trumps Friedensplan nicht, sie wollen weiter Krieg führen lassen, weil sie von der irrigen Vorstellung ausgehen, Russland Friedensbedingungen diktieren zu können. Sie befinden sich doch nicht einmal mehr in Gesprächen mit Russland. Der britische Kabinettsminister Pat McFadden verstieg sich am Sonntag gegenüber Sky News zu der Ansage: „Das Prinzip hinter den Gesprächen wird sein, dass die Ukraine über ihre eigene Zukunft entscheiden kann.“

Nach den Gesprächen heute am frühen Nachmittag in Downing Street 10 soll die britische Außenministerin Yvette Cooper nach Washington fliegen, um Außenminister Marco Rubio die Weisheiten dieser „Europäer“ zu überbringen. Finnlands Verteidigungsminister Antti Häkkänen deutete der Welt bereits an, wie das Angebot der „Europäer“ aussehen könnte: „„Die Europäer zahlen die Unterstützung der Ukraine. Die USA müssen sich in bestimmten kritischen Bereichen engagieren.“ Zugleich zahle Europa den USA große Summen für die Lieferung von Waffen. Und der schwedische Verteidigungsminister Pal Jonson wusste über seinen amerikanischen Amtskollegen zu berichten: „Verteidigungsminister Hegseth betont, dass er Alliierten zuhört, die mit viel Geld Worten Taten folgen lassen.“

Es geht also ums Geld. Doch man darf Friedrich Merz vertrauen, dass auch hierbei Deutschland eine Führungsrolle einnehmen, vielleicht sogar einsame Spitze sein wird. Wir haben ja gerade eine Ermächtigung, fast 1000 Milliarden Euro zu pumpen und im Übrigen eine nach oben hin offene Bereichsausnahme Verteidigung.

Inzwischen scheint man in der Union eine neue PR-Linie in eigener Sache gefunden zu haben. Wenn sich philosophische Laien aufs Philosophieren verlegen, wird es ernst. Jedenfalls soll man in der Union tatsächlich der Meinung sein, dass inmitten von Turbulenzen um uns herum Deutschland einen Hort der Stabilität bildet. Und weil ihre Untertanen, so meinen sie, sich Stabilität und Modernisierung wünschten, sei gerade die Union die Kraft, die Stabilität mit Modernisierung verbindet – und hierin müssten die Abgeordneten der Regierung folgen, die in einzigartiger Weise für Stabilität und Modernisierung steht. Mit anderen Worten: Die Union bleibt stabil weltfremd und empfindet Deindustrialisierung als Modernisierung. Denn was ist der Bau eines Kühlturms gegen die Sprengung eines Kühlturms?

Und so zertanzt die Koalition Deutschlands letztes Paar Schuhe, weil in Neu-Versailles in Berlin-Mitte die Party nie aufhört.

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