Der Kanzler der zweiten Wahl – wie Friedrich Merz mit Deutschland abrechnet

Friedrich Merz regiert dieses Land als gekränkter Mann, der sich jede Demütigung merkt. Jetzt sitzt dieser nachtragende Mann an den Hebeln der Macht und fährt ein Land, das ihn mehrheitlich ablehnt, in den Ruin.

picture alliance / dts-Agentur

Wenn Friedrich Merz kritisiert wird, reagiert er selten gelassen. Etablierte Medien von ZEIT bis taz, von ZDF bis Welt und viele, viele mehr zeichnen über die Jahre ein sich inzwischen verfestigendes, bemerkenswert einheitliches Bild: Merz ist sehr schnell beleidigt und gekränkt, überaus nachtragend – und setzt dann gerne die große Keule an, sei es mit Strafanzeigen, abgesagten Terminen oder demonstrativen Distanzierungen.

„Schnell beleidigt, nachtragend“

DIE ZEIT beschreibt den CDU-Chef als Politiker, der „schnell beleidigt, nachtragend“ sei – und zwar nicht aus der Perspektive seiner Gegner, sondern als Diagnose aus dem eigenen bürgerlichen Milieu. Die taz formuliert ähnlich scharf, es gehöre zu den „Charakterzügen von CDU-Chef Friedrich Merz“, „bekanntermaßen, schnell beleidigt zu sein und das dann auch lange zu bleiben“. Und der SZ-Journalist Daniel Brössler attestiert in einem ZDF heute-Beitrag, Merz sei „relativ schnell beleidigt“ – eine Schwäche, die Olaf Scholz gezielt zu provozieren versuche. Das Bild vom empfindlichen, nachtragenden Merz ist damit kein Randnarrativ, sondern Mainstream.

Bemerkenswert ist, wie früh und wie lang sich dieses Muster in Texten über Merz wiederfindet. Im Februar 2018 nennt Albrecht Prinz von Croy in einer Kolumne bei Tichys Einblick Merz die „ewige beleidigte Leberwurst Friedrich Merz“ – einen „Politikflüchtling“, der von „Kohls Mädchen“ aus dem Amt des Fraktionsvorsitzenden gekegelt worden sei. Ausgerechnet ein langjähriger Wirtschaftsjournalist aus dem konservativen Umfeld attestiert Merz damit das, was linksliberale Kommentatoren Jahre später aufgreifen: Empfindlichkeit, Kränkung, Dauerbeleidigung als politisches Grundrauschen. Die Folge des Beitrags von Croy bei TE: Ein Interviewtermin in der darauffolgenden Woche zwischen Roland Tichy und Friedrich Merz wird ohne Angabe von Gründen durch das Büro Merz abgesagt, ein neuer Termin wird nicht genannt.

Diese Merzsche Dünnhäutigkeit bleibt nicht bei Worten. Sie findet ihren härtesten Ausdruck im Strafrecht. Die Welt am Sonntag hat Merz’ juristische Aktivitäten detailliert nachgezeichnet: Seit 2021 ließ der damalige Oppositionsführer hunderte Strafanzeigen wegen Beleidigung stellen; die Zeitung spricht von einem „ausufernden Agieren in eigener Sache“ und verweist auf Hausdurchsuchungen wegen teilweise banaler Online-Äußerungen.

In der Auswertung dieser Fälle kommt das Blatt zu dem Urteil, Merz sei – gemessen an der Zahl seiner Anzeigen – „einer der empfindlichsten Politiker“ der Republikgeschichte. Wer als Bürger den falschen Tweet absetzt, hat es hier nicht mit einem dicken Fell an der Spitze zu tun, sondern mit einem Kanzler, der Verletztheit systematisch in Strafanträge übersetzt.

Auch politisch reagiert Merz auf Gegenwind gerne mit Rückzug und Cancellation. Ein prominentes Beispiel ist das „Transatlantische Forum“ Ende August 2022 in der Landesvertretung Baden-Württemberg. Dort sollte Merz gemeinsam mit US-Senator Lindsey Graham, Henryk M. Broder und Joachim Steinhöfel auftreten. Nachdem die übliche linke Kritik an angeblicher „AfD-Nähe“ der übrigen Referenten laut wurde, hieß es dann aus der Landesvertretung: Man werde vom Mietvertrag zurücktreten. Die Welt dokumentierte: „Die Veranstaltung […] war zunächst durch Merz abgesagt worden. Dessen Sprecher hatte das ‚geänderte Programm‘ als Grund angegeben.“ Erst nachdem Merz ausgestiegen war, platzte die Veranstaltung insgesamt – Lindsay Graham sagte im Gegenzug ein Treffen mit Merz ab; Konservative, so der Senator laut Bild, würden sich „nicht gegenseitig canceln, bevor sie sprechen“.

Auf Kritik folgt Rückzug

Genau dieses Muster – Kritik, Kränkung, Rückzug – beschreibt die taz, wenn sie notiert, Merz sei „schnell beleidigt“ und bleibe es „lange“. Statt mit Argumenten auszuhalten, dass auf einem Podium auch unbequeme Partner sitzen, wählt Merz den Abgang und überlässt anderen das Kolportieren darüber sowie den angerichteten Scherbenhaufen, während er selbst auf Tauchstation geht. Für einen Politiker, der gern über „Cancel Culture“ klagt, ist das ein bemerkenswerter Rollentausch.

Noch deutlicher wird der lange Atem seiner Kränkung im Streit um die Ludwig-Erhard-Stiftung und hier kommen wir wieder zu dem Artikel von Albrecht Prinz von Croy bei Tichys Einblick im Februar 2018, dem unmittelbar danach abgesagten Termin von Merz an Tichy. Einige Monate später sollte Merz den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik erhalten. Der Eklat darum ist gut dokumentiert: Das Handelsblatt, dem die kolportierte Geschichte zugetragen wird, berichtet, Merz habe den Preis abgelehnt, weil er „nicht mit dem Stiftungsvorsitzenden Roland Tichy auf einer Bühne stehen“ wolle; „Tichys Einblick“ sei ein Forum für „rechtspopulistische Beiträge“. Das Handelsblatt spricht von einem „Eklat in der Ludwig-Erhard-Stiftung“ und einem heftigen Streit um den Vorsitzenden Tichy. Auch linke Blätter greifen die Story gerne auf. Die taz formuliert zugespitzt, der frühere CDU-Spitzenmann wolle den Preis nicht, „er will sich wohl nicht mit Roland Tichy sehen lassen“.

Interessant und wesentlich dabei: Merz selbst bleibt die ganze Zeit nach außen stumm und weiterhin Mitglied der Stiftung, aus der er jederzeit hätte austreten können. So entsteht der Eindruck eines Mannes, der weniger eine inhaltliche Auseinandersetzung führt als eine Inszenierung. Im Medienfachdienst kress wird Merz‘ Verhalten als klassischer Fall „beleidigte Leberwurst“ beschrieben. Der Text hält fest, dass man genaueres nicht erfahre, weil Merz sich „konsequent verweigerte und jegliche Stellungnahme ablehnte“.

Das erhärtet das Bild, das viele etablierte Medien zeichnen: Merz reagiert heftig, aber indirekt – er lässt wirken, was andere über seine Motive streuen, und hält sich selbst aus der direkten Begründung heraus.

Im Januar 2021 wird er von Sylvia Pantel (ehemals CDU, jetzt WerteUnion) konkret auf diesen Fall angesprochen – und Merz widerspricht der einstigen Darstellung: „Das habe doch nichts mit Tichy zu tun gehabt!“ Mit was genau für einer Persönlichkeitsstruktur hat man es bei diesem Mann zu tun? Verläßlichkeit ist seine Qualität nicht.

Parallel dazu zeichnet die politische Biografie von Merz – etwa in den Analysen von Table.Media und Focus – das Bild eines Mannes, der über Jahrzehnte an alten Fehden festhält. Das Verhältnis zu Angela Merkel wird dort als „Konflikt-Beziehung“ beschrieben, geprägt von „24 Jahren Konkurrenz, 24 Jahren Abneigung“. Während Merkel längst aus der aktiven Politik ausgeschieden ist, spielt Merz die alten Kränkungen bis heute mit hörbarem Unterton durch. Der ZEIT-Satz „Er ist schnell beleidigt, nachtragend“ wirkt da weniger wie eine Momentaufnahme als wie eine Langzeitdiagnose.

Unterm Strich entsteht aus all diesen – wohlgemerkt: etablierten – Quellen ein konsistentes Muster: Merz ist kein Politiker, der Kritik mit Schulterzucken beantwortet, sondern einer, der sich persönlich getroffen fühlt und danach handelt. Er lässt hundertfach Anzeigen schreiben, sagt Podien ab, verweigert angeblich Preise (neee, war ja dann doch nicht so!), markiert Distanz und spricht über seine eigenen Kränkungen möglichst selten direkt.

Besonders pikant: Das Bild von der „beleidigten Leberwurst“ stammt nicht aus der üblichen linken Karikatur, sondern wurde 2018 zuerst bei Tichys Einblick formuliert. Auch alle anderen Medien haben diesen ausgeprägten Charakterzug gewissermaßen übernommen und in ihre eigene Merz-Analysen integriert. Wenn so viele sehr unterschiedliche Medien – von linksliberal bis wirtschaftsliberal – denselben Punkt machen, ist das mehr als nur Spott. Es ist ein politisches Risiko: Ein Kanzler, der Kränkungen hortet und Kritik mit juristischen und symbolischen Retourkutschen beantwortet, trägt seine persönliche Empfindlichkeit in die Staatsräson hinein.

Loyalität zu „Windbeutel“-Minister Weimer

Was sich nahtlos in dieses Bild fügt, ist die Causa des Merz-Amigos Wolfram Weimer. Mittlerweile haben fast alle etablierten Medien wie ZEIT, Süddeutsche, Wirtschaftswoche, Stern, ZDF berlin direkt, t-online, Spiegel, sogar LobbyControl die akribischen Recherchen von Alexander Wallasch, TE, Apollo News und Achse des Guten zu den Weimerschen Hochstapeleien, Urheberrechtsskandalen, Bilanzmanipulationen, behaupteten Medienpartnerschaften, die nicht existieren, bis hin zu den Events der Weimer Media Group wie dem Ludwig-Erhard-Gipfel am Tegernsee, der zahlungskräftigen Sponsoren exklusive Zugänge zu Spitzenpolitikern verkauft oder zumindest in Aussicht stellt, bestätigt und dokumentiert. Teilnahmepakete für bis zu 80.000 Euro, „Executive Nights“ mit Ministern, offensichtliche Interessenkonflikte zwischen Regierungsamt und Weimer Media Group, glasklare Interessenskonflikte – Förderung mit Steuergeldern in hoher sechsstelliger Höhe durch Bayern und Hessen und und und. Auch haben etablierte Medien weitere Recherchen geliefert, die das Bild erhärten. Hier stellt sich Merz dann weiter demonstrativ vor seinen langjährigen Freund und erklärt, sämtliche Vorwürfe gegen Weimer seien „falsch“, Punkt.

Während der Staatsminister unter dem Druck der Recherchen vorgibt, seine Verlagsanteile treuhänderisch zu parken und halb Europa den Kopf schüttelt, hält Merz weiter an der beschädigen „Windbeutel“ (FAZ)-Personalie fest, als wäre es ihm völlig egal, wie viele Skandale, Lobbyverflechtungen und mögliche Rechtsverstöße hier inzwischen öffentlich auf dem Tisch liegen und noch kommen werden. Für den Souverän, der die Berichte liest und sich fragt, wem diese Regierung verpflichtet ist, ist das die glasklare Botschaft: Die Loyalität des Kanzlers gilt seinem Amigo und seinen direktem inneren Zirkel und Hofstaat, nicht aber den Bürgern dieses Landes. Und je deutlicher die Missstände benannt werden, desto trotziger hält er an seinem Amigo fest.

Gedemütigt ins Amt – und vom Land immer stärker abgelehnt

Friedrich Merz betritt das Kanzleramt nicht als Sieger, sondern als politisch Angeknockter. Deutschlandfunk spricht von einem „historischen Novum“: Merz fiel im Bundestag im ersten Wahlgang durch und brauchte einen zweiten Anlauf, um gewählt zu werden. Die ZEIT hält fest, dass in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie ein Kanzlerkandidat den ersten Wahlgang verloren hat – Merz ist der erste.

Damit ist seine Kanzlerschaft von Beginn an mit einem einzigartigen Gesichtsverlust verbunden: ein Regierungschef, der seiner eigenen Koalition beim ersten Versuch durch die Finger rutscht und sich nach „stundenlanger Hängepartie“ erst im zweiten Durchgang über die Kanzlermehrheit rettet.

Für einen Politiker, den zahlreiche etablierte Medien als nachtragend, empfindlich gegenüber Kritik und schnell gekränkt beschreiben, ist das kein bloßer Schönheitsfehler, sondern eine offen klaffende Wunde. Wenn ausgerechnet der Mann, der seit Jahren Autorität und Führung ins Zentrum seiner Selbstbeschreibung stellt, historisch belegt als erster Bundeskanzler „einen zweiten Wahlgang brauchte“, ist das protokollierte Demütigung: Er kommt angeschlagen ins Amt und weiß sehr genau, dass es jeder nachlesen kann.

Parallel dazu nimmt die Öffentlichkeit ihm die Kanzlerschaft in rasantem Tempo übel. Focus Online zitiert eine aktuelle INSA-Umfrage für „Bild am Sonntag“: 70 Prozent der Befragten sind mit der Arbeit der schwarz-roten Bundesregierung unzufrieden – so viele wie noch nie seit Merz‘ Amtsantritt. Nur 21 Prozent sind mit der Regierung zufrieden, ein historischer Tiefstwert. Für Merz persönlich vermerkt INSA-Chef Hermann Binkert „die schlechtesten jemals für den Bundeskanzler und seine Regierung gemessenen Werte“: 68 Prozent sind mit seiner Arbeit unzufrieden, lediglich 23 Prozent bewerten sie positiv.

Andere Institute zeichnen dasselbe Bild. Das ZDF-Politbarometer meldet, eine Mehrheit im Land sehe sowohl Kanzler Merz als auch die schwarz-rote Koalition negativ; Ende November bewerten 56 Prozent die Arbeit des Kanzlers als „eher schlecht“, 59 Prozent die Arbeit der Regierung als „eher schlecht“. ntv berichtet auf Basis des RTL/ntv-Trendbarometers von einem „Negativrekord“: Nach sechs Monaten im Amt sei Merz so unbeliebt wie Olaf Scholz nach mehr als zweieinhalb Jahren; aktuell sind nur noch 22 Prozent mit seiner Arbeit zufrieden, 76 Prozent unzufrieden.

Der Abwärtstrend ist stabil. Forsa-Zahlen, die unter anderem von ntv und der Frankfurter Rundschau aufgegriffen werden, zeigen Merz wiederholt mit Zustimmungswerten um oder unter einem Drittel – bei deutlichen Mehrheiten von 60 bis 76 Prozent Unzufriedenen. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet zudem, nur 18 Prozent der Deutschen wünschten sich überhaupt eine erneute Kanzlerkandidatur von Merz; 73 Prozent lehnen dies ab, selbst in den Reihen von CDU/CSU ist die Zustimmung gespalten. Die Quittung für noch jedes gebrochene Wahlversprechen.

So entsteht eine Konstellation, die es in der Bundesrepublik in dieser Form noch nicht gab: Ein Kanzler, der bereits die Kanzlerwahl nur im zweiten Versuch schafft – als erstes und bisher einziges Mal in der Geschichte der Republik – und der innerhalb von Monaten in Umfragen auf Rekordtiefs abstürzt, die von mehreren großen Häusern als „so unbeliebt wie noch nie“ beschrieben werden.

Was bedeutet das für einen Politiker, der Kritik sichtbar übelnimmt, Termine platzen lässt, bei Widerspruch mit spürbarer Kränkung reagiert und Konflikte gern über Hinterzimmer-Intrigen statt offenem Streit austrägt, hundertfach Anzeigen an Bürger ausstellt? Es liegt nahe, dass ein solcher Kanzler seine Amtszeit als permanenten Affront erlebt: Er startet gedemütigt ins Amt, wird von Umfragen Woche für Woche daran erinnert, dass sein Land ihm misstraut, und sieht sich zugleich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert, in der er niedrige Zustimmungsraten bei anderen als Zeichen von politischem Versagen geißelte.

Für einen so unfassbar dünnhäutigen Machtpolitiker ist das keine Einladung zur Selbstkritik, sondern zur weiteren Verhärtung.

Die Kombination aus historischer Schlappe bei der Wahl, rekordverdächtig schlechter Lage der Regierung und persönlichem Umfragetief schafft den idealen Nährboden für noch mehr Groll gegen Kritiker: Wer Merz widerspricht, wer ihn öffentlich infrage stellt, wird aus seiner Sicht nicht einfach opponieren – er kratzt an einem beschädigten Selbstbild. Insofern erklärt sich aus dieser Gemengelage auch, warum Kritik an Merz nicht etwa zu mehr Dialog und Gelassenheit führt, sondern, wie die Chronik seiner Reaktionen auf journalistischen Widerspruch zeigt, eher zu Absagen, Brüskierungen und Hinterzimmer-Manövern.

Das Land sucht einen souveränen Kanzler; Merz wirkt, als ringe er vor allem mit der eigenen Kränkung.

Der große Griff in Deutschlands Kasse – und das Risiko für das Land und Europa

Vor diesem Hintergrund bekommt die große Linie seiner Politik eine andere Färbung. Sachlich betrachtet ist sie radikal genug: Mit dem großen Schuldenpaket von Union, SPD und Grünen hat Merz jene rote Linie eingerissen. Der Mann, der noch vor wenigen Jahren im Fernsehen erklärte, der Staat müsse „irgendwann mal mit dem Geld auskommen, das er an Steuern einnimmt“, unterschreibt jetzt genau das Gegenteil: ein gigantisches Verschuldungsprogramm, das Deutschland auf Jahrzehnte fesselt.

— Gert Wöllmann (@Gert_Woellmann) December 7, 2025

(Ausschnitt aus der Sendung „Im Dialog: Michael Hirz im Gespräch mit Friedrich Merz“ vom 08.07.16)

Am 18. März 2025 stimmte das abgewählte Parlament über die Verfassungsänderung und das neue Sondervermögen ab; Merz vereinte in der namentlichen Abstimmung 513 Ja-Stimmen und setzte damit die Aufweichung der Schuldenbremse und „hemmungslose Schuldenmacherei“ durch, wie Mario Thurnes für Tichys Einblick den Vorgang zusammenfasste. Während die neue Koalition noch gar nicht im Amt war, ließ Merz sich vom alten Bundestag ein historisch beispielloses Kreditermächtigungs-Paket absegnen – an der Öffentlichkeit vorbei als einmaliger Kraftakt verkauft, in Wahrheit als Grundstein einer Schuldenära.

Inzwischen ist auch bilanziell klar, was Kritiker damals vermuteten: Dieses Sondervermögen ist kein ehrlicher Investitionsfonds, sondern ein riesiger Verschiebebahnhof. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat ausgerechnet, dass bis 2029 rund jeder zweite Euro aus dem 500-Milliarden-Topf „Infrastruktur und Klimaneutralität“ zweckentfremdet wird – statt zusätzlich zu investieren, werden Haushaltslöcher gestopft und bereits geplante Ausgaben umetikettiert. IW-Ökonom Tobias Hentze spricht von einem „Verschiebebahnhof mit vielen Gleisen“: Mittel, die Bürgern als Zukunftsinvestitionen verkauft wurden, dienen in Wahrheit dazu, den Kernhaushalt zu entlasten und alte Posten neu zu etikettieren. Mehr als jeder zweite Euro wird also ausdrücklich nicht für das genutzt, wofür Merz und seine Leute ihn angepriesen haben.

In dieser Stimmungslage und mit der dicht aufgezeigten Persönlichkeitsstruktur fährt Merz jetzt aber noch einen Kurs weiter, der Deutschland und auch Europa ökonomisch weiter ins größte Risiko schiebt.

Klaus-Rüdiger Mai beschreibt bei Tichys Einblick den Kanzler als einen Mann, der sich selbst als „Außenkanzler“ sieht und die Innenpolitik weitgehend der SPD überlässt. Merz habe in der Fraktion erkennen lassen, Innenpolitik sei weniger wichtig – entsprechend dilettiere er im Inneren, während er außenpolitisch Größe inszenieren wolle.

Konkret geht es um die Pläne, rund 140 bis 160 Milliarden Euro eingefrorener russischer Staatsvermögen, vor allem Guthaben der russischen Zentralbank, zur Finanzierung der Ukraine heranzuziehen. Ursula von der Leyen und Friedrich Merz drängen darauf, diese Gelder über den Finanzdienstleister Euroclear in Brüssel quasi zu konfiszieren, um daraus ein Finanzpaket für Kiew zu schnüren. Merz bietet dabei an, dass Deutschland für die enormen Risiken haftet. Als einziges Land.

Ökonomen wie Jeffrey Sachs warnen in der Berliner Zeitung vor einem illegalen, rücksichtslosen Schritt, der Europas finanzielle Glaubwürdigkeit schwer beschädigen und sehr hohe Kosten auslösen würde – von möglichen russischen Klagen und Vergeltungsmaßnahmen ganz zu schweigen. Euroclear-Chefin Valérie Urbain signalisiert Widerstand, die EU-Zentralbanker sind alarmiert: Ein solcher Eingriff in das internationale Finanzgrundbuch könnte Vertrauen und Märkte erschüttern, im Extremfall Euroclear selbst und Teile des europäischen Bankensystems ins Wanken bringen.

Noch deutlicher wird der belgische Premier Bart De Wever, den Merz gemeinsam mit von der Leyen von dem Plan überzeugen wollte. Laut belgischer Zeitung La Libre nennt er das Vorhaben beim Namen: Es sei „Diebstahl“, staatliche Zentralbankguthaben eines anderen Landes zu beschlagnahmen – etwas, das es selbst im Zweiten Weltkrieg nicht gegeben habe. Er warnt vor einer Zerstörung des Vertrauens in den Westen, vor möglichen Gegenmaßnahmen Russlands, Chinas oder anderer Staaten.

Und dann der Satz, der alles sagt: De Wever berichtet, er habe seine europäischen Kollegen gefragt, ob sie bereit seien, die Risiken für Belgien zu teilen. „Nur Deutschland erklärte sich dazu bereit.“ Nicht Frankreich, nicht Italien, nicht Spanien – nur der deutsche Kanzler bietet sich an, als Haftungsmasse für einen rechtlich und ökonomisch hochriskanten Tabubruch.

Damit ist der „Schuldenpakt“ nicht nur eine weitere Verschuldungsrunde. Es ist ein Angebot, Deutschland als letzten Prellbock einer womöglich illegalen Vermögensbeschlagnahme zur Verfügung zu stellen – mit unkalkulierbaren Folgen für Finanzmärkte, Euro-Stabilität und die Stellung Europas in der Welt.

Wer sich bei kleinen und mittleren Kränkungen aufführt wie Merz, wer Kolumnen, Tweets und unfreundliche Formulierungen mit Strafanzeigen, Terminabsagen und intriganter Netzwerkarbeit beantwortet, dem ist auch durchaus zuzutrauen, dass er auch auf die große Kränkung – ein Land, das ihn mehrheitlich ablehnt – nicht mit Milde reagiert.

Ein solcher Kanzler erlebt sein Amt nicht als Auftrag, sondern als ständigen Affront: Die eigenen Leute tragen ihn widerwillig, die Wähler wenden sich in Scharen ab, die Medien zeichnen ihn als dünnhäutig. Das ist ein Cocktail aus Macht und gekränkter Eitelkeit.

In dieser Lage wirkt der Griff in fremde Kassen, für die dann ausgerechnet Deutschland haften soll, wie der große Befreiungsschlag eines Mannes, der es seinem Land noch einmal „zeigen“ will, wer hier eigentlich entscheidet. Wenn er schon nicht geliebt wird, dann soll es wenigstens krachen – und zwar auf europäischer Bühne. Und wenn er Deutschland dafür endgültig in den Ruin reitet.

Wer so sehr bereit ist, Deutschlands Ruf, Haftungsmasse und wirtschaftliche Substanz für riskante Experimente einzusetzen, handelt bestimmt nicht wie jemand, der dieses Land durch eine Krisenzeit führen will. Er handelt wie jemand, der bereit ist, im Zweifel das eigene Land, das ihm keine Liebe entgegenbringt, in den Abgrund zu reißen.

Auch die anhaltende und nicht gestoppte Deindustrialisierung, die inkonsequente bzw. die Nichtverhinderung weiterer unqualifizierter Zuwanderung in die Sozialsysteme, das Ausbluten einer Gesellschaft. All das wird nicht nur in Kauf genommen, es wird zusammen mit dem Koalitionspartner SPD aktiv befördert.

Man kann, bei nüchterner Betrachtung der Fakten, zu einer harten Schlussfolgerung kommen. Dieser Kanzler nimmt billigend in Kauf, dass Deutschland und Europa für seine gekränkte Eitelkeit bezahlen: mit wirtschaftlichem und politischem Ruin.

Ein Mann, der sich an Kolumnen und Tweets abarbeitet, wird vor dem Risiko nicht zurückschrecken, auch ganze Volkswirtschaften als Spielmasse zu behandeln, wenn es seinem Bild von sich selbst entspricht: wenn ihr mich schon nicht liebt, dann bekommt ihr Deutschen das, was ihr verdient. Nach mir die Sintflut.

Merz vollendet das, was Merkel begann: das Land zu ruinieren. Zumindest beerdigt er dabei auch gleich seine Partei.

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