Die Fernwähler

An der Bundestagswahl kann teilnehmen, wer überhaupt nicht oder schon lange nicht mehr in Deutschland lebt. Das ist demokratisch gesehen fragwürdig.

© PHILIPP GUELLAND/AFP/Getty Images
A voter reads the ballot as she sits behind a voting booth at a polling station in Berlin, on September 22, 2013, the day of the German general elections.

Beim Erdoğan-Referendum im April dieses Jahres spielten Auslandstürken beinahe das Zünglein an der Waage: In der Türkei war die Mehrheit für das Präsidialsystem knapp, während die Wahlteilnehmer unter den Deutschtürken mit klarer Mehrheit dafür votierten. „Obwohl diese Menschen in Demokratien leben, in Freiheit und Sicherheit, haben sie für eine Abschaffung der Demokratie in der Türkei gestimmt“, klagte Spiegel-Kommentator Hasnain Kazim.

Fernwähler?

Warum? Weil sie es konnten. Menschen, die ihr Herkunftsland höchstens noch im Urlaub besuchen – oder gar hier geboren sind und es nie anders kannten, dürfen über die politische Struktur eines Landes entscheiden, in dem sie gar nicht wohnen, über dessen Staatsangehörigkeit sie aber verfügen. Man mag es einen Missstand finden, wenn nicht unmittelbare Betroffene in diesem Fall einem immer diktatorischere Züge annehmenden Regime Legitimation verleihen, kann aber nicht einfach mit dem Finger Richtung Bosporus zeigen.

Denn für Deutschland gilt Ähnliches. Nein, weder gibt es auf der Bundesebene Volksentscheide noch soll der Bundespräsident demnächst zum Sultan erkoren werden. Aber: Genau wie Deutschtürken bei Wahlen ihre Stimme für oder gegen Erdoğan abgeben können, dürfen dies Auslandsdeutsche bei der anstehenden Bundestagswahl. Nicht alle und auch nicht in langen Schlangen vor den Botschaften und Konsulaten: Lediglich Briefwahl ist möglich, gewisse bürokratische Hürden sind gesetzt. (Und in strukturschwachen Wohnländern wohl auch faktische hinsichtlich der rechtzeitigen Unterlagenübermittlung.)

„Wer seit 15 Jahren in Japan lebt, wird Flüchtlingszuwanderung, Energiewende und Eurorettung ziemliche exotische Themen finden.“

Das Wahlrecht genießen diejenigen Auslandsdeutschen, die nach ihrem 14. Geburtstag mindestens drei Monate in Deutschland gelebt haben, was aber nicht länger als ein Vierteljahrhundert zurückliegen darf. Alle übrigen sind nicht automatisch ausgeschlossen, sondern dürfen ebenfalls den postalischen Urnengang antreten, wenn sie „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“. Das können Botschaftsangestellte sein, Mitarbeiter von Goethe-Instituten oder Auslandskorrespondenten deutscher Medien. Außerdem z.B. Menschen, die in der Nähe der Grenze leben und beruflich oder auch ehrenamtlich in Deutschland tätig sind. Wer seit über 25 Jahren ununterbrochen mit Wohnsitz in Belgien für deutsche Europaparlamentarier arbeitet – und damit eigentlich aus dem Raster fiele, kann etwa durch Zugehörigkeit zum Brüsseler Ortsverband einer deutschen Partei sein Engagement für die Heimatfront unter Beweis stellen.

Tarnen und Täuschen
Zigtausende Türk-Deutsche können illegal wählen
Wer nun vor 20 Jahren nach Thailand ausgewandert und mit seiner 30 jüngeren Frau den Lebensabend bei gelegentlichem Nachrichtenkonsum über Deutschland verbringt, kann wählen. Und sich zurücklehnen, denn die Ergebnisse betreffen ihn nicht direkt. Wer seit 15 Jahren in Japan lebt, wird Flüchtlingszuwanderung, Energiewende und Eurorettung ziemliche exotische Themen finden, darf sie aber mit seinem Kreuzchen beeinflussen. Oder man kann von der südafrikanischen Ranch aus die Landwirtschaftspolitik in deutschen Ställen mitbestimmen. Zuschauerdemokratie par excellence.

Als US-Auswanderer hat man noch keine Ekelbilder auf Zigarettenpackungen gesehen, in Österreich kann man sein Haus wegen niedrigerer Ökostandards billiger bauen, unter australischer Sonne sieht man Solarkollektoren vielleicht etwas anders. Je nach Medienkonsum und Kontakten kann man dann nur sehr gefiltert, wenn überhaupt, mitreden. Und – sofern man keine grundbesteuerte Immobilie in der alten Heimat hat – sich jeglicher Finanzierung entziehen. Die energiepolitisch stark überteuerte Stromrechnung spart man sich, irgendwelche Rettungsschirme tangieren einen (jedenfalls außerhalb der EU) weniger, und für eine Flüchtlingspolitik, die sehr viele ‚noch nicht lange hier Lebende‘ zu dauerhaften Sozialfällen abstempelt, braucht man auch nicht zu löhnen. Da hat der Wahlakt mehr mit einem Computerspiel als mit aktiver Bürgerschaft zu tun. Und wie war das noch zu Zeiten der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung: „No taxation without representation“ – sollte das nicht umgekehrt genauso gelten?

„In der Schweiz, kann man vielleicht Steuern sparen, sinnvollerweise aber nicht zugleich als exilierter Souverän über Deutschland mitherrschen.“

Der wahlberechtigte Auslandsdeutsche kann sich für eine Landesliste und einen Direktkandidaten entscheiden. Es gilt der Wahlkreis seines letzten deutschen Wohnortes. „In Fällen, in denen ein solcher Ort nicht festgestellt werden kann, kommt die letzte Heimatgemeinde der Vorfahren in gerader Linie im heutigen Bundesgebiet in Betracht, bei mehreren die des letzten Fortzuges.“ Vielleicht kam ein verstorbener Vorfahr aus Hannover und hat noch Kurt Schumacher persönlich seine Stimme gegeben. Aber gut, man kann ja seinen Wahlkreisabgeordneten bei dessen nächsten Urlaub an den Zuckerhut einladen, um ihm unter vier Augen zu berichten, wo vor Ort der Schuh drückt. Oder man lässt sich gleich selbst aufstellen – sogar das passive Wahlrecht genießt man auch ohne festen Wohnsitz in der Bundesrepublik – und hält dann Sprechstunden in seinem Wahlkreisbüro in Neuseeland ab.

Fernwähler?

Wer von Köln nach Neukölln zieht, kann den Kölner Stadtrat nicht mehr wählen und ebenso wenig den NRW-Landtag. Wieso sollte es da dem Auswanderer in ferne Gefilde anders ergehen? Dem Staatsrechtler Jellinek zufolge konstituieren den Staat drei Elemente: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Kann dann die Staatsgewalt von außerhalb des Staatsgebietes lebendem Staatsvolk (durch Wahlen) ausübt werden? Von Menschen, die weder aktiv noch passiv als richtige Bürger teilhaben? Das Wahlrecht muss mehr sein als der Ausdruck einer durch Reisepass verbrieften deutschen Identität. Es geht um Mitbestimmung im eigenen Land, dessen Teil man ausmacht, wo man mittendrin ist statt außen vor.

In der Schweiz, wo die meisten Auslandsdeutschen leben, kann man vielleicht schön wohnen, viel Geld verdienen und Steuern sparen, sinnvollerweise aber nicht zugleich als exilierter Souverän über Deutschland mitherrschen. Das Wahlrecht für Auslandsdeutsche muss auf den Prüfstand und sollte auf wenige Ausnahmefälle begrenzt werden. Das würden zwar einen Verlust von ein paar Zehntausend Wählerstimmen bedeuten, aber einen Gewinn für die Demokratie.


Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur. Dieser Beitrag ist zuerst bei Novo Argumente erschienen.

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Kommentare ( 12 )

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12 Comments
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Ivan De Grisogono
6 Jahre her

Soll es, dem Ton nach, eine neue Neiddebatte sein? Der Autor bringt wirklich keine stichhaltigen Argumente warum jemanden der (vorübergehend) im Ausland lebt seine nationale Identität und dazugehörende Rechte und Pflichten aberkannt werden sollen.
Deutschen volljährigen Staatsbürgern steht, ganz allgemein, ein Wahlrecht zu! Auch wenn manche aus guten, privaten oder geschäftlichen Gründen, jahrzehnte im Ausland verbringen (müßen).

Arthur Dent
6 Jahre her

Ganz so einfach ist das nicht. Ich kann die Argumentation ja für diejenigen, die nie mehr zurückkommen werden, nachvollziehen. Aber es gibt genügend, die derzeit im Ausland leben, aber in naher Zukunft zurückkommen wollen. Und die haben sehr wohl ein Interesse an der politischen Entwicklung in Deutschland.
Problem: Woran macht man fest, ob der Auslandsdeutsche wirklich zurückkommen will?

Daniela Gmeiner
6 Jahre her

Hallo Herr Lövenich,
ich stimme Ihnen zu, dass auch die von Ihnen geschilderten Ungereimtheiten
des Wahlrechtes sanierungsbedürtig sind.
Die Doppelpassler, die ja auch weiter solche sein sollen, wenn es nach dem
Willen der Kanzlerin geht, stellen für mich das größere Problem dar.
Vor allem die „Türkdeutschen“.
Denn die zahlenmäßige Größe dieser Gruppe, die noch dazu in großen Teilen
„Eroganaffin“ sind, könnten die BTW in den kommenden Jahren, auch mit den
in NRW operierenden muslimischen Parteien, massiv beeinflussen.

Carstenkessler
6 Jahre her

Die argumentation ist gut. Dennoch bin ich dagegen. Ausgewanderte Deutsche die wissen dass sie nie wieder zurückkehren werden, werden sich i.d.R. auch nicht die Mühe machen zu wählen. Sie haben mit einem Leben in Deutschland abgeschlossen. Es gibt aber sehr wohl auch Deutsche die aus politischen Gründen geflohen sind und gern zurück kehren würden sobald sich die Situation bessert. Dies können deutsche Juden sein welche sich in der radikal muslimischen umgebung in deutschen großstadtvierteln nicht mehr sicher fühlen, oder konservative die aufgrund ihrer freien meinungsäusserungen in einem autoritären linksklima sozial und beruflich geächtet werden. Wieso sollen diese Deutschen in der… Mehr

Reimund Gretz
6 Jahre her

Das ganze Wahlgesetz muss auf den Prüfstand vor allem die nicht mehr zeitgemäße 5 % Hürde. Nur noch Direktmandate wären auch wünschenswert, wenn man sieht was für Luschen Parteien da in den Bundestag mogeln.

Sandrine Märzthaler
6 Jahre her

Bedenkenswerte Überlegungen, die Herr Lövenich hier anstellt. Bevor man sich aber diesem Sachverhalt widmet, gälte es die rechtswidrig hier wählenden Doppelstaatler-durch-die-Hintertür von ihrer unrechtmäßigen Einflussnahme abzuhalten, indem sie wählen, obwohl sie eigentlich gar nicht dürften. Zudem gibt es ja nicht nur Auswanderer, die vor 20 Jahren zuletzt in Deutschland waren, sondern in nicht geringem Umfang auch solche, die in den letzten 10 Jahren gegangen sind – gerade wegen der hiesigen Lage und Zustände. Diesen Exilanten das Wahlrecht streitig zu machen, obwohl sie ein großes und nachvollziehbares Interesse daran haben, die politischen Verhältnisse hier mitzubestimmen, halte ich für unlauter. Außerdem besteht… Mehr

Harry James mit Armbrust
6 Jahre her

einfach das Wahlrecht an die Steuerpflicht koppeln. Wer hier steuerpflichtig ist, egal ob er dann Steuern zahlt, oder nicht, hat ein Recht auf das Wählen.
Damit würde auch ein Stück weit klar werden, dass Rechte im Normalfall immer etwas mit Pflichten zu tuin haben.

Ivan De Grisogono
6 Jahre her

Nicht nachvollziehbar. Damit hätten Ausländer die in Deutschland arbeiten automatisch ein Wahlrecht? Das würde linksgrünen wahrscheinlich sehr gut passen wäre aber illegal.

Harry James mit Armbrust
6 Jahre her
Antworten an  Ivan De Grisogono

im Prinzip aber korrekt, denn wer die Pflicht hat hier Steuern zu zahlen, sollte auch das Recht besitzen mitzubestimmen, wer die Steuern ausgibt.
Allerdings hindert uns niemand daran, es so zu formulieren. Jeder Deutsche, der über 18 Jahre alt ist und der deutschen Einkommensteuerpflicht unterliegt, hat das unbeschränkte Recht zu wählen.

maxmink
6 Jahre her

Da muesste man aber doch differenzieren: „Wer nun vor 20 Jahren nach Thailand ausgewandert und mit seiner 30 jüngeren Frau den Lebensabend bei gelegentlichem Nachrichtenkonsum über Deutschland verbringt, kann wählen. Und sich zurücklehnen, denn die Ergebnisse betreffen ihn nicht direkt. Wer seit 15 Jahren in Japan lebt, wird Flüchtlingszuwanderung, Energiewende und Eurorettung ziemliche exotische Themen finden, darf sie aber mit seinem Kreuzchen beeinflussen.“ Das ist richtig! Wer aber als Deutscher im EU-Ausland lebt sollte mitwählen duerfen. Ich bin diesbezueglich nicht ganz unvoreingenommen da selbst betroffen. Ich lebe in Schweden und die Politik der deutschen Bundesregierung betrifft mich auch – wenn… Mehr

Sonnenschein
6 Jahre her

„Wer nun vor 20 Jahren nach Thailand ausgewandert und mit seiner 30
jüngeren Frau den Lebensabend bei gelegentlichem Nachrichtenkonsum über
Deutschland verbringt, kann wählen.“ Ganz übler Satz! Da ist weiterlesen Zeitverschwendung……………………..

shade
6 Jahre her

Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt?
Letztere ist in Merkel-Deutschland missbraucht worden, um die beiden Erstgenannten preiszugeben.