Attentat 1972: Ein Massaker als Event

Bernd Späth erinnert sich noch immer mit Grausen daran, wie für manche das blutige Ende des Geiseldramas in Fürstenfeldbruck bei den olympischen Spielen in München nur ein grölender Event war.

Eben noch hatten Ten Years After gerockt, „Love Like a Man“, als mein Ö3-Lieblingsmoderator Peter Holzer seinen Sonderkorrespondenten rief, der mit Neuigkeiten über die Entwicklung des Münchener Geiseldramas aufzuwarten hatte: „Hallo… hallo… bin in Für-sten-feld-bruck!“

Meine Freundin und ich, gerade 21, lagen faul auf meinem französischen Bett herum und qualmten die Bude voll. – Mit einem Satz waren wir auf den Beinen und fuhren von meinem Apartment im Geisinger Steig – es gehörte einem Münchener Plattenproduzenten namens Thomas Stein – in Richtung Fliegerhorst; ohnehin bewohnten ihre Eltern damals ein Offiziershaus in der Lützowstraße, nicht weit vom Zaun, denn ihr Vater war Oberstarzt im Flugmedizinischen Institut und leitete dort die Abteilung B.

Vor dem schweren Stahlgittertor der Hauptwache herrschte eine bizarre Stimmung: Innerhalb der Einfriedung standen im Meterabstand bewaffnete junge Soldaten in Kampfmontur, die verhindern sollten, dass unerwünschte Personen auf das Gelände vordrangen. Manche von ihnen sahen aus, als ob sie große Angst hätten. Außerhalb der Umfriedung befand sich eine stetig anwachsende Menschenmenge von hundert bis hundertfünfzig Köpfen, die zwar aufgeregt war, zugleich jedoch bester Stimmung wirkte: Erkennbar freute man sich und war stolz, dass in Fürstenfeldbruck einmal etwas los war. Noch dazu etwas derart Wichtiges. – Ansonsten gab es ja immer nur die Teenager-Parties im Jungbräu-Saal und gelegentliche Parteiversammlungen.

Autos kamen, hielten an, stellten sich irgendwo quer, angetrunkene Halbwüchsige stiegen aus, wurden von anderen grölend begrüßt und gaben unverzüglich schneidige Kommentare ab. Ein brüllender Feldwebel verlangte, dass die Straße freigemacht würde. Die Menge vor dem Zaun schwoll an und ignorierte ihn, allerorten waren fachkundige Kommentare zu hören und Voraussagen, ob die Israelis das alles überleben würden. „Jetzt kennt a jeder Fürstenfeldbruck!“ ertönte unüberhörbar eine versoffene Männerstimme.

Immer wieder trafen Lieferwagen ein, teils neutral grau, teils mit Firmenaufschrift. Offenbar waren sie angekündigt worden, denn das Haupttor wurde geöffnet, um sie schnell hereinzulassen. Sofort waren die Wagen von der berauschten Meute umschlossen. Der Spieß, mit sich überschlagender Stimme, brüllte wie am Spieß: “ Keiiii-nen reinlassen! Keiii-nen reinlassen! Keiii-nen reinlassen…!“ Eine größere Zahl vor Anstrengung prustender Soldaten drückte das Tor von innen wieder zu, gegen die von außen anpressende Schar Neugieriger, die vermutlich gar nicht wussten, was genau sie wollten, und für die das ganze Geschehen einfach nur eine Riesengaudi war. – Sie äfften den Spieß nach: „Keiii-nen reinlassen, höhöhö!“. – Meine Erinnerung ist unscharf, nach all den Jahren, doch muss es über ein Dutzend Autos gewesen sein, das in kurzen zeitlichen Abständen durch die Hauptwache in den Fliegerhorst gelangte. Manchmal trommelten die Zuschauer johlend gegen die Seitenwände.

Ich stand am Zaun und fühlte mich sehr bedrückt. Mir war klar, dass keinen Kilometer Luftlinie von uns eine Gruppe junger Männer, kaum älter als ich, um ihr Leben bangte, und ich wusste, dass ihr Martyrium schon eine Ewigkeit dauerte. – Araber, Palästinenser, das waren Fremde für uns, Exoten, unberechenbar, wirr, mit irgendwelchen Tüchern um den Kopf geschlungen. Man kannte sie nur aus den unscharfen schwarz-weiß-Bildern vom sonntäglichen „Weltspiegel“ in der ARD. Man wusste nicht einmal, was genau sie wollten. Irgendwie waren sie gegen die Juden und gegen Israel, und das brachte gerade uns Jüngere besonders gegen sie auf.

Das Volksfestgegröle der immer weiter anwachsenden Zuschauermenge verstörte mich. Mir gegenüber, auf der anderen Seite des Zauns, stand ein junger Soldat. Er hatte etwas von einem einfachen Bauernbuben an sich, ein schlichtes, derbes Gesicht mit offenen Zügen, das er jetzt unentwegt angstvoll aufblies. Seine Augen flackerten über seinen Pausbacken, die sofort wieder zusammenfielen, und er sah mich verloren an, während ich ihm genauso verloren ins Gesicht blickte. Beide brachten wir kein Wort heraus. „Keiii-nen reinlassen!“ brüllte der Spieß schon wieder. „Bloß keiii-nen reinlassen!“ Der junge Mann starrte immer weiter auf mich. Das riesige Gewehr auf seinem Rücken wirkte bedrohlich, und ich fragte mich plötzlich, ob er auf mich schießen würde, falls irgendetwas schief ging. Doch der Kloß in meinem Hals hinderte mich daran, ihn durch den Zaun anzusprechen.

Es war total seltsam. Ich glaube, inzwischen standen wir schon eine ganze Stunde herum, wollten etwas mitbekommen, von dem wir ahnten, dass es eine vorher nie erahnte Dimension besaß. Und waren dennoch nur dumme Zuschauer vor einem Drahtzaun. Zuschauer, die nichts zu schauen hatten, weil das tatsächliche Drama sich tausend Meter entfernt abspielte, weit hinter den mächtigen Bäumen. Meine Freundin schmiegte sich an mich. Um uns herum hatte sich eine Vielzahl debattierender Grüppchen gebildet, es war wie beim Lokalderby Bayern München gegen die Sechziger. Rufe wurden hörbar, die verlangten, bei so etwas müsse „glei´ der Kopf runter!“, obwohl nicht richtig klar war, wessen Kopf herunter sollte. Andere meinten, solche Drecksäue gehörten z´sammag´schossen wia d´Hasen, vastehst?!“ Außerdem war das allgemeine Bedauern groß, dass die bisher so schönen und harmonischen Spiele „von solcherne Arschlöcher, vastehst… von solcherne Arschlöcher…!“ gerade kaputt gemacht wurden. – Zu den israelischen Geiseln war seltsamerweise nichts zu hören. Sie waren nicht mehr als Funktionsträger einer Sensationsgier, mit der die echten kleinen Arschlöcher sich wenigstens für einen Abend lang aus der Welt herausprollten. – Heute nennt man sowas Pegida.

„Hier is ja gar nix loooos!“ brüllte ein Neuankömmling, der gerade aus einem Auto gestiegen war, und ließ sich von der Menge aufsaugen. Im gleichen Moment tat es in der Ferne einen lauten Rummser. Schüsse ertönten, dann Salven aus Maschinenpistolen, immer mehr Salven aus Maschinenpistolen und immer wieder einzelne Detonationen, von denen ich heute nicht mehr sagen kann, ob es Einzelfeuer war oder Explosionen. – Augenblicklich schwoll die Stimmung zu einem Begeisterungstaumel. „Jaaaaaaa!“ kam es vielstimmig aus der Menge. „Eeeendlich!“, und schon erhob sich Begeisterungsgegröle. Es erinnerte mich an die örtlichen Starkbierfeste, wenn einer der Lokalmatadore geehrt wurde. Das Gegröle wurde lauter, hielt an, mischte sich mit heftigem Beifallsklatschen. „Peng! – – Peng! – – Peng!“ kam es von ferne. Und dann wieder „Rattatattatatt!“

Ein ums andere Mal blickte der junge Soldat vor mir nervös über seine rechte Schulter.

Jetzt sterben hier Menschen, ging es mir durch den Kopf, und der Kloß in meinem Hals wurde noch viel kräftiger als zuvor. Ich weiß genau, jetzt sterben hier Menschen. Ganz gewiss sind es die Israelis, denn die haben keine Waffen und sind einfach nur mittendrin. Meine Freundin, von der allgemeinen Stimmung mitgerissen, riss die Faust in die Höhe und schrie begeistert: „Jaaaaa!“ – Ich riss ihr wütend die Hand herunter. Dann war es, auf einen Schlag, wieder still dort hinten. Irgendwo dort hinten. Wo sie jetzt gerade krepierten. Oder schon krepiert waren. Rufe der Anfeuerung waren zu vernehmen: Die Menge verlangte nach mehr, aber es kam nichts mehr. Enttäuschung wurde laut, dass es nur so kurz gewesen war. Dann setzte freudiges Debattieren ein. Man war der Meinung, denen habe man es jetzt gezeigt.

Ich war so angeekelt, dass ich nur noch weg wollte. Noch immer, wenn ich daran denke, höre ich die ausgelassenen Säuferstimmen, die ahnungslos und sensationsgeil dem Morden applaudierten, weil jetzt endlich einmal etwas los war, bei uns in Fürstenfeldbruck.

Ich hatte einen Studentenjob in der Brucker Post damals und musste um fünf Uhr aus den Federn. Nicht nur deshalb verließ ich den Ort des Dramas. Mein Schulfreund, der Lutzenberger Wolfi, arbeitete dort genau so wie ich als Urlaubsvertretung, und er hatte den Zustellbezirk, zu dem der Fliegerhorst gehörte, einen sogenannten „Radl-Gang“. Jeden Morgen radelte er mit seinem Postranzen durch die Hauptwache, um irgendwo innerhalb des Fliegerhorsts seine Briefe abzugeben. Ihm war mulmig, denn er wusste nicht, was ihn erwartete. Die anderen Zusteller schlossen Wetten ab, ob er Leichen sehen würde.

Mittags, als ich meine Abrechnung machte, traf ich ihn an der alten Rechenmaschine. Er war mit seinem gelben Postradl am streng gesicherten Tatort vorbeigestrampelt und berichtete mir, überall lägen noch die Leichen herum in ihren Blutlachen, während der Hubschrauber restlos ausgebrannt sei. Es sei „echt ein greisliger Anblick“. Die nachfolgenden amtlichen Verlautbarungen betonten, niemand habe etwas falsch gemacht.

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