Über 500 Sozialleistungen – niemand weiß mehr, wer wem was zahlt

In Deutschland existieren mehr als 500 verschiedene Sozialleistungen – und niemand weiß genau, was sie kosten oder bewirken. Eine neue Erhebung des Ifo-Instituts zeigt, dass selbst Experten den Überblick über den ausufernden Sozialstaat verloren haben.

picture alliance / SULUPRESS.DE, J. Stratenschulte - Collage: TE

Das deutsche Sozialwesen gilt als eines der umfassendsten der Welt. Doch es ist so komplex geworden, dass selbst Wirtschaftsforscher daran scheitern, es vollständig zu erfassen. Eine neue Untersuchung des Münchner Ifo-Instituts zeigt: In Deutschland existieren mehr als 500 verschiedene Sozialleistungen, verteilt über eine Vielzahl von Gesetzen, Behörden und Zuständigkeiten.

„Ursprünglich wollten wir Ausmaß und Wirkung aller Sozialleistungen berechnen“, sagt Andreas Peichl, Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen. „Doch die Vielzahl an Vorschriften und Zuständigkeiten ließ diese Aufgabe beinahe unlösbar erscheinen.“ Statt einer Analyse der Wirkung entstand daher zunächst nur eine Bestandsaufnahme – eine Datenbank, die erstmals alle Leistungen auf Bundesebene erfasst.

Allein die Sozialgesetzbücher umfassen heute 3.246 Paragrafen. Darin geregelt sind nicht nur Leistungen selbst, sondern auch Verfahrensvorschriften, Zuständigkeiten und Prüfpflichten. Hinzu kommen weitere Gesetze, etwa das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das Elterngeld- und Elternzeitgesetz oder das Gesetz über Familienpflegezeit. Der Sozialstaat, ursprünglich als Sicherungsnetz gedacht, ist zu einem System aus Hunderten teils überlappenden Programmen geworden.

„Unsere Datenbank ist ein erster Schritt zu mehr Transparenz“, sagt Ifo-Forscherin Lilly Fischer. Um Sozialpolitik wirklich evidenzbasiert zu gestalten, müsse die Politik nun allerdings auch Daten zu Inanspruchnahme, Kosten und Verwaltungsaufwand offenlegen. Genau daran mangelt es seit Jahren: Weder Bund noch Länder erfassen systematisch, welche Leistungen tatsächlich genutzt werden und welche Wirkung sie entfalten.

Ökonomen sprechen seit Längerem von einem „System der Versäulung“ – also einem Nebeneinander vieler einzelner Programme, die kaum miteinander verzahnt sind. So führen ähnliche Zielsetzungen zu mehrfachen Förderungen, während Kontrolle und Evaluation auf der Strecke bleiben. Die Folge sind Ineffizienzen, Fehlanreize und steigende Verwaltungskosten.

Das Ifo-Institut will mit seiner Erhebung daher auch eine Grundlage schaffen, um Doppelförderungen und bürokratische Überschneidungen sichtbar zu machen. Bisher allerdings steht die Politik hier erst am Anfang. „Die Datenbank kann helfen, bestehende Strukturen besser zu verstehen“, so Fischer, „aber ohne belastbare Zahlen zu Nutzung und Kosten bleibt es bei einer Momentaufnahme.“

Die Studie verdeutlicht zugleich ein strukturelles Problem: Die Zahl der Leistungen wächst stetig weiter – mit jeder Gesetzesänderung, jedem politischen Kompromiss, jeder neuen Zielgruppe. Soziale Absicherung wird damit zu einem immer komplexeren Verwaltungsakt. Schon kleine Anpassungen führen zu neuen Schnittstellen, Zuständigkeiten und Paragrafen.

Während die Belastungen für Bürger und Unternehmen ins Unermessliche steigen, fehlt es auf der anderen Seite an einem klaren Überblick über die finanziellen Dimensionen der Staatsausgaben. Allein die Sozialausgaben machten im Jahr 2024 laut Bundesfinanzministerium über 1,1 Billionen Euro aus – fast die Hälfte des gesamten Staatshaushalts. Wie sich diese Summe auf einzelne Programme verteilt, ist jedoch kaum nachvollziehbar.

Was bleibt, ist ein System, das sich selbst kaum mehr steuern lässt. Die Ifo-Forscher sprechen vorsichtig von einem „Inventar“. Tatsächlich markiert ihre Arbeit den Beginn einer Debatte, die längst überfällig ist: Wie viel Sozialstaat ist sinnvoll – und wie viel nur noch leistungsfeindliche Umverteilung verbunden mit enormem Verwaltungsaufwand?

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Kommentare ( 45 )

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45 Comments
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GP
1 Monat her

Unsere „Gäste“ kennen sich in diesem Bereich bestens aus, es genügt diese zu befragen; die wissen besser als jede Kartoffel wo hier der Hafer wächst….

Nachhaltiger Energie und Klimawandler
1 Monat her

Grandios, 500 Sozialleistungen! Da müsste doch für jeden etwas abfallen. Leider merke ich davon nichts.

Innere Unruhe
1 Monat her

Und wir werden immer noch mit Artikeln über soziale Ungerechtigkeit gefüttert…
Mir fallen spontan keine 500 Bedarfe ein, die man fördern könnte. 20 kann ich noch aufzählen, dann wird es auch dünn.

NochNicht2022
1 Monat her

Ich muß den Foristen leider eine dritte Wortmeldung zumuten. Die Ifo-Forscher teilten im Zusammenhang mit ihrer Veröffentlichung mit, daß sie für die Anzahl ihrer bisher ihnen zusammengetragenen über 500 „Sozial-Leistungen“ der BRD, nicht dafür garantieren können, daß ihre Liste abschließend und vollständig ist. Jetzt kommt’s: Die Forscher rufen vielmehr die Fachwelt, Experten, letztendlich Jedermann auf, sich bei ihnen wg. noch von diesen ggf. entdeckten bzw. auch bekannten weiteren (sic!) Sozialleistungen zu melden. Frage: Könnten es also an die 550 oder gar 600 Sozialleistungen sein? – Die Bewertung sei den TE-Lesern überlassen. – Erschütternd ist allerdings, daß sich bislang gerade einmal… Mehr

H. Priess
1 Monat her

Ich hätte einen Vorschlag raus zukriegen wer alles Geld bekommt. Einfach die Zahlungen einstellen und die die nach Geld schreien wurden bis dahin finanziert. Kennt man Namen und Adressen läßt sich schnell feststellen, wie viel die aus dem großen Topf bekommen. Hat Mr. Trump bei USAID gemacht und schon konnte festgestellt werden wohin die Milliarden versickern.

NochNicht2022
1 Monat her

Auf dem zweiten Blick fällt dann auf: Wie ist denn der Bundeshaushalt, hier im Bereich „Soziales“ gegliedert? Bei transparenter Darstellung der jeweils geplanten Ausgaben müßten doch diese 500 Sozialleistungen mind. auf Tausend Euro genau ausgewiesen werden (von mir aus mit ca., Stichwort: ABC-Analyse). Sonst wissen doch die hochgebildeten „Politiker-Pfeifen“ im Haushaltsausschuß des Bundestags und bei den Beschlußfassungen im Gesamtplenum überhaupt nicht, für was sie Geld ausgeben! Da ja jeder Depp sitzen und die Hand heben. Man kann doch nicht für summarische Titel und Blablabla-Überschriften Millionen und Milliarden Gelder bewilligen. Das ist ja lächerlich, so irrsinnig. Und das seit Jahrzehnten und… Mehr

TomSchwarzenbek
1 Monat her

Ein Freund meinte: Und dazu kommen noch BA-interne Irritationen in den Zuständigkeiten. Wo BA und Jobcenter unter einem Dach sind, werden die Leute schon mal hin- und hergeschickt. Akten natürlich auch. Manchmal ist das nicht ganz klar geregelt und dann dreht sich alles im Kreis. (und wieder zurück)

NochNicht2022
1 Monat her
Antworten an  TomSchwarzenbek

Richtig, das ist die Folge bei 500 Sozialleistungen … Kann man wenigsten herausfiltern für wie davon die JOb-Center zuständig sind? Oder sind alle staatlichen „Sozialstellen“ auf allen Ebenen gar für Alles zuständig? Zumindest nach 10, 15 Jahren mindesten einmal. P. S. Und da schwätzen die von einer Krankenhaus-Reform um „spezialisierter“ die Patienten zu behandeln. Das könnten die Pfeifen doch niemals sauber trennen: Da geht ja eine Behandlung in die Andere über … Das haben die Ärzte wohl selbst noch gar nicht geschnallt?

Schwabenwilli
1 Monat her

Aber wo das Geld herkommt das weiß man schon noch?

NochNicht2022
1 Monat her
Antworten an  Schwabenwilli

Falsche Frage. Das ist bei Billionen Euro Schulden fast schon egal und kann bzgl. Steuer, Abgaben, Schulden, Umlagen, Zuschüssen usw. usw. (da gibt’s über 100 Begriffe im Detail dafür) sowieso niemals zugeordnet werden. Wichtiger ist doch die – das System „UnserDemokratie“ entlarvende Frage: Wie sieht die Verteilung der Ausgaben bei den 500 Sozialleistungen konkret in Euro aus? Wer gibt es, wann und wo konkret aus? Wissen die Ausgebenden, was sie denn da tun? Was kam dabei heraus? Ist die Nr. 102, 367 und 475 jemals sinnvoll gewesen? usw. Letztendlich: Wußten die Haushalts-Tralalas im Bundestag, den Landtagen, den Kommunen usw. überhaupt,… Mehr

Ombudsmann Wohlgemut
1 Monat her

Es geht wahrscheinlich so viel Geld durch bürokratischen Aufwand verloren, dass man wahrscheinlich noch Gewinn macht, wenn man nur auf ein paar wesentliche Überprüfungen reduziert (gegen Betrug) und sonst alles Restliche streicht, die „Grundsicherungs“-Höhe beibehält, aber gleichzeitig die Steuern im unteren Bereich so weit senkt, dass sich eine Mindestlohnarbeit dennoch in jedem Fall gegenüber Hängematte lohnt (also +500€ nach Abzug sämtlichen laufender Kosten für 40h-Woche, da Arbeitslose weder Auto noch Versicherung brauchen).

Last edited 1 Monat her by Ombudsmann Wohlgemut
NochNicht2022
1 Monat her
Antworten an  Ombudsmann Wohlgemut

Tatsächlich könnte das u. a. die Folge sein. Dazu sind mehr als 100.000 Arbeitsplätze allein im Themenfeld „Soziales“ bei der Öffentlichen Hand – Verbände, gemeinwirtschaftlichen Unternehmen usw. sind da noch gar nicht berücksichtigt – überflüssig und das seit Jahrzehnten. Gemeint sind Voll-Kapazitäten – können sich auch anteilig auf z.B. 674.500 Köpfe beziehen. Und das z.B.in 1.217 Behörden oder Dienststellen auf allen drei Ebenen beziehen. Es weiß keine S… Näheres dazu. Frage: Ob sich da der/die Digital-Minister kümmern wird/werden? Ist natürlich nur eine theoretische Frage …

Peter Pascht
1 Monat her

Über 500 Sozialleistungen – niemand weiß mehr, wer wem was zahlt. Niemand weiß mehr, wer wem wie lange etwas zahlt. Das liegt insbesondere an der unkontrollierten islamischen Migration. Bürgeld Bezieher zu denen die bezahlende Behörde seit 10 Jahren keinen Kontakt mehr hat. Zudem überführen die Statistikzahlen des DIW, Angela Merkel der Lüge. Eine Studie des DIW belegt genau das was im Merkel-Strategiepapier geplant war, „Migration 2012-2050“ – für Dumpinghlöhne. „Einwanderung von ausserhalb der EU damit wir ein genügendes (Arbeitslosen) Potential auf dem Arbeistmarkt haben“ = Asyl-Lüge Gemäß Studie des DIW sind 64% der nach Deutschland geflüchtetet(sic) armutsgefährdet, weil unter ihnen… Mehr

NochNicht2022
1 Monat her
Antworten an  Peter Pascht

Als das Thema ist schon Jahrzehnte alt, da kommt seit etwa 2000 die „unkontrollierte islamische Migration“ nur als Sahne-Häubchen oben drauf.

Werner Geiselhart
1 Monat her

Einfach nur die Experten der Asyl- und Sozialindustrie zu Rate ziehen.
Die kennen jedes noch so kleine Schlupfloch und die dazugehörigen Gesetze, wie man als „Geflüchteter“ oder „Bedürftiger“ schnell und effektiv an Staatsknete gelangt.
z.B. einfach ein paar Angehörige in Absurdistan dazu erfinden oder besser noch der lückenlose Nachweis von 100 gezeugten Kindern.
Unsere Gesetze geben das anscheinend her, und manche blicken da richtig gut durch, anders als das Ifo😎

Last edited 1 Monat her by Werner Geiselhart
NochNicht2022
1 Monat her
Antworten an  Werner Geiselhart

Ist zwar amüsant formuliert. Das Problem liegt viel, viel tiefer. Wir sollten dem Ifo-Institut vielmehr danken, daß sie mit einem Taschenlämpchen erstmals in diesen „Jauche-See“ für 5,6, 7 Stunden geleuchtet haben. Also Danke!