Die Angst vor der Nachzählung der Bundestagswahl

Der Bundestag verweigert die Neuauszählung der Bundestagswahl – trotz hauchdünnem Ergebnis. Das BSW spricht von Machtmissbrauch, die Mehrheit von Ordnungsgemäßheit. Wer kontrolliert die Wahl, wenn die Gewählten sich selbst prüfen?

picture alliance/dpa | Fabian Sommer
Plenarsitzung Deutscher Bundestag, u.a. Abstimmung zur Neuauszählung der Bundestagswahl, Berlin am 18. Dezember 2025

Es wurden keine Fehler gemacht. Johannes Fechner, der Justiziar der SPD-Fraktion, betont: „Es gab keine Wahlfehler, es gab keine Zählfehler, die eine Neuauszählung begründen könnten.“ Die Ergebnisse seien bei Bedarf längst korrigiert worden. Das BSW, das bei der letzten Bundestagswahl 4,981 Prozent geholt und damit denkbar knapp den Einzug in den Bundestag verpasste, hatte beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestags eine Neuauszählung der Stimmen gefordert. Bereits am 22. April hatte der Verfahrensbevollmächtigte der Partei Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl eingelegt.

Am Donnerstagabend schmetterte das Parlament im Plenum den Vorstoß ab. Der BSW-Parteivorsitzende Fabio De Masi sagte, dass Deutschland womöglich einen Kanzler ohne legitime Mehrheit habe. Die Bedenken nahmen CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke nicht ernst. Dabei hatte eine ähnliche Arroganz bereits bei der berüchtigten Berliner „Pannenwahl“ geherrscht, als trotz auffälliger Probleme am Wahltag mehrfach kolportiert wurde, die Zustände hätten die Wahl nicht berührt. Dass es eben keine „Pannenwahl“ war, sondern es Ungereimtheiten, Verwechslungen, Ungenauigkeiten und zuletzt auch Manipulationen gab, hat TE damals dokumentiert.

Sahra Wagenknecht hatte wie ihre Parteikollegen dieses Ergebnis bereits vor der Ablehnung erwartet. Sie sprach von einer „Blamage“ für den Bundestag. „Dass bei einer Wahlprüfung Abgeordnete Richter in eigener Sache sind und dies schamlos ausnutzen, kennt man sonst nur aus einer Bananenrepublik“, so die BSW-Gründerin. Zuvor hatte der Wahlprüfungsausschuss mit großer Mehrheit zugestimmt, den Einspruch des BSW abzuweisen – der Bundestag schloss sich der Ansicht lediglich an und bildete die dortigen Mehrheiten ab.

Nach Ansicht der Ausschussmehrheit seien die Voraussetzungen für eine Neuauszählung nicht erfüllt. Eine solche sei nur bei „konkreten und substantiierten“ Hinweisen auf Wahlfehler geboten, die das Mandat beeinflussen könnten. Neuerlich wird also das Argument der „Mandatsrelevanz“ ins Feld geführt. In der Begründung hieß es, dass statistische Anomalien allein kein Beweis für einen Wahlfehler seien. Das bestehende System aus Vorprüfung und amtlicher Feststellung sei ausreichend, um die Richtigkeit der Wahl zu garantieren. Sämtliche „demokratische“ Parteien – einschließlich der Linkspartei, der alten politischen Heimat Wagenknechts – wehrten sich gegen die Neuauszählung.

Die einzige Ausnahme war die AfD – vermutlich nicht zuletzt von der Erfahrung von 2013 geprägt, als die Partei knapp den Einzug in den Bundestag verpasste. Die Fraktion empfahl, dem Einspruch des BSW stattzugeben und eine unverzügliche Neuauszählung aller Stimmzettel anzuordnen. Sie verwies auf fast 23.000 Bürger-E-Mails, die Zweifel an der Korrektheit der Auszählung äußern. Das Vertrauen in die demokratische Legitimation sei bereits beschädigt. Angesichts des extrem knappen Ergebnisses dürften die Anforderungen an die Beweislast der Einspruchsführer nicht überspannt werden, um die richtige Zusammensetzung des Parlaments zu gewährleisten.

Wagenknecht beanstandet nicht zu Unrecht, dass die Abgeordneten „Richter in eigener Sache“ seien. Anders als häufig suggeriert ist es nicht überall üblich, dass das Parlament zuerst selbst darüber entscheidet, ob es richtig gewählt wurde oder nicht. Bei insgesamt nur 9.500 fehlenden Stimmen für den Einzug einer Partei müsste man eigentlich hellhörig werden, ob hier nicht die Abbildung des Wählerwillens verzerrt werden könnte. Dass ein Einzug des BSW nicht nur eine Umsortierung einzelner Abgeordneter, des gesamten Bundestags und zuletzt der Regierung – Schwarz-Rot hätte dann keine Mehrheit mehr – zur Folge hätte, macht die Frage nach möglicherweise fehlenden oder falsch zugeordneten Wahlzetteln zum Politikum.

In Europa ist es deswegen nicht unüblich, dass die Wahl direkt von einem Gericht geprüft wird. In Frankreich trägt der Conseil constitutionnel die Verantwortung und im Vereinigten Königreich der Election Court. Das britische Beispiel ist deswegen interessant, weil es bis vor 150 Jahren ein sehr ähnliches System wie der Bundestag pflegte: Das Unterhaus prüfte sich selbst. 1868 reformierte man jedoch das System, weil die Abgeordneten nach Parteibuch abstimmten. Wer die Mehrheit hatte, erklärte seine eigenen Leute für „rechtmäßig gewählt“ und die Opposition für „ungültig“. Italien wiederum ähnelt in seiner mühseligen Aufarbeitung von Wahlpannen dem deutschen Modell: Aus der Diktaturerfahrung hat man auch dort dem Parlament weitreichende Befugnisse gegeben, sodass sich dieses selbst kontrolliert.

Man muss allerdings nicht erst ins Ausland schauen. Im Zuge der Berlin-Wahl von 2021 und deren Aufarbeitung durch TE hat sich nämlich gezeigt, dass die direkte Prüfung durch Gerichte auch hierzulande stattfindet. Bekanntlich fielen Bundestagswahl und die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin zusammen. Während die Bundestagswahl erst durch den eigenen Wahlprüfungsausschuss musste, kam Berlin schneller zu einem Ergebnis: Der Berliner Verfassungsgerichtshof entschied, dass aufgrund der gravierenden Mängel die gesamte Wahl wiederholt werden müsste.

Hier zeigt sich der frappierende Unterschied zwischen Behauptung und Tatsache: Denn anders als der Verfassungsgerichtshof ordnete der Bundestag die Mängel als nachrangig ein und wollte nur in 431 Wahlbezirken eine Wahlwiederholung durchführen. Stichwort: Mandatsrelevanz. Was mandatsrelevant ist, wurde demnach im Gericht völlig anders ausgelegt als im Bundestag. Auf Bundesebene kann aber erst nach der Prüfung der Gang nach Karlsruhe folgen – so wie es auch TE getan hat. Auch Karlsruhe wehrte sich gegen eine vollständige Wiederholung der Wahl, erhöhte aber die Zahl der auszuwertenden Bezirke von 431 auf 455.

Neuerlich: Der Bundestag nimmt es bei seiner eigenen Prüfung offenbar nicht so genau. Das Ergebnis war für viele Berliner völlig unverständlich. Am 12. Februar 2023 mussten sie das Landesparlament komplett neu wählen. Aber erst am 11. Februar 2024 durften sie für den Bundestag an die Urnen treten – und das auch nur teilweise.

Auch bei der Prüfung des haarknappen BSW-Ergebnisses stellt sich die Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure? Und wie ist mit der gewaltigen Verschleppung damals wie heute umzugehen? De Masi betont, dass die Wahlleiter in den Bundesländern zugegeben hatten, dass „die von uns dokumentierten Anomalien mit hoher Wahrscheinlichkeit Falschzählungen zu Lasten des BSW sind, die jedoch nicht mehr geprüft wurden“. Das BSW hat angekündigt, die Entscheidung in Karlsruhe zu suchen. Doch auch für den Rest der Republik stellt sich die Frage, inwiefern die Bundesrepublik Opfer von Spielregeln ist, die man in London – aus guten Gründen – bereits vor 150 Jahren abgeschafft hat.

Lesen Sie hier die Beiträge bei Tichys Einblick zur Berliner „Pannenwahl“ >>>

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Kommentare ( 40 )

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Der Ingenieur
27 Minuten her

In Hamburg wurde die Briefwahl von Bürgern, die sich im Ausland aufhielten, erfolgreich verhindert:

Man konnte die Brief-Wahlunterlagen für die Bundestagswahl und die kurz darauf folgende Bürgerschaftswahl zum Landesparlament zwar online beantragen.

Das nützte aber nichts, denn man bekam sie einfach nicht zugeschickt.

Die Handlanger des rot-grünen Senats verschickten die Unterlagen nämlich nicht per normalen Brief, der innerhalb von drei Tagen im Ausland angekommen wäre, sondern als Massensendung wie Prospekte, sodass die Wahlunterlagen erst nach 4 Wochen eintrafen.

Da waren aber beiden Wahlen schon gelaufen und positiv für die Linksextremen entschieden worden.

Last edited 27 Minuten her by Der Ingenieur
Waldschrat
46 Minuten her

Man muss kein Freund des BSW sein, zumal vermutlich die Grünen wieder in der Regierung wären, wenn das für das BSW gut ausginge, aber es ist ein Akt funktionierender Demokratie und ein gewisser Respekt gegenüber des Wahlprocederes und dem Wähler, dass hier neu ausgezählt wird. De Masi hatte vor einige Zeit bei NIUS plausibel vorgerechnet, dass deutlich mehr als die benötigten 9000 Stimmen zusammenkommen können. Davor hat das Brandmauerkartell Angst. Das zeigt, was die Demokratrie in Deutschland noch wert ist, nämlich nichts, deswegen heißt sie jetzt auch „UnsereDemokratie“. Die Qittung kommt, es ist keine Frage des „ob“, lediglich des „wann“.… Mehr

verblichene Rose
1 Stunde her

Abgesehen von ganz anderen Widrigkeiten, die eine weitere LINKS-Fraktion im Bundestag bringen würde, bin ich ehrlich gesagt geschockt darüber, daß es überhaupt immer noch Leute gibt, die die Linken und den BSW in MILLIONENstärke wählen. Über die ehemalige SED muß man ja kein Wort mehr verlieren, aber ich bin schon froh, daß es die FDP nicht geschafft hat. Eine neue, linkslastige FDP-2.0-irgendwas machte daher m.E. die Gesamtsituation nicht wirklich besser. Völlig unabhängig davon, ob richtig gezählt wurde, oder nicht. Und noch etwas: Selbstverständlich müssen Wahlen von Anfang bis zum Ende korrekt ablaufen. Aber Hand auf’s Herz, wäre das der CDU… Mehr

Aegnor
1 Stunde her

Das die BT-Abgeordneten der Regierungsparteien sich mit Händen und Füßen gegen eine Neuauszählung wehren würden ist ja nun keine Überraschung. Skandal ist, dass sie das einfach selber bestimmen können, bzw. von ihnen eingesetzte Richter die letzte Überprüfungsinstanz sind. Gerade weil man eine undemokratische 5%-Hürde hat, muss genau gewährleistet sein, dass wenn Parteien ganz knapp daran scheitern, dies auch korrekt abgelaufen ist. Die Ausrede mit der 5%-Hürde einer Zersplitterung vorzubeugen ist Quatsch. Denn das wäre, bzw. ist nur dann ein Problem, wenn Regierung und Gesetzgebung nicht getrennt sind. Also ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung als Grundvoraussetzung der Demokratie vorliegt. Es gibt… Mehr

Egozentrik
1 Stunde her

Zitat „Man muss allerdings nicht erst ins Ausland schauen. Im Zuge der Berlin-Wahl von 2021 und deren Aufarbeitung durch TE hat sich nämlich gezeigt, dass die direkte Prüfung durch Gerichte auch hierzulande stattfindet. Bekanntlich fielen Bundestagswahl und die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin zusammen. Während die Bundestagswahl erst durch den eigenen Wahlprüfungsausschuss musste, kam Berlin schneller zu einem Ergebnis: Der Berliner Verfassungsgerichtshof entschied, dass aufgrund der gravierenden Mängel die gesamte Wahl wiederholt werden müsste.“ Sind die Schuldigen, die Manipulateure und Wahlfälscher, deren Namen ja feststehen, da sie die Unterlagen unterzeichnet haben, jemals zur Rechenschaft gezogen worden? Sind sie angezeigt, angeklagt… Mehr

Last edited 1 Stunde her by Egozentrik
Talleyrand
1 Stunde her

Eine alte Weisheit: Wenn du den Sumpf nicht entwässern willst, lasse die Frösche darüber abstimmen. Das lärmende Mehrheitsgequake wird dir sicher sein.

X1
1 Stunde her

Verstehe ich das richtig: nachgezählt wird nur, wenn ein konkreter Beweis erbracht werden kann, dass falsch ausgezählt wurde, egal wie viele Indizien darauf hindeuten (wie statistische Anomalien)? Und das dies auch dann gilt, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sich bei einer Neuauszählung die Zusammensetzung des Parlaments gravierend ändert, wenn also die tatsächliche Stimmenanzahl festgestellt wird? Das wäre ein Freibrief für Wahlfälschung.

Traum-Yogi
1 Stunde her

Es ist wünschenswert, dass es eine Neuauszählung gibt. Und bei der nächsten Wahl sollten neben dem BSW auch die ÖDP und die Basis in den Bundestag gelangen. Dann kann eine Koalition mit der AfD gebildet werden.
https://jlt343.wordpress.com

Or
1 Stunde her

Die Väter des Grundgesetzes haben leider viele „Problemfälle“ hinterlassen. Z. Bsp. die individuelle Asylgesetzgebung, die geradezu zum Missbrauch einlädt, die Unmöglichkeit einen Kanzler – der, hätte er vor der Wahl gesagt, was er nach der Wahl machen will, keine 10% bekommen – wieder loszuwerden, wenn er/sie zum Schaden des eigenen Landes arbeitet und eben, daß der Bundestag selbst über eine Neuauszählung einer Wahl zu bestimmen hat. Allerdings sehe ich, völlig losgelöst von der Konsequenz wenn diese Partei in den Bundestag kommt, ausgerechnet beim BSW nicht so das Problem. Denn es war nur deren Gier, Dummheit, Kurzsichtigkeit geschuldet, daß die Wagenknecht… Mehr

Last edited 1 Stunde her by Or
Dietesheim
2 Stunden her

Sie müssen das verstehen: Das ist unsere Demokratie.
Ja. Berlin. Dass die Bundestagswahl nur in bestimmten Bezirken statt in allen Bezirken erfolgte, hatte mich auch überrascht.