In der Hauptstadt kümmern sie sich nur um die wirklich wichtigen Sachen. Jetzt gibt es eine Bürgerinitiative, die Berlin von Werbeplakaten befreien möchte. In der Stadt funktioniert fast nichts, dafür findet man dort auch für die irrsten Ideen Zeit.
picture alliance / Wolfram Steinberg
In Berlin passieren viele Dinge zuerst, bevor sie sich dann auch im Rest Deutschlands ausbreiten. Die Hauptstadt ist so etwas wie eine Brutstätte für gesellschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik. Das gilt im Guten wie im Schlechten.
Meist allerdings im Schlechten.
Willy Brandt war hier Regierender Bürgermeister, bevor er Bundeskanzler wurde. Richard von Weizsäcker war hier Regierender Bürgermeister, bevor er Bundespräsident wurde. Die sogenannte Große Koalition aus CDU und SPD war hier die vorherrschende Regierungsform, bevor sie es auf Bundesebene wurde.
Und hier wird gerade die Idee der direkten Bürgerbeteiligung in Serie diskreditiert, bevor sie in ganz Deutschland auch nur einmal ernsthaft ausprobiert wurde.
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Berliner sind bekanntlich die unangefochtenen Weltmeister in Bescheidenheit, noch vor den Texanern. Der Autor ist selbst gebürtiger Berliner und weiß genau, wovon er spricht.
Schon seit Jahren definiert sich die deutsche Hauptstadt zunehmend als Speerspitze des Weltlinkstums. Wenn es irgendeinen vermeintlich progressiven Trend gibt, will man nicht nur vorne dabei sein, sondern ganz vorne. Das führt meist dazu, dass auch eigentlich ganz vernünftige Ideen in Berlin so verhunzt werden, dass sie danach nur noch unattraktiv erscheinen.
Jüngstes Beispiel ist die direkte Demokratie.
„Berlin werbefrei“ heißt eine Bürgerinitiative, die erreichen will, dass in der Hauptstadt die meisten Werbeflächen verboten werden. Das ist kein Scherz, die meinen das todernst.
Der Senat – so heißt die Berliner Landesregierung – lehnt das Vorhaben zwar inhaltlich ab. Formal hat er den von der Initiative vorgelegten Gesetzentwurf zum weitgehenden Verbot digitaler Werbung im öffentlichen Raum aber für zulässig erklärt. Jetzt ist das Abgeordnetenhaus am Zug, das Berliner Landesparlament. Es kann den Gesetzentwurf weitgehend unverändert annehmen – oder ablehnen. Dann will die Initiative Unterschriften für einen Volksentscheid sammeln.
Wie kommt man auf so eine Idee?
Die Initiative beklagt eine „zunehmende optische Dominanz von Werbung im Stadtraum“. Die wirkt sich angeblich negativ auf das Straßenbild sowie auf die architektonische und städtebauliche Gestaltung aus.
Am Berliner Städtebau gäbe es tatsächlich so einiges auszusetzen, zuletzt hat der Senat es geschafft, aus dem zentralen und einstmals wunderschönen Platz am Gendarmenmarkt für 21 Millionen Euro eine fürchterliche Steinwüste ohne eine einzige Pflanze zu machen. Wenn man an Berliner Bauprobleme denkt, kommt einem Straßenwerbung ganz sicher nicht in den Sinn.
Doch besonders digitale Werbung ist dem Sprecher der Initiative, Fadi El-Ghazi, ein großer Dorn im Auge: „Die animierten und bewegten Inhalte solcher Anlagen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und erzeugen eine unerwünschte Unruhe im Stadtraum.“ El-Ghazi beklagt auch „Lichtverschmutzung“ und „negative Auswirkungen auf Menschen, Tiere und Natur“.
Schon im Jahr 2018 hatte die Initiative der Werbegegner 30.000 Unterschriften gesammelt. Das hätte im Prinzip für ein Volksbegehren gereicht, doch der damalige rot-rot-grüne Senat erklärte den Vorstoß für rechtswidrig, weil er zu sehr in Eigentumsrechte eingreife. Dafür wurde die Landesregierung zwei Jahre später vom Berliner Verfassungsgerichtshof zurückgepfiffen. So erklärt sich auch, weshalb der Senat jetzt seinen Widerstand gegen die Initiative aufgegeben hat.
In der linken Stadthälfte freut man sich ein Loch in den Bauch. Die Grünen signalisieren Unterstützung und warnen davor, das Anliegen „reflexartig“ abzulehnen. „Die zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raums wird zu Recht kritisiert“, erklärt der Landesvorsitzende Philmon Ghirmai. Sein Kollege Maximilian Schirmer von der „Linken“ sekundiert: „Man kann der Werbung im Straßenbild kaum noch entkommen. (…) Unsere öffentlichen Plätze sollten Orte der Lebens- und Aufenthaltsqualität für die Leute sein und keine erweiterte Verkaufsfläche für Konzerne.“
Was man halt so sagt als berufsmäßiger Antikapitalist.
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Berlin hat mit 15,5 Prozent den fünfthöchsten Anteil an Bürgergeldempfängern von allen deutschen Großstädten. In absoluten Zahlen leben hier mit Abstand die meisten Menschen, die Geld aus der Steuerkasse bekommen. Außerdem sitzen hier die meisten Bundesbeamten und steuerfinanzierten NGOs.
Berlin ist nicht nur die Bundeshauptstadt, sondern auch die Zentrale der deutschen Staatsindustrie.
Hier leben also sehr, sehr viele Menschen, die nicht an der Wertschöpfung teilnehmen und sich nicht darum sorgen müssen, wie sie ihren Lebensunterhalt in der freien Wirtschaft mit ehrlicher Arbeit verdienen. Die moderne Frage lautet: Was macht das mit einem? In Berlin führt es dazu, dass die Leute Dinge für wichtig halten und auf Ideen kommen, über die normale Menschen anderswo ungläubig den Kopf schütteln.
Im Jahr 2006 hat Berlin seine Landesverfassung geändert. Seitdem sind dort Volksbegehren und Volksentscheide vorgesehen (Art. 59 ff). Das würde man sich auf Bundesebene auch wünschen – aber dann ganz bestimmt nicht so, wie es an der Spree gemacht wird.
Knapp 2,5 Millionen Menschen sind in Berlin wahlberechtigt. Zur Einleitung eines Volksbegehrens braucht man gerade mal 20.000 Unterstützer. Das sind 0,8 Prozent – ein bisschen wenig, darf man meinen.
Ein Volksbegehren ist erfolgreich, wenn mindestens sieben Prozent der Wahlberechtigten innerhalb der viermonatigen Eintragungsfrist zustimmen. Derzeit braucht man etwa 175.000 Unterschriften, dann ist das Volksbegehren erfolgreich, und es folgt ein Volksentscheid. Ein Gesetzentwurf oder sonstiger Beschluss ist durch Volksentscheid angenommen, wenn er die Mehrheit der Stimmen bekommt und außerdem mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten zugestimmt haben. Faustregel derzeit also: mehr Ja- als Nein-Stimmen bei mindestens 625.000 Ja-Stimmen.
Acht Volksentscheide gab es in der Hauptstadt seit 2006. Vier erhielten keine Mehrheit.
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Eine Berliner Besonderheit ist der extrem linke Verfassungsgerichtshof.
Der hat nicht nur „Berlin werbefrei“ für zulässig erklärt, sondern – entgegen dem ausdrücklichen Votum des Senats – auch das Projekt „Berlin autofrei“. Dessen Initiatoren wollen den Autoverkehr in der Hauptstadt weitgehend verbieten – also tatsächlich nahezu komplett.
Die Berliner Verfassungsrichter schaffen dafür eine deutschlandweit einzigartige Rechtskonstruktion. Sie verneinen ausdrücklich, dass es ein Recht zum Autofahren gibt. Ebenso wenig gebe es für den Bürger das Recht, jeden Punkt in der Stadt mit dem eigenen Pkw zu erreichen. Und selbst dort, wo das heute in Form des Gemeingebrauchs des öffentlichen Straßenlandes der Fall ist, müsse das nicht so bleiben.
Berlins oberstes Gericht hält es für verhältnismäßig und für durch das Grundgesetz gedeckt, private Autofahrten im Zentrum der deutschen Hauptstadt fast komplett zu verbieten. Und private Werbung auch.
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Der Autor dieses Textes, wie eingangs erwähnt, ist gebürtiger Berliner. Vor vier Jahren bin ich aus der Hauptstadt geflüchtet, es ist da einfach nicht mehr auszuhalten. Seitdem genieße ich politisches Asyl in Oberbayern. Aus dieser neuen Perspektive lässt sich sagen:
Wenn es wirklich stimmt, dass viele Dinge in Berlin zuerst passieren und sich dann in ganz Deutschland ausbreiten – dann gnade uns Gott.

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