Stoiber wollte Kanzlerin Merkel nach der Grenzöffnung 2015 stürzen

Edmund Stoiber (CSU) habe Kanzlerin Merkel (CDU) nach der Grenzöffnung vom Spätsommer 2015 stürzen wollen. „Und mich wollte er dazu bewegen, Merkel zu stürzen, um selbst Kanzler zu werden“, so Schäuble in seinem Buch. Er habe das entschieden abgelehnt. Schäubles Mitverantwortung für „2015“ bleibt.

picture alliance/AP Photo | Bernd Von Jutrczenka

Am 8. April 2024 erscheinen posthum die „Erinnerungen“ des am 26. Dezember 2023 verstorbenen CDU-Manns, Mehrfach-Bundesministers und Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Der Titel des 656 Seiten starken und bei Klett-Cotta erscheinenden Schäuble-Buches lautet unspektakulär „Erinnerungen. Mein Leben in der Politik“.

Spektakulär ist allerdings, was der Verlag offenbar aus PR-Gründen bislang preisgegeben hat – und zwar über den „Stern“: Nämlich dass der vormalige, 2007 aus diesem Amt geschiedene bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber im Herbst 2015 nach Merkels vorbehaltloser Grenzöffnung versucht haben soll, Kanzlerin Merkel mit Hilfe Seehofers und Schäubles zu stürzen, um selbst Kanzler zu werden.

Wir sind nun darauf angewiesen, ob Stoiber und Seehofer das bestätigen werden. Wenn es denn so gewesen sei, werden die beiden sich mit Rücksicht auf den verstorbenen Schäuble und Merkel (die ja für Herbst 2024 ihre „Erinnerungen“ angekündigt hat) bedeckt halten. Stoiber – siehe unten – hat Entsprechendes auch schon getan. Ob es sich tatsächlich so zugetragen hat? Ob Stoiber – damals bereits 74 Jahre alt – das wirklich wollte?

Schäuble verteidigt nach wie vor die Grenzöffnung

Die einschlägigen Passagen des Schäuble-Buches lesen sich wie folgt: Er bekräftigt seine grundsätzliche Unterstützung für Merkels Entscheidung, im Herbst 2015 die deutschen Grenzen für Flüchtlinge offenzuhalten. Wörtlich: „Als die Kanzlerin am 4. September 2015 die im Rückblick für diese Krise zentrale Entscheidung traf, die Grenzen angesichts der katastrophalen Zustände am Bahnhof von Budapest, wo Flüchtlinge zu Tausenden gestrandet waren, weiterhin offenzuhalten, fand ich dies aus humanitären und europapolitischen Gründen richtig“, schrieb er. Er habe Merkel nach Kräften unterstützt; zu diesem Zeitpunkt war Schäuble Bundesfinanzminister. Sogar ihren Satz „Wir schaffen das“ habe er richtig gefunden: „Das waren starke Statements. Sie hätten eben nur von einer Vielzahl weiterer Maßnahmen und Anstrengungen begleitet werden müssen, um zu verdeutlichen, dass diese einmalige Notmaßnahme unwiederholbar war.“

Im Unterschied zu Merkel habe es Schäuble aber für richtig gehalten, „den Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein einzuschenken und klarzumachen, dass der Einsatz für die Flüchtlinge eben auch mit Kosten und Opfern verbunden ist“. Er sei gelegentlich frustriert darüber gewesen, „dass Merkel in mancherlei Hinsicht beratungsresistent blieb. „Nach meiner Einschätzung hätte sie ganz andere Möglichkeiten gehabt, um wirklich politisch zu führen und nicht nur zu reagieren.“

Wie vergiftet die Atmosphäre zum Teil war, schildert Schäuble sodann. Und das ist der Hammer in Schäubles posthumen Buch: Der ehemalige CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, 2002 selbst knapp gescheiterter Kanzlerkandidat der Union, habe Schäuble auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise zu einem Sturz von Merkel drängen wollen. Das war unmittelbar nach dem CSU-Parteitag, als der amtierende bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer der Kanzlerin „wie einem Schulmädchen die Leviten las“. Seehofers 13-Minuten-Standpauke vom 25. November 2015 in München und seine Vorhaltung der „Herrschaft des Unrechts“ kann man hier nachverfolgen.

Schäuble weiter: Inzwischen wurde auch Edmund Stoiber aktiv und feuerte Seehofer, seinen Nach-Nachfolger im Ministerpräsidentenamt, in dessen Attacken gegen Merkel an. „Und mich wollte er dazu bewegen, Merkel zu stürzen, um selbst Kanzler zu werden.“ Er, Schäuble, habe das entschieden abgelehnt: „Wie Jahrzehnte zuvor bei Kohl blieb ich bei meiner Überzeugung, dass der Sturz der eigenen Kanzlerin unserer Partei langfristig nur schaden könnte, ohne das Problem wirklich zu lösen. Das war mein Verständnis von Loyalität, das nach heutigen Maßstäben vielleicht ein wenig antiquiert erscheint.“

Und Stoiber heute? Er erklärte aktuell gegenüber „Bild“: „Ich habe mit wenigen Kollegen in meinem Leben so viele persönliche und vertrauliche Gespräche seit den achtziger Jahren bis in die letzten Jahre hinein geführt, wie mit meinem langjährigen und eng verbundenen Kollegen Wolfgang Schäuble.“ ABER: „Berichte darüber habe ich niemals kommentiert und das gilt für mich natürlich auch heute nach seinem Tod weiter.“

Schäuble trägt mit Verantwortung für das, was 2015 und danach geschah

Dennoch greifen wir den Faden einmal auf und spinnen ihn quasi retrospektiv weiter. Mit „Opfern“ sei die Grenzöffnung verbunden gewesen, schreibt Schäuble. Nun ja, so kann man es beiseiteschieben. Es wurden gigantische persönliche und nicht minder politische Opfer daraus: Hätte es diese rechtswidrige Grenzöffnung nicht gegeben, würden Hunderte Messer-Opfer noch leben, wären Zigtausende von Frauen und Mädchen nicht belästigt und vergewaltigt worden, wären zig Milliarden Euro nicht zum Fenster hinausgeworfen gewesen usw. Es hätte den Brexit nicht gegeben. Die CDU/CSU wäre nicht abgestürzt. Es hätte keinen Aufschwung der AfD gegeben, keine Brandmauer. Deutschland hätte sich nicht den Ruf erworben, ein „Hippiestaat“ zu werden usw. usw.

Nein, der Grundsatz „DE MORTUIS NIL NISI BENE“ (Nichts Schlechtes über einen Toten!) darf hier mit Blick auf Schäuble nicht so ganz gelten. Er trägt mit die Verantwortung für viele desaströse Entwicklungen. Die er übrigens schon eingeleitet hatte, als er als Bundesinnenminister – Jahre vor Wulff und Co. – der erste war, der 2006 den Satz prägte: „Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas“.

Menschlich und psychologisch übrigens ist es schwer verständlich, warum Schäuble sich immer neben und hinter Merkel stellte, wiewohl sie ihn immer wieder demütigte, zum Beispiel weil sie ihn als Bundespräsidenten verhinderte, um eine zweite Garnitur wie Christian Wulff (CDU) und Frank-Walter Steinmeier (SPD) küren zu lassen.

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Kommentare ( 72 )

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Kassandra
27 Tage her

Egal welchen Politiker man sich auch so vor seinem inneren Auge vorstellt – Schäuble, Merkel, Scholz, Seehofer, Stoiber, absteigend bis zum jetzigen Kabinett wie die gesamten Zuarbeiter aus den Einheitsparteien:
eine richtige Persönlichkeit mit Ecken und Kanten, große Deutlichkeit ausstrahlend, wird doch dadurch nie wahrnehmbar – oder?
Von „Charakterstärke“ im besten Sinne gar nicht erst zu reden.

Ralf Poehling
27 Tage her

Das Problem liegt in der Tat nur bei der CDU und nicht bei der CSU. Und zwar besonders auch bei der CDU in NRW. Die hat unglaublichen Bockmist gebaut und will dafür nicht geradestehen, weshalb hier mit ausländischer Hilfe sogar Gerichtsverfahren sabotiert werden und Beweismittel unter den Teppich gekehrt werden sollen. Das ist Fakt. Und seit geraumer Zeit versucht man auch noch, das eigene Fehlverhalten der Verwaltung bzw. dem Polizeiapparat unterzuschieben, obwohl man den ja selbst steuert. Die CDU ist mit Hilfe der AKP und ihren hiesigen Agenten in NRW an die Macht gekommen. Und das will man unter den… Mehr

moorwald
27 Tage her

Ich habe es schon mal geschrieben: Was mich an Schäuble immer abstieß, war die Eiseskälte, die er jedenfalls in Interviews zeigte.
Ob ihn sein schweres Schicksal erst hat so verbittert werden lassen?
Wie auch andere intelligente, aber charakterlich eher mittelmäßige Menschen ließ er sein Gegenüber seine (scheinbare) Überlegenheit fühlen. Kein Gespräch ohne diese besserwisserische Belehrungsattitüde.
Richlings und Kröhnerts Parodien arbeiten das gut heraus. Die Gestik…

TomSchwarzenbek
27 Tage her

Schäuble: Verbittert, enttäuscht, nachtretend, Wadenbeißer, ohne Selbstachtung………der Mann mit dem Geldkoffer.

Last edited 27 Tage her by TomSchwarzenbek
Silke Spaeth
27 Tage her

Danke für diesen Beitrag Herr Kraus. Wolfgang Schäuble hat alles verraten, was uns lieb und teuer war. Sie finden schwer verständlich, warum er sich immer hinter oder neben Merkel gestellt hat. Meine Erklärung ist einfach: Dankbarkeit ihr gegenüber: dass sie ihm nach ihrem Krankenhausbesuch nach dem Attentat ermöglicht hat, weiter in Berlin mitmischen zu können. Denn er hat sich für zu wichtig gehalten, als Pflegefall heim zu müssen in die Ortenau. Er wollte schlicht nie Hause. So hat er es sich unter ihr bequem gemacht, konnte weiter als Staatsmann wichtig tun und hat, wie Sie treffend beschreiben, Verantwortung für alles,… Mehr

Boudicca
28 Tage her

Schäuble hielt sich für unersetzlich, sonst wäre er nicht über das Pensionsalter im Bundestag geblieben. Berufspolitiker wie er sind der Untergang von demokratischen Prozessen.
Kein Politiker sollte mehr als 2 Legislaturperioden ein politisches Amt egal welches inne haben.

Brauer
28 Tage her

Spannend ist doch, dass Merz auch Merkel verteidigt und dieselbe Politik macht. Ob Merkel im Hintergrund noch immer die Fäden zieht?

Juergen P. Schneider
28 Tage her

Es fehlten in der Stunde der Not charakterfeste Führungspersonen, die nicht nur des eigene Wohl sondern auch das des Staates und seiner Bürger im Auge gehabt hätten. Wir werden seit geraumer Zeit von Wichten und Witzfiguren regiert, die außer den eigenen Karriereabsichten keinerlei staatsmännische Fähigkeiten und nicht die Spur von Weitsicht besitzen. Keine dieser Figuren macht sich offenbar Gedanken darüber, wie das eigene Handeln vielleicht in wenigen Jahren bewertet werden könnte. Sie alle eint der Aberglaube, dass das Jetzt und seine gegenwärtige Bewertung auf ewig Geltung besitzen werden. Die Grenzöffnung 2015 und die verhängnisvolle Corona-Panik-Pandemie sind die besten Beispiele dafür,… Mehr

Habakuk06
27 Tage her
Antworten an  Juergen P. Schneider

….wie das eigene Handeln in vielleicht wenigen Jahren bewertet werden könnte. …. .wie die Nachwelt über das eigene Tun urteilen könnte. Das juckt die doch nicht, weil sie dann ihre Schäfchen im trockenen haben. Ich denke nicht, dass die irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden oder werden können. Sie müssten daran denken, was dieses Tun in einigen Jahren respektive Jahrzehnten für uns Bürger für Konsequenzen haben wird. Aber das ist ihnen schnurzegal.

Kassandra
27 Tage her
Antworten an  Habakuk06

Ein Pole, Andrzej Łobaczewski, hat über „Politische Ponerologie, eine Wissenschaft über das Wesen des Bösen und ihre Anwendung für politische Zwecke“ geschrieben – das Buch ist, wie mehrere Interviews dazu, im www in Gänze zu finden, damit wir wissen, mit was wir es zu tun haben. Wir können gar nicht so abartig denken wie die, die Politik für uns zu machen vorgeben – und die sich momentan wie in einem Nest in den Kabinetten und als Zuspieler seit Merkel sammeln konnten, sowohl im Bund, auf Länderebenen wie bis in die Kommunen – und wohl auch in Unternehmen, Pharma, Energie wie… Mehr

RauerMan
28 Tage her

Wenn Merkel, wie auch immer, als Kanzlerin weggewesen, wäre das gut für D gewesen.
Die Folgen der Grenzöffnungen sind verheerend und gehen unvermindert weiter.
Das vergessen viele Wähler der Union auch heute nicht.

Der Ingenieur
28 Tage her

Menschlich und psychologisch übrigens ist es schwer verständlich, warum Schäuble sich immer neben und hinter Merkel stellte, wiewohl sie ihn immer wieder demütigte.“

Vermutlich, weil sie einiges gegen ihn aus der Kohlschen Bimbes-Ära gegen ihn in der Hand hatte …

Laut französischem Untersuchungsausschuss soll Kohl allein für den Verkauf des ostdeutschen „Minol“ Tankstellennetzes und der dazugehörigen Raffinerien mehr als 150 Mio. Schmiergeld vom französischen Konzern „Elf Aquitaine“ (heute „Total“) erhalten haben.

Kassandra
27 Tage her
Antworten an  Der Ingenieur

Tja. Vielleicht ist es an der Zeit, alle Geldflüsse und Kontenbewegungen ab von den Diäten akribisch zu erfassen – bei allen, die seit langem dabei sind und sich aus Trögen laben. Zusätzlich.
Das Ausmaß dessen scheint schwindelerregend!