Sahra Wagenknecht wird auch von manchen bürgerlich denkenden Menschen bewundert. In Wirklichkeit verdreht sie die Geschichte ökonomisch und historisch.

In einem jüngst in der WELT AM SONNTAG erschienenen Interview halten die Redakteure Wagenknecht die Erkenntnis der Totalitarismus-Theoretikerin Hannah Arendt entgegen, „dass alle ideologisch-politischen Bewegungen einen Gedanken gemeinsam haben: Dass Freiheit weder gut noch notwendig sei für den Menschen, und dass die Freiheit der historischen Entwicklung geopfert werden müsse. Trifft das auf Marx zu?“
„Marx kam aus dem Liberalismus“
Wagenknechts Antwort: „Nein, Marx kam aus dem Liberalismus. Sein Ansatz war, dass man den liberalen Gleichheitsanspruch ökonomisch untersetzen muss, weil er sonst nicht eingelöst wird.“ Sprachlich diffus ist die Formulierung, „Marx kam aus dem Liberalismus“. Wagenknecht will Marx offenbar irgendwie mit dem Liberalismus in Verbindung bringen. Tatsache ist jedoch: Marx selbst war niemals in seinem Leben ein Liberaler und seine Theorie steht auch nicht in der Denktradition des Liberalismus. Marx entwickelte seine ökonomische Lehre gerade in Abgrenzung zu liberalen Theoretikern wie Adam Smith. Wagenknecht will offenbar sagen, dass Marx die Forderung der Liberalen nach Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz vollenden und fortführen wollte, indem durch Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln die Grundlagen für ökonomische Chancengleichheit und damit auch für die wahre politische Freiheit geschaffen werden sollten.
Marx hat den Liberalismus als politische „Überbau“-Ideologie des Kapitalismus geschmäht, sein Ziel war die Diktatur des Proletariats als Übergangsform zur klassenlosen Gesellschaft. Der Weg zum Reich der Freiheit sollte durch die Diktatur führen. Mit Liberalismus bzw. mit einer konsequenten Fortentwicklung liberaler Prinzipien, hat dies nicht das Geringste zu tun. Und es ist eben auch kein Zufall, dass in keinem einzigen der unzähligen Versuche in der Geschichte, die Marx’schen Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen, mehr Freiheit erreicht wurde, sondern dass überall – ohne Ausnahme – die politische Freiheit abgeschafft wurde. Wagenknecht, die Marx in dem Interview als „großartig tiefgründigen Wissenschaftler“ preist, glaubt, dass alle Marxisten an der Regierung bislang Marx missverstanden hätten, und nur sie ihn richtig verstehe. Vielleicht ist sie aber nur die Geisterfahrerin auf der endlosen Straße des Sozialismus, die denkt, dass alle anderen falsch fahren.
Der Kapitalismus schafft Wohlstand, nicht der Sozialstaat
Der Kapitalismus hat in den letzten 200 Jahren zu einer enormen Zurückdrängung von Armut geführt und so viel Wohlstand geschaffen, wie kein anderes System in der Weltgeschichte. Wagenknecht leugnet das: „Dass der Wohlstand der großen Mehrheit der Bevölkerung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kontinuierlich wuchs, war kein Ergebnis des Kapitalismus, sondern starker Sozialstaaten und guter Regeln am Arbeitsmarkt.“ Genau das ist nachweislich falsch.
Dort, wo der Sozialstaat am stärksten ausgebaut war, führte er in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu ökonomischer Ineffizienz, worunter gerade auch die Arbeiterschaft litt. Es gab in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zwei große Experimente mit dem „demokratischen Sozialismus“ – in Großbritannien (50er-Jahre bis zum Regierungsantritt von Thatcher 1979) und in Schweden (70er- und 80er-Jahre). Nirgendwo war der Sozialstaat zu dieser Zeit so stark ausgebaut wie in diesen beiden Ländern. Nirgendwo war der Arbeitsmarkt so stark reguliert.
Nirgendwo waren die Reichensteuern so hoch. Ein Paradies, ganz nach dem Geschmack von Sahra Wagenknecht. All das, was ihre Partei DIE LINKE fordert, war im „demokratischen Sozialismus“ in Großbritannien und Schweden idealtypisch umgesetzt. Doch beide Versuche scheiterten grandios. Durch kapitalistische Reformen, Privatisierungen, Steuersenkungen und Deregulierungen, also all das, was aus Sicht von Wagenknecht Teufelszeug ist, wurden diese Länder in den 80er- bzw. den 90-er Jahren wieder wirtschaftlich stärker. Belege finden Sie sehr ausführlich in meinem soeben erschienenen Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“.
Wagenknecht und China
Mehr Wohlstand wurde – entgegen der These von Wagenknecht – hingegen in jenen Ländern geschaffen, in denen der Einfluss des Staates zurückgedrängt und mehr Kapitalismus zugelassen wurde. Das beste Beispiel ist die Entwicklung in China in den letzten 30 Jahren, wo das Privateigentum wieder eingeführt und Stück für Stück mehr Kapitalismus implementiert wurde. In der Folge der Abkehr vom Sozialismus und der Zuwendung zu mehr Kapitalismus stiegen Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut in die Mittelschicht auf. Wagenknecht distanziert sich von China und betont: „Die Entwicklung in China hat mit Marx nichts zu tun. Das Regime nennt sich kommunistisch, aber das System ist ein staatlich gesteuerter Kapitalismus.“
Genau, (fast) richtig: Das chinesische System ist ein (staatlich zunehmend weniger gesteuerter) Kapitalismus, das umso erfolgreicher war, je mehr die Macht der Staatsbetriebe und der staatlichen Planung zurückgedrängt wurde und je mehr Raum dem Markt gelassen wurde. Der chinesische Ökonom Zhang Weiying hat diesen faszinierenden Prozess in seinem grandiosen Buch „The Logic of the Market“ beschrieben: „China’s reform startet wird an all-powerful government under the planned economy. The reason China could have sustained economic growth during the process of reform was because the government managed less and the proportion of state-owned enterprises decreased, not the other way around. It was precisely the relaxation of government control that brought about market prices, sole proprietorships, town and village enterprises, private enterprises, foreign enterprises, and other non-state-owned entities.“
Mit Marx hat dieses System in der Tat nichts mehr zu tun. Wagenknecht kritisiert in dem Interview den „Manchesterkapitalismus“ in China. Aber selbst der linke Ökonom Joseph Stiglitz muss zugeben: „In der gesamten bisherigen Geschichte ist noch kein Land so schnell gewachsen – und hat so viele Menschen aus der Armut befreit – wie China in den letzten dreißig Jahren.“ Während noch Ende der 50er-Jahre 45 Millionen Menschen in China als Folge einer durch sozialistische Experimente ausgelösten Hungersnot starben, hungert heute niemand mehr in China.
Wagenknechts ökonomische Kompetenz
Wagenknecht wird in den Medien als kompetente Ökonomin dargestellt. Aber daran sind erhebliche Zweifel erlaubt. Wagenknecht pries noch vor fünf Jahren in höchsten Tönen Venezuelas Hugo Chavéz, der den „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ verwirklichen wollte, als „großen Präsidenten“, der mit seinem ganzen Leben für den „Kampf um Gerechtigkeit und Würde“ gestanden habe. Chávez habe bewiesen, dass „ein anderes Wirtschaftsmodell möglich sei“, so Wagenknecht. Dieses „andere Wirtschaftsmodell“ von Chávez war der (vorerst) letzte in einer endlosen Reihe von Versuchen in den letzten 100 Jahren, eine Alternative zum Kapitalismus zu verwirklichen. Die Ergebnisse können wir heute bestaunen: Im erdölreichsten Land der Welt hungern die Menschen, Millionen sind schon ausgewandert und die Inflation ist so hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Und mit der politischen Freiheit ist es auch nicht mehr weit her – das Parlament wurde entmachtet, über 120 Demonstranten wurden im vergangenen Jahr erschossen. Das war das Ergebnis des von Wagenknecht gepriesenen „anderen Wirtschaftsmodells“.
Was Wagenknecht, der es um eine solche Alternative zum Kapitalismus geht, nicht verstehen will: ALLE diese Versuche sind gescheitert – ob nun der Hardcore-Sozialismus wie in der Sowjetunion, der DDR, China oder Nordkorea oder der „demokratische Sozialismus“ wie in Schweden, Großbritannien und Chile. „Nichts zeugt mehr von Dummheit, als immer wieder die gleichen Dinge zu machen und andere Ergebnisse zu erwarten“, hat Albert Einstein einmal gesagt. Da Wagenknecht zweifelsohne eine kluge Frau ist, habe ich die Hoffnung, dass auch sie irgendwann erkennt, dass der Sozialismus eben nicht eine gute Idee war, die in den letzten 100 Jahren zufälligerweise immer schlecht umgesetzt wurde, sondern dass die Idee selbst verkehrt ist. Und dass somit der Kapitalismus nicht das Problem ist, sondern die Lösung.
Mehr zur Kapitalismus-Kritik lesen Sie in Rainer Zitelmanns Buch, das am Montag erschienen ist: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung.
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315 Kommentare auf "Sahra Wagenknecht verdreht die Geschichte"
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Tolle Beschreibung des Liberalismus.
Leider wird er von den Gefälligkeitsliberalisten der FDP für die Menschen, die Ihren Kommentar o.Ä. nicht lesen, verballhornt.
Nicht zum Thema, sondern ein allgemeines Problem, das für mich seit dem Wechsel im Anbieter des Leseforums ist:
Mir gehen leider Gottes immer wieder grammatikalische Fehler und Fehler in der Rechtschreibung durch die Lappen, die ich früher korrigieren konnte. Heute bleiben sie stehen.
Mit freundlichen Grüßen
PS. Die fehlende Konzentrationsfähigkeit – liegt bei mir – , aber aufgetreten ist sie mit den fortschreitenden Jahren. Nun gut … wahrscheinlich wird die Korrekturfunktion geschlossen bleiben.
Wie erklären Sie sich die Zusammenarbeit der Nazis mit der DNVP, einer Konservativen Partei? Wieso haben die Nazis nicht mit den Kommunisten koaliert? Wieso wurden linke Organisationen direkt verboten während man sich Konservative erst nach dem Endsieg vornehmen wollte? Wieso sind bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern über 50% der NPD-Wähler (Nazis) zur AfD (rechtskonservativ) übergelaufen?
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich stecke Konservative und Nazis nicht in eine Schublade, es gibt große Unterschiede zwischen beiden. Dennoch haben Konservative mehr Gemeinsamkeiten mit Nazis als Linke.
„Hitler war zwar gegen eine „Vollsozialisierung“, weil er als Sozialdarwinist das Ausleseprinzip auch im Wettbewerb der Wirtschaft schätzte. Doch wandte er sich scharf gegen den Wirtschaftsliberalismus und wurde im Laufe der Jahre zu einem vehementen Anhänger planwirtschaftlicher Vorstellungen.“
Und genau hier haben wir die Mischform von links und rechts.
Ansonsten, Herr Zitelmann, – gute Zitate, die Ihre Sicht der Dinge belegen, – aber die Frage, meiner Meinung nach, auch nicht umfassend klären, – bzw. in summo auch nicht den Schluss zu lassen, der NS sei eine nur und eindeutig linke Ideologie gewesen.
Danke, Herr Zitelmann, – gerade auch der Verweis auf Franco zeigt ja die Problematik auf !
Nur am Rande:
Wenn es einen interessiert, kann man heute die Frage stellen, ob das, was unter Franco herrschte überhaupt ein Faschismus war. Eigentlich war das Franco-Regime einfach nur eine Militärdiktatur, – wie es danach, noch deren viele in Südamerika gab.
Und das Zitat von Hayek ist natürlich goldrichtig.
Da mögen Sie recht haben, – mit der Geschichte Portugals habe ich mich nicht so sehr beschäftigt (Das kommt vielleicht noch).
Ich danke für den Hinweis.
Ergänzend möchte ich hier Karl Popper anführen, der darauf hinwies (In „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, Band II Marx und Hegel), daß Marx selbst ja als Materialist keinesfalls die Vorstellung hatte, seine Schriften enthielten eine „Idee“. Denn so etwas wie eine „Idee“, oder einen innewohnenden „Geist“, der nur irgendwie falsch umgesetzt werden könnte, gab es für Marx überhaupt nicht.
Alle(!) sozialistischen und marxistischen System sind(!) daher für Marx der einzige(!) Marxismus, den es geben kann.
Popper hat Marx zunächst für seine scharfsinnige Analyse der zeitgenössischen Wirtschaftsentwicklungen gelobt, dessen zweiten Teil, die Planung einer zukünftigen Gesellschaftform aber kritisiert, weil die Mechanismen in einer Gesellschaft so komplex und vor allem rückgekoppelt sind, dass eine Planung über längere Zeiten unmöglich ist. Die Versuche den Zeitverlauf einer Gesellschaft in Richtung eines gegebenen Zieles zu kontrollieren, führt, wie er sagt, zu einer nicht-offenen Gesellschaft.
Marx hat jedoch seine Idee so vage und offen gelassen, dass viele Ideologen sie für sich zurechtgebogen haben.
PPS:
*Die Rote Sahra nur ein Kind ihrer Zeit!*
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..die Frage ist, *Wohin in der Republik die Reise geht*
und die ist leicht zu beantworten:
bei 61 mio Wahlberechtigten und 16 mio Nettobeitragszahlern (Heinsohn) sind die Gewichte klar verteilt – zwischen staatlich gewollter Umverteilung und marktwirtschaftlichem Handeln.
PS: Die Häutung der Altpartei CDU vom Marktwirtschaftlicher zum Umverteiler alles andere ein Zufall und nur „Merkel ist schuldig“.
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Wagenknecht behauptete auch immer Opfer des SED Regimes gewesen zu sein, bis man ihr nachweisen konnte, selbst Mitglied dieser Sekte gewesen zu sein.
Schlimmer noch sind ihre Statements zu den Verbrechen Stalins, allein aus dem Grund sollte diese Dame keine Diskusionsbasis sein.
Ach Ihr Lieben! Jetzt wird Frau W. wieder die Weltrevolution unterstellt. Wohl, um davon abzulenken, dass ihre konkreten, detaillierten Anmerkungen zu ÜBERTREIBUNGEN der aktuellen Doktrin der neoliberalen MarktwirtschaftsIDEOLOGIE und der damit einhergehende Ökonomisierung aller Bereiche graduell zu korrigiere sind. Nichtsdestotrotz hat sie m. E. Recht, was systemkonformen Korrekturbedarf betrifft Wer heutenoch behaptwt, der Markt könne ALLES regen, ist doch wie Frau Merkel und Konsorte dem Realitätsverlust anheimgefallen….
Ich stimme zu!
Aber der Markt ist ja nur das Aushängeschild und das akademische Alibi für die jetzt herrschende Form des Kapitalismus. Dahinter stecken die Machtvollen mit ihren vollmundigen Standardargumenten, die sogar bis heute noch an den Universitäten gelehrt werden.
Wagenknecht will nicht „graduell“ etwas korrigieren, sie will ein völlig anderes System, und das System heißt Sozialismus. Allein die von mir zitierte Bewunderung für das Wirtschaftskonzept von Hugo Chávez spricht doch Bände. Wissen Sie, wie viel Not, Elend und Hunger die Verwirklichung dieses Konzeptes für die Menschen in Venezuela gebracht hat?
Ich bin im Sozialismus groß geworden, eingefallene Häuser, marode Betriebe, verschmutzte Flüsse , Trabant und Wartburg. Möchte das jemand von Ihnen haben oder wiederhaben ? Manch einer im Westen braucht vielleicht dieses Erleben des Sozialismus , aber ich denke, der Ossi hat genug davon. Die Partei, die Partei, die hat immer Recht…Nein Danke.Wir haben doch jetzt schon genug Sozialismus.Seit längerem hört man Begriffe wie Kollektiv oder „in der Republik“.
In der Witschaft wird geplant wie im Osten.Ich glaube,der Kapitalismus kann besser werden, er muß besser werden, aber bitte keinen Sozialismus wieder.
Will ich auch nicht. Aber konkrete Auswüchse, zum Nachteil großer Bevölkerungsschichten, die nur wenigen dienen, müssen eingedämmt werden. Das ist alles. Wer hier von Theoretischem Über-/Unterbau spricht, hat schon die Bodenhaftung verloren. Das Leben der Menschen spielt sich nicht in geaellschaftspolitischen Theoriegebäuden ab.
In Venezuela spielen wohl noch ein paar andere Faktoren mit hinein. Die von ihr konkret angesprochenen Fehlentwicklungen sind aber hierzulande nicht von der Hand zu weisen.
Gleichheit aller Menschen existiert nicht, man kann sie deshalb auch nicht herbei reden. Jeder Mensch ist einzigartig und macht das beste aus seinem Leben, die einen mehr, die anderen weniger erfolgreich. Und überhaupt, was hat denn die Gleichheit aller Menschen mit Geld zu tun ? Geld ist doch nur bedrucktes Papier, war es nicht so ?
Es sollen ja nicht alle Menschen gleich werden. Sie sollen nur von Geburt an in etwa gleiche Chancen bekommen. Das ist doch ein Riesenunterschied, von dem Sie hier ablenken.
Gleiche Chancen für alle von Geburt an, hat natürlich mit Geld zu tun. Versuchen Sie mal ohne Geld zu studieren, wie schwer das ist. Oder ohne Beziehung zu einem Geldmächtigen einen Vorstandsposten zu erreichen, in dem Sie das Beste nicht nur aus Ihrem Leben, sondern auch aus dem Leben anderer, schlechter gestellter Menschen machen können.