Tichys Einblick
Zum Rücktritt von Annette Kurschus

Die moralinsaure evangelische Kirche frisst ihre Kinder

Annette Kurschus ist zurückgetreten. Die EKD-Ratsvorsitzende ist vor allem für moralische Absolutheit bekannt geworden: Impfpflicht in Gottesdiensten, Klimapredigten und unbedingte Migration. Ein Zwischenruf.

Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, legt ihre Ämter nieder, wie sie am Montag in Bielefeld vor Journalisten erklärte. Sie reagiert damit auf Vorwuerfe gegen sie wegen des Umgangs mit einem mutmasslichen Fall sexualisierter Gewalt in ihrem ehemaligen Kirchenkreis.

IMAGO / epd

Am Montag trat die EKD-Ratsvorsitzende und Präses von Westfalen, Annette Kurschus, von beiden Ämtern zurück. In Siegen ist in diesem Jahr eine anonyme Anzeige gegen einen mittlerweile verrenteten kirchlichen Mitarbeiter wegen des (homo)sexuellen Missbrauchs von Erwachsenen aufgegeben worden. Die Verdachtsfälle liegen mehrere Jahrzehnte zurück. Gerichtsverhandlungen haben bisher in dieser Sache noch nicht stattgefunden.

Kurschus stand niemals in einem Vorgesetztenverhältnis zu diesem verdächtigten kirchlichen Mitarbeiter, war aber mit ihm und seiner Familie befreundet. Vor 25 Jahren sollen in einem „Gartengespräch“ einige Personen im Vertrauen Frau Kurschus auf diesen Fall angesprochen haben. Heute wird ihr von kirchlicher Seite vorgeworfen, die mutmaßlichen Straftaten des Freundes vertuscht zu haben. In den letzten Tagen ist daraus ausgehend von der Siegener Zeitung eine bundesweite Medienkampagne gegen Frau Kurschus geworden. Aus meiner Sicht haben sich erstaunlich viele Amtsträger NICHT hinter Frau Kurschus gestellt, selbst wenn sie in theologischen und gesellschaftspolitischen Fragen bisher auf einer gemeinsamen Wellenlänge surften.

Annette Kurschus hatte bisher in allen ihren Ämtern die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch zur „Chefinnensache“ erklärt. Sie habe immer mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln daran gearbeitet, „dass die Wahrheit ans Licht kommt“. Umso mehr treffen sie diese Vorwürfe gegenüber einem ihrer Hauptanliegen.

Missverständnis, Vertuschung oder Unwissen?

Das Resultat des „Gartengesprächs“ umschreibt Frau Kurschus so: „Ich habe allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen.“ Selbstkritisch ergänzt sie: „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden… Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen, und so gehe ich sehr traurig, aber getrost und aufrecht.“

Kurschus möchte mit ihrer Person auf keinen Fall die kirchlichen Erfolge gefährden, die man in der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt gemeinsam mit Betroffenen in vielen Jahren errungen habe. Diesen Menschen „will ich nicht mit Schlagzeilen durch einen Verbleib im Amt schaden“.

Ihr Dienst „lebt nicht allein von dem Vertrauen, das einzelne Menschen in mich setzen. Er setzt ein öffentliches Vertrauen in meine Person voraus. Dieses Vertrauen hat Schaden genommen… In aller evangelischen Freiheit zu aktuellen gesellschaftspolitistschen Fragen pointiert Stellung zu nehmen, theologisch auch Unbequemes klar beim Namen zu nennen: All das wird mir durch die aktuelle Entwicklung künftig nicht mehr so möglich sein.“

Annette Kurschus ist über eine moralische Frage gestolpert und zu Fall gekommen. Die Weichen dafür hat sie selber gestellt, indem sie die Moral und aktuelle gesellschaftspolitische Fragen in den Mittelpunkt gestellt hat. Sie war eine Propagandistin für die Impfpflicht mit den ihrer Meinung nach „nebenwirkungsfreien“ Corona-Impfstoffen. Sie war eine Verfechterin der 2G-Apartheidsgottesdienste: „Die Impfstatusprüfung im Gottesdienst ist nötig.“ Klima ging ihr über alles. „Die Klimafrage muss zutiefst unser aller Anliegen sein. Sie gehört in die Mitte (!) unserer Gesellschaft (!), unserer Kirche (!) und unserer Gottesdienste (!).“ Sie sah sich selber als Anwältin für die Außenseiter: „Aus dem Evangelium heraus meine Stimme zu erheben für diejenigen, die sonst wenig zu Wort kommen: Dafür schlägt mein Herz.“ Ob etwa die Ungeimpften dieses Herz für die Ausgestoßenen bestätigen können, wage ich zu bezweifeln.

Wer sich selber auf so ein hohes moralisches Ross setzt, sollte sich nicht wundern, wenn er wegen eines potentiellen moralischen Fehlverhaltens gnadenlos vom Ross gestoßen wird. Für kirchliche Moralisten ist es zwingend notwendig, dass Kirchenführer in den ihn wichtigen Fragen eine porentief-reine moralische Weste haben; denn nur dann können sie dem Rest des Volkes die gewünschten moralischen Gardinenpredigten halten. Wer vor 25 Jahren als junge Pfarrerin noch nicht das Wissen über sexuellen Missbrauch hatte, das es heute gibt, der muss gehen. Der ist nicht mehr glaubwürdig. Dabei könnte Frau Kurschus doch auch mit diesem biographischen Rucksack in menschlicher Demut ein Beispiel dafür sein, wie man auch in der Frage des sexuellen Missbrauchs wachsen und reifen kann. „Wir sind Bettler, das ist wahr“, so hat es Martin Luther gesagt. Meiner Meinung nach ist mit dieser ehrlichen Bescheidenheit mehr moralische und persönliche Weiterentwicklung möglich als im Bann der Hypermoralisten.

Eine moralinsaure evangelische Kirche jedoch frisst ihre Kinder. Jetzt kann sich die polit-moralische EKD einen neuen Moralapostel wählen. Der kann dann in Zukunft weiter in aller evangelischen Zwanghaftigkeit zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen mit vermeintlich weißer Weste pointiert Stellung nehmen.

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