Die soziale Bilanz von Angela Merkel-Louis-Philippe

Wer stieg eigentlich in den vergangenen 16 Jahren auf? Wer blieb unten? Und warum werden Verteilungsfragen öffentlich so selten gestellt? Eine kleiner historischer Abriss.

imago Images

Gewählte Regierungschefs sind normalerweise keine Monarchen und umgekehrt, es gibt aber auch Ausnahmen. Louis-Philippe I., ein Wahlkönig, auch Bürgerkönig genannt, regierte Frankreich von Juli 1830 bis 1848. In seiner Jugend gehörte er zu den Anhängern der Revolution, es folgten mehrere interessante Wendungen in seinem Leben. Unter seiner Herrschaft als Bürgerkönig bildete sich eine Schicht von Profiteuren seiner Maßnahmen, die ihm dafür große Dankbarkeit zeigten. Andere profitierten weniger. Zu den bekanntesten Parolen seiner Zeit gehörte die Aufforderung seines Wirtschaftsministers: Enrichissez-vous*. Ihr folgten viele, für die der Wind damals günstig stand.

Am Ende seiner Herrschaft verstand sich Louis-Philippe als Autokrat. Für Kritik an seiner Person und den soziale Zuständen zeigte er wenig Verständnis. Die Julimonarchie in Frankreich liegt lange zurück, aber auch schon vor dieser Zeit und danach lässt sich eine Epoche immer etwas besser verstehen, wenn wir uns die Frage stellen, wer in einer bestimmten Herrschaftszeit sozial aufsteigt, und für wen sie eher ungünstig verläuft. Die 16 Jahre von Angela Merkel laufen demnächst ab. Ein guter Moment also, um zu fragen: Wer profitierte in dieser relativ langen Zeit? Für wen stand der Wind günstig? Für wen weniger? Und: wie kommt es eigentlich, dass in den wohlmeinenden Medien so viel von der Klimabilanz ihrer Amtszeit die Rede ist, und so wenig von den sozialen Klimaveränderungen?

Die folgende Geschichte handelt von Gewinnern, von verschiedenen Klassen – so etwas gibt es in Deutschland tatsächlich – , und von ausgesprochenen Pechvögeln. Der guten Laune halber beginnen wir bei den Gewinnern.

Für eine schon länger zurückliegende Recherche hatte ich in Berlin einen Unternehmer besucht, den ich hier Jeff nennen will, als freundliche Reverenz, weil er Jeff Brigdes ein wenig ähnelt. Vernünftigerweise sieht Jeff das nicht als persönliches Verdienst, anders als seine Stellung im sozialen Gefüge der Stadt. Jeff betreibt Windräder in verschiedenen Gegenden Deutschlands, einige davon auch nicht sehr weit von seinem Wohnort im Norden Berlins, aber immer noch weit genug, als dass sie Stadtbewohner belästigen könnten, andererseits wieder nah genug, um ab und zu mit dem Firmenwagen dorthin zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Bei dem Firmenauto handelt es sich um einen Tesla, Listenpreis etwas über 100.000 Euro. Für einen Tesla und andere Elektrofahrzeuge reicht der Staat bekanntlich Kaufprämien aus, auch an Begüterte, die sich den Wagen theoretisch komplett von eigenem Geld leisten könnten. Als firmeneigenes Gefährt verbilligt er sich dann steuerlich noch einmal beträchtlich.

Jeff verdient sein Geld mit Windkraftanlagen, für deren Strom es dank Erneuerbare-Energien-Gesetz eine Abnahmegarantie zu einem staatlich festgelegten Tarif gibt, der über dem Marktpreis liegt. Das ist vorteilhaft, denn der Börsen-Strompreis liegt an vielen Tagen bei Null, an etlichen Tagen auch im Negativbereich. Auch deswegen, weil unter den Bedingungen staatlicher Abnahme- und Preisregulierung viele Leute wie Jeff in Deutschland in Windräder investierten, von denen sich mittlerweile gut 33.000 an Land drehen. An sehr windigen Tagen reicht die Leitungskapazität nicht aus, um die Elektroenergie aufzunehmen, die sie rechnerisch erzeugen könnten. Für diese theoretisch erzeugbaren, aber nicht eingespeisten Kilowattstunden gibt es trotzdem Geld.

Als sogenannte Ausfallarbeit findet sich der Posten als einer von vielen in der Netzgebührenrechnung wieder, die jeder Stromkunde zahlt. Das, was Jeff als staatlich abgesicherter Windkraftbetreiber erlöst, bezahlen also Stromverbraucher in Gestalt einer steuerähnlichen Abgabe. Seinen Tesla finanzieren die Steuerbürger zumindest zu Teilen. Jeff bewohnt eine Art Penthouse in einem Stadtviertel, dessen Gentrifizierung vor fünfzehn Jahren abgeschlossen wurde. Sozialneid liegt mir fern. Seine Arbeitstage sind lang, sie erfordern Detailkenntnis und Geschick. Um Rendite zu ernten, investiert er große Summen, wenn auch mit einem geringen Risiko.

Damals erzählte er mir ausführlich, wie schwer es mittlerweile sei, neue Standorte für Windräder zu finden, wie bürokratisch das Registrierungsverfahren bei der Bundesnetzagentur; die Vergütungen für Windkraft seien mittlerweile auch deutlich geringer als vor einigen Jahren. Gegen fast jedes neue Windrad gebe es heute Klagen.

Trotzdem geht es ihm nicht schlecht.

Mit seinem Penthouse zählt Jeff zu den 15 Prozent Wohnungseigentümern in der Mieterstadt Berlin. Möglicherweise gehören ihm noch weitere beizeiten erworbene Immobilien in Berlin. Das würde jedenfalls gut zu seinem Blick für Gelegenheiten passen. Grundsätzlich gilt zwar: Was hat ein Münchner, was ein Berliner nicht hat? Eine Eigentumswohnung in Berlin. Aber ein paar Vermieter gibt es auch in der Hauptstadt. Und selbst, wenn sich sein Eigentum nur auf die selbstbewohnten Quadratmeter erstreckt, profitiert er auch hier von politischen Entscheidungen.

Der vor einigen Tagen eingestürzte Mietendeckel der rot-rot-grünen Stadtregierung hatte flüchtige Spuren auf den Konten vieler Bewohner von Innenstadtvierteln hinterlassen, die sich jetzt in Mietrückstände beziehungsweise Schulden in vierstelliger Höhe verwandeln, aber auch eine lang anhaltende Wirkung auf den Markt. Schon die Ankündigung des Mietendeckels, der Mietendeckel selbst und dann die Ankündigung, das sei nur ein Zwischenschritt (“erste deckeln, dann enteignen“) sorgte – neben der üblichen Berliner Bauverhinderungspolitik im Einzelnen – für einen Einbruch des Wohnungsbaus in Berlin. Vor weniger Tagen meldeten Hauptstadtzeitungen für 2020 den vierten Rückgang der jährlichen Fertigstellungszahlen.

Aus dem unveränderten Zuzugsdruck bei stark gedrosseltem Angebot folgt eine automatische Wertsteigerung für alle Bestandsimmobilien, also auch für die von Jeff. Im Jahr 2020, dem Jahr des noch existierenden Mietendeckels, erreichten die Wohnungen in Mitte zum ersten Mal Spitzenpreise von mehr als 8.000 Euro pro Quadratmeter, in zentralen Vierteln immerhin über 7.000. Sein Wohlstand wächst auch also auch hier, ohne dass er dafür etwas riskieren müsste. Sollte er Vermieter von ehemals gedeckelten Wohnungen sein, deren Miete sich etwa im Fall des ZEIT-Redakteurs Christian Bangel von 20 auf 9 Euro Quadratmeter reduzierte, allerdings eben vorübergehend, da alle Sozialismen irgendwann zu Ende gehen, dann muss sich Jeff nicht unbedingt darum kümmern, die Rückstände einzutreiben. Der Berliner Senat kündigte schon an, einen steuergeldgespeisten Notfallfonds zu bilden, und zwar für – nein, nicht direkt für die Vermieter -, sondern für die finanziell nicht ganz so gut organisierten Mietschuldner, die das Geld dann an ihren Wohnungseigentümer weiterreichen.

Nun würde Jeff wahrscheinlich darauf hinweisen, dass er auch sehr viele Steuern zahlt und die Kassen füllt. Das stimmt; nur zahlen auch viele andere Steuern, von der Supermarktkassiererin bis zum eigentumslosen ZEIT-Redakteur. Aber nur wenige verstehen es, ihre wirtschaftliche Existenz so zu optimieren, dass sie auch sehr viel aus den diversen Umverteilungskassen zurückbekommen.

Merkwürdigerweise tauchen Grünstromunternehmer wie Jeff in den Wut-Tweets von ZEIT-Redakteuren in der Ära des Mietendeckels nicht auf, obwohl sie, was Risikofreiheit angeht, den gewöhnlichen Vermieter noch übertreffen. Der muss sich hin und wieder über Mietnomaden ärgern und Messiewohnungen räumen, als gesellschaftliches Feindbild von der ZEIT-Redaktion bis zu Saskia Esken gilt er außerdem.

Das Image des Windradbetreibers befindet sich in diesen Kreisen am entgegengesetzten Ende der Sympathieskala. Und er bekommt, siehe oben, für nicht nachgefragten, ja selbst für nicht eingespeisten Strom zuverlässig seine Vergütung über Marktniveau. Noch leichter geht das Geldverdienen nur für die Eigentümer der richtig gelegenen Grundstücke, die selbst gar nichts investieren, sondern nur den Vertrag unterschreiben müssen, um auf 20 Jahre zwischen 40.000 bis 100.000 Euro Pacht pro Jahr und Anlage zu kassieren. Die Pacht wiederum fällt so hoch aus und wird trotzdem anstandslos gezahlt, weil der Staat die Einspeisevergütungen des Pächters auf 20 Jahre garantiert. Viele Besitzer saurer Wiesen können es unter diesen Umständen gar nicht vermeiden, Millionäre zu werden.

Unsere real existierende Modellfigur Jeff gehört zu einem Milieu, das in den vergangenen Jahren Weltrettung und Wohlstand elegant miteinander verbinden konnte. Ihr Grundstock, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, stammt zwar noch aus der Schröder-Ära. Aber Angela Merkel perfektionierte in 16 Jahren das System, sie baute es aus und raunte Leuten wie Jeff diskret, aber für die Adressaten gut hörbar ihr Enrichissez-vous zu. Die CDU-Kanzlerin ist für Jeffs Schicht, was Louis Philippe in den 1830er Jahren für seine Nouveaux Riches darstellte – Symbolfigur und bereichernde Hand.

Bei praktisch jeder sozialen Dynamik, die sie in Gang setzte, handelte und handelt es sich um eine Umverteilung von unten nach oben. Die Chronik beginnt mit der mit der Wind- und Solarstrom-Umlage, die auch von Geringverdienern gezahlt werden muss; eigentlich sollte das System wenigstens für alte Anlagen nach 20 Jahren enden, die Unions-SPD-Koalition setzte kürzlich eine Verlängerung durch. Sie setzt sich fort mit den Kaufprämien für Elektrowagen, die nicht selten in den besseren Vierteln als Zweitwagen neben einem Verbrenner stehen. Auch die sogenannte Respektrente, das Wunschprojekt der SPD, folgt diesem eingespielten Muster: sie bereichert meist die ohnehin Privilegierten. Würde jemand wie Jeff seine ansonsten selbständige Ehefrau als geringfügig Beschäftigte in seiner Firma anstellen, dann käme später ein stattlicher Rentenaufschlag heraus.

Für den mittleren und unteren Teil der Gesellschaft stellt sich die Bilanz nach 16 Jahren Merkel weniger günstig dar. In der Steuer- und Abgabenbelastung liegt Deutschland im Jahr 2021 an der Spitze der OECD-Länder, die Bundesrepublik verdrängte 2020 den Europäischen Steuermeister Belgien auf Platz zwei. Nicht nur, was die reine Höhe angeht, sondern auch in die Lastverteilung. Diejenigen, die ein mittleres Einkommen erzielen, tragen gut 27 Prozent zum Steueraufkommen bei, mehr als irgendwo sonst in Europa. Weil der Staat schon ab einem Freibetrag von 9.744 Euro pro Jahr zugreift und seinen Tarif schnell steigert, bleibt schon von bescheidenen Einkommen ein noch bescheideneres Netto. Dazu kommen wegen des Umverteilungssystems, das Jeff wohlhabend machte, die höchsten Strompreise Europas, die wiederum den ärmeren Haushalten überproportional viel Geld nehmen. Anders als in allen anderen Industrieländern erhöhte die Bundesregierung außerdem trotz der Corona-Rezession die CO2-Steuern auf den ohnehin schon teuren Strom, aber auch auf Gas und Mineralöl, was der Inflation bei Nullzinsen noch einmal einen kleinen Schub versetzt.

Die Nullzinsen treiben auch zuverlässig die Immobilienpreise und damit die Mieten nach oben, wobei zum Zins von Null noch die Flächenverknappung kommen, und Energiesparauflagen, die das Bauen immer teurer machen.

Dazu noch der stete Nachfragedruck durch gut zwei Millionen Asylzuwanderer seit 2015, zu denen pro Jahr gut 100.000 neue kommen. Und obendrein gibt es eben noch regionale Besonderheiten wie den Mietendeckel, den Rot-Rot-Grün jetzt bundesweit zu setzen wünscht.

Nach Berechnungen des Wirtschaftshistoriker Moritz Schularick zahlen die ärmsten 20 Prozent der deutschen Haushalte mittlerweile fast 40 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen. Im Jahr 1993 lag dieser Anteil noch bei 23 Prozent. Schon die Nettolöhne bewegten sich in der Ära Merkel nur geringfügig nach oben, von 1.524 Euro auf 2.084 Euro pro Monat und Beschäftigtem. Die Reallöhne kamen praktisch nicht von der Stelle. Im Jahr 2020 sanken sie, vor allem Corona bedingt, um 1,1 Prozent. Aber eben nur in dem berühmten Schnitt. Für öffentliche Beschäftigte und Angestellte öffentlich-rechtlicher Sender etwa änderte sich nichts. Für Jeff auch nichts, dank stabiler Einspeisevergütungen. Für Kurzarbeiter fiel der Einkommensverlust entsprechend größer aus. Für Selbständige in den falschen Branchen auch. Dank hoher Energiepreise und steigender Mieten dürfte die Kaufkraft für viele unterhalb der Jeff-Klasse also deutlich gesunken sein.

Wo andere aufsteigen, bewegen sich die Bürger der mittleren und unteren Etagen im Kreis: Einerseits können sie kaum etwas beiseitelegen, andererseits ziehen ihnen die Immobilienpreise davon. Was wiederum dazu führt, dass das Netto-Medianvermögen der Deutschen laut Erhebung der Credite Suisse 2020 gerade 61.000 Euro pro Erwachsenen beträgt, bei einem EU-Durchschnitt für das Medianvermögen von 100.000 Euro. Italiener und Franzosen, deren Länder von dem jüngsten 750-Milliarden-Euro-Umverteilungspaket stark profitieren, liegen darüber.

Alle von Angela Merkel-Louis-Philippe verfeinerten und neu in Gang gesetzten Maßnahmen folgen dem Prinzip, die jeweiligen Härten und Kosten an die soziale und räumliche Peripherie zu schieben. Windräder entstehen weit draußen und senken die Hauspreise der Anwohner anderswo, während sie dort steigen, wo die Jeffs leben. Asylbewerberheime entstehen zuverlässig am Stadtrand oder gleich außerhalb der Städte. Im Norden Berlins, nicht soweit draußen wie die ersten Windräder, aber ziemlich am Rand, in einer Gegend, die zu 60 Prozent rot-rot-grün wählt, errichtete der Senat ausnahmsweise eines dieser Heime, gegen die ein Anwohnerpaar erfolglos klagte. Ein Pankower Linken-Lokalpolitiker sagte darauf den schönen, emblematischen Satz: „Heute gehören Sie nicht zu den Gewinnern.“ Noch weiter draußen schafft sich mit dem Wolf ein Naturzuzügler seine Reviere und im staatlichen Wolfsmanagement Arbeitsplätze.

Nicht ganz so weit draußen, in den Mietwohnungsvierteln außerhalb des Zentrums, aber noch weit vor der Landhauszone der Bessergestellten, dort stieg der soziale Druck vor allem in den letzten sechs Merkeljahren, und er steigt immer noch, wenn auch kaum wahrgenommen von den wohlmeinenden Medien. Prekär Beschäftigte zahlen hier relativ hohe Steuern und hohe Energiekosten, konkurrieren mit vielen Zuzüglern um Wohnraum, ihre Kinder besuchen schlechte staatliche Schulen, für ein Elektrowagen reicht es hier trotz aller Kaufsubventionen nicht, und ein Ehepartner, der eine Boutique betreibt und gleichzeitig als Angestellter bei der Firma der anderen Ehehälfte die Altersbezüge mit einem kleinen formalen Kniff aufbessern könnte, gehört hier ebenfalls nicht zum Sittenbild. Zu ihrem Unglück verscherzen sich die Bewohner solcher Quartiere auch noch eine bessere politische und mediale Behandlung, indem sie die Falschen beziehungsweise nicht ausreichend die Richtigen wählen, Discounterfleisch essen und kein ZEIT-Abo unterhalten.

Würden beispielsweise Heime für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf dem Kollwitz- und Helmholzplatz im Prenzlauer Berg errichtet, dazu Windräder im Volkspark Friedrichshain, und würden Wölfe im Tiergarten ausgewildert, dann gäbe es ziemlich schlagartig eine andere Debatte. Zumindest mit der großstädtisch-grünen Wolfsromantik wäre von jetzt auf gleich Schluss.

Aber, um mit Bertolt Brecht zu sprechen: die Verhältnisse sind nicht so.
In den Merkel-Jahren ist neben denjenigen, den es durch Unternehmertum oder Erbschaften traditionell gut geht, eine zusätzliche Schicht von Leuten gewachsen, für deren Wohlstandsmehrung der Wind günstig stand. Und gleich darunter eine zweite Schicht, für die es durch politische Entscheidungen zwar nicht unbedingt zum echten Vermögensaufbau reichte, aber für gute Einkommen jenseits des Marktes. Dazu gehören beispielsweise die Mitarbeiter der Amadeu-Antonio-Stiftung:

Zu Beginn der Ära Merkel war der von einer früheren Stasi-Zuträgerin gegründete Verein eine kleine und verhältnismäßig unbekannte Organisation. Heute ein diversifizierter Meinungs- und Publikationskonzern mit eigenem Forschungsinstitut in Jena und einem eigenen Medium, dessen Name ein wenig an eine religiöse Schriftenreihe erinnert. Die im Jahr 2019 mit fast einer Million Euro aus Bundesmitteln bedachte Stiftung stößt in bemerkenswerter Frequenz Studien und Broschüren aus, die teils vor Fake News warnen, teils Fake News enthalten, etwa die Behauptung, die mehr als 600.000 Asylbewerber des Jahres 2015 würden alle aus Syrien stammen. Der von der Bundesregierung finanzierte Lobbyverein „Neue Deutsche Medienmacher“ wuchs noch ein bisschen schneller; 2019 bekam die Organisation identitätslinker Journalisten und Aktivisten 1.550.000 Euro. Im Jahr 2020 flossen allein 191.896 Euro für das überwiegend von den NDM koordinierte Projekt „No Hate Speech“. Die in Sachen Hate Speech nicht unerfahrene Vorsitzende der NDM Ferda Ataman verbreitete 2020 das Corona-Gerücht, wenn Beatmungsgeräte in Krankenhäusern knapp würden, werde es eine Benachteiligung von Migranten geben.

Das nächste große Projekt der Medienmacher, das verkündete die Förderin Angela Merkel kürzlich gleich selbst, besteht darin, dass ihre Aktivisten Presseverlage in der Personalpolitik beraten. Vermutlich war der Kanzlerin in einer Pause zwischen Impfstoffbeschaffung und EU-Rettungspakt aufgefallen, dass auf diesem Gebiet der Mitarbeiterentwicklung in Medienhäusern bisher völliger Wildwuchs herrschte. Und der ist ihr bekanntlich ein Gräuel.

Daneben gibt es noch das Bündnis „Decolonize Berlin“ („Berlin übernimmt Verantwortung für seine koloniale Vergangenheit“) mit einem Jahresetat von 250.000 Euro aus der Landeskasse, und wiederum daneben eine kaum überschaubare Fülle an Vereinen, Bündnissen, Räten und Aktionen, auf die sich die Demokratieförderungs-Milliarde der Bundesregierung verteilt. Zwar heißt es in den einschlägigen Broschüren der einschlägigen Organisationen immer wieder, besonders wichtig sei der regierungsfinanzierte Kampf für die Zivilgesellschaft in der Provinz, namentlich in der ostdeutschen. Aber geführt wird diese Schlacht dann doch eher aus den frisch dekolonisierten Großstadtquartieren. Wer also von der Universität kommt und kein IT- oder Maschinenbau-Diplom mitbringt, sondern den Abschluss in irgendeiner Transformationslehre, der muss in die Metropolen. Am besten natürlich nach Berlin. Was die Mietpreise dort noch ein bisschen schneller nach oben treibt.

Ganz nebenbei, sehr, sehr schlecht sähe es für diese Gesellschaftsmitglieder übrigens erst aus, wenn die mobilen Pharmazeuten aus dem Görlitzer Park auf den Trichter kämen, Geld und Posten der Entkolonisierungsworkshops oder Jobs in der ZEIT-Redaktion mit Hinweis auf ihre Herkunft und Hautfarbe für sich zu verlangen, und die Frage nach den akademischen Abschlüssen mit der Feststellung beiseitezuwischen, dass sie einen frischen, unverstellten Blick mitbringen. Was das ökonomische Gespür angeht, stimmt das sogar. Sie kennen nur das Zauberwort und überhaupt die ganze Zaubersprache nicht, die ihnen die staatlichen Schatullen aufschließen würden. Ansonsten sähe es, wie gesagt, sehr schlecht für die anderen aus. Die Plätze könnten beide Gruppen ja nicht so ohne weiteres tauschen. Für eine Arbeit als Selbstständiger an flexiblen Orten und zu flexiblen Zeiten in Berliner Parks bei Wind und Wetter eignet sich nun mal nicht jeder. Und wie ein chinesisches Sprichwort sagt: wer nicht lächeln kann, sollte keinen Laden eröffnen. Auch keinen ohne Postadresse und Registrierkasse. Aber das, wie gesagt, nur ganz am Rand.

Jedenfalls macht auch die Aktivisten- und Beauftragtenbranche, die unter Merkel blühte wie der Barock unter August dem Starken, wiederum die Jeff-Klasse der großstädtischen Immobilieneigner noch ein bisschen wohlhabender und die Steuerzahler an der Peripherie ein bisschen ärmer. An dieser Stelle will ich einen neuen rechten Verschwörungs- und Hetztopos einflechten: Würde die Bundesregierung die oben genannte Milliarde dafür ausgeben, den Verfall der öffentlichen Infrastruktur wenigstens zu bremsen, wäre das wahrscheinlich sogar eine wirksame Demokratieförderung.

Und das Geld würde obendrein in materielle Wertschöpfung fließen.
Nahezu alle gesellschaftlichen Themen münden irgendwann in Verteilungsfragen. Und Macht besteht darin, die Verteilung vornehmen und die Frage dazu unterdrücken zu können.

Der Mietendeckel in Berlin stellt nichts anderes dar als die konsequente Fortsetzung und Weiterentwicklung des merkelschen Enrichissez-vous. Seine Neuerung besteht nur darin, das Geld nicht mehr über die Staatskasse oder die Bundesnetzagentur zu leiten, sondern Mieter begehrter Stadtteile dazu anzuhalten, ihren Vermieter zur Mitfinanzierung der Lebenshaltungskosten heranzuziehen. Bekanntlich bevorteilte der Mietendeckel nur geringfügig oder gar nicht die Bewohner der prekären Randzonen, sie hatten also wieder Pech wie schon in all den vergangenen Jahren. Der Mietendeckel befähigte stattdessen die junge Parteiangestellte in Erfurt, noch einen Unterstellplatz für ihren Koffer in Berlin zu behalten, sie halbierte die Miete des ZEIT-Redakteurs Christian Bangel in Berlin und die von vielen NGO-Mitarbeitern, Zivilgesellschaftlern und Politikberatern in den nicht so randständigen Stadtvierteln.

Und jetzt, siehe oben, zahlen die, die notorisch Pech haben, in die staatliche Hilfskasse für Opfer des gescheiterten Mietendeckels, also der Bangel-Klasse, sie helfen damit auch der Jeff-Klasse, die natürlich nicht so herzlos ist, einen „Eure Armut kotzt uns an“-Sticker auf das Heck ihrer Teslas zu pappen. Dort steht: „FCK Nazis“.

Jetzt sehen Sie wahrscheinlich auch die übergeordnete Sinnebene all der Umverteilungsströme und sozialen Dynamiken, und Sie können Angela Merkel Louis-Pilippe die Bewunderung für dieses Gesamtwerk wahrscheinlich nicht verweigern. Wäre ich ein Angehöriger der Jeff- oder auch der Bangel-Klasse, dann würde ich mit aller Kraft identitätspolitsche Fragen klären, über Diversity, Gender und Hautfarbenschattierungen sprechen, über Quoten und die Dekolonisierung von Kreuzberg-Friedrichshain, denn jeder Tweet dazu, jeder Zeitungsartikel, jede Broschüre und jede Aktivistenkonferenz zu diesen Themen hilft, die soziale Frage weiter zu verdrängen. Wer sie verdrängen will, muss ihr den öffentlichen Raum nehmen. Und er muss diejenigen, die in den letzten Jahren immer so viel Pech hatten, präventiv als strukturelle Rassisten und überhaupt als strukturelle irgendwas anklagen, am besten pausenlos, bevor sie auf die Idee kommen, sich zu beschweren. Jeder Euro, den Angela Merkel den Neuen Deutschen Medienmachern und anderen Herstellern schicker Verblendungszusammenhänge zusteckt, hilft nicht nur ihren Schützlingen, sondern stabilisiert auch die aufmerksamkeitsökonomischen Verhältnisse. So ungefähr lautet auch der Befund in Sarah Wagenknechts neuestem Buch.   Deswegen wird die Linken-Politikerin in ihrem Milieu noch heftiger gehasst wird als jeder Schauspieler, der über die Regierung spottet, und erst Recht als jeder Autor des sozialen Realismus, etwa der Verfasser dieses Textes. Denn bei Wagenknecht handelt es sich um eine Verräterin von politischen Betriebsgeheimnissen. So etwas ist nie hilfreich.

Merkels größte Leistung in 16 Jahren Kanzlerschaft bestand und besteht immer noch in der Umverteilung von viel Geld, aber noch viel mehr in der Umverteilung von Aufmerksamkeit. Sie schaffte es, diejenigen, die in ihren Regierungsjahren so viel Pech hatten, praktisch stummzuschalten und unsichtbar zu machen. Nicht allein natürlich, sondern mit Hilfe von vielen alten und neuen Medien- und Muntermachern. Ihr hilft es ungemein, dass sich die politische Linke, von ein paar Dissidenten abgesehen, von sozialen Themen einfach verabschiedet hat.

Der beeindruckende Erfolg lässt sich auch daran ablesen, dass es in weiten Teilen der deutschen Funktionselite als Skandal gilt, wenn 53 Schauspieler die Blindheit der Regierung für Kollateralschäden der Corona-Maßnahmen kritisieren. Und als Nichtskandal, dass die Schulausfälle, die Verlust durch schlecht organisierten Distanzunterricht sich dauerhaft in die Bildungsbiografien von Kindern ärmerer Leute einbrennen werden, also bei den Pechvögeln, die als Eltern nicht selbst Nachhilfeunterricht geben und auch keinen Privatlehrer engagieren können. Das eine ist, um eine politisch klug positionierte Schauspielerin zu zitieren, „unfuckingfassbar“. Das andere bedauerlich, gewiss, aber es betrifft andere Leute. Beziehungsweise, wie es Angela Merkel ausdrücken würde, „uns alle“. „Un-fuk-king-fass-bar“ könnte eine Art Signalwort für die Spätzeit von Merkel-Louis-Philippe werden, ausgesprochen im nasalen Tonfall einer progressiven deutschen Talkshowteilnehmerin.

Da vorhin das Stichwort der ausgeplauderten Betriebsgeheimnisse fiel: Vor kurzem sprach die Grünen-Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl im Bundestag davon, dass die Energieversorgung der Zukunft – auch sie aufs Gleis gesetzt von Angela Merkel – „flexibel und spannend” werde. Je weniger flexibel, können wir hinzufügen, desto spannender. Auch hier verteilen sich die Chancen wieder sehr ungleich. Elon Musk wie gerade auf Twitter auf die Unabhängigkeit von Leuten hin, die einen Solarkollektor auf dem Dach ihrer Eigentumsimmobilie betreiben, eine Wallbox besitzen, und natürlich eine leistungsfähige Batterie dazwischen.

Als Fuchs, der Elon Musk nun einmal ist, sieht er wahrscheinlich einen großen Markt für Batterien in Deutschland voraus, die sich spätestens nach dem ersten großen flächendeckenden Stromausfall jeder in die Wohnung stellen möchte, der sich die Anschaffung leisten kann.

Notfalls wird Jeff die Batterie seines Tesla anzapfen, um die spannende Zeit zu überbrücken. Sein Geschäft dürfte auch nach einem Blackout unverändert weiterlaufen. Für die Bangel-Klasse gestaltet sich ein flächendeckender Stromausfall wahrscheinlich spannender. Den Angehörigen dieser Schicht fehlt es oft an der Fähigkeit, für Wechselfälle vorzuplanen, was wir unter anderem an der dort verbreiteten Überraschung über das Scheitern des Mietendeckels und die Nachzahlungen sehen. Aber, und das zählt am Ende: Auch nach einem Blackout werden viele Medienjobs nach da sein, die steuergeldfinanzierte Dekolonisierung wird genau so weitergehen wie das nächste Beratungsprojekt der „Neuen Deutschen Medienmacher“.

Ernsthaft Pech hätten nur, Sie ahnen es schon, unsere notorischen Pechvögel. Erst fehlt ihnen schon das Geld, um sich eine Notfallbatterie anzuschaffen, so, wie ihnen schon Anfang der nuller Jahre das Kapital für den Immobilienerwerb fehlte und jetzt das Geld für den Nachhilfeunterricht für ihre Kinder. Und wenn es schlecht läuft, verdienten sie vor dem Blackout Geld in einem Unternehmen, das sich danach entscheidet, seinen Sitz in ein Land mit günstigeren Steuersätzen und sicherer Energieversorgung zu verlagern.

Sollte das so kommen, dann hätten die Kommentatoren, Politikberater, Broschürenhersteller und Faktenchecker sogar Hochkonjunktur und alle Hände voll zu tun. Denn dann müssten sie unseren Pechvögeln mit doppeltem und dreifachem Nachdruck beibringen, dass sie jetzt bloß nicht den Populisten nachlaufen und den Verschwörungserzählungen glauben dürfen. Der Verschwörungserzählung nämlich, sie, die Pechvögel, würden strukturell diskriminiert.

Ihnen kann der Satz gar nicht oft genug um die Ohren geschlagen werden: Checke deine Privilegien.


* Dem Autor ist bewusst, dass François Guizots Anhänger später darauf bestanden, der Minister habe gesagt : „Enrichissez-vous par le travail, par l’épargne et la probité.“ („Bereichert euch durch Arbeit, durch Sparsamkeit und durch Redlichkeit.“)

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Kommentare ( 63 )

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Kaenguru
2 Jahre her

Dazu dieser neue Film von Imad Karim:
https://m.youtube.com/watch?v=onkgPTPnNPc
Ein Meisterwerk.

Tizian
2 Jahre her

Sehr interessant, vielen Dank dafür! Ich hatte mich auch schon immer gewundert, was die hierzulande gesichteten oder getöteten Tiere gar nicht wie richtige Wölfe aussahen. Mit dem Kojoten haben Sie sicher vollkommen recht, an diese Tiere erinnerten diese klar mehr. Aber wenn der „Wolfexperte“ stock und steif behauptet, dieser Kojote sein ein Wolf, dann glaubt man das ja durchaus zunächst. 😉 Also, nochmals danke!

Maja Schneider
2 Jahre her

Danke für diese hervorragende und fundierte Analyse, Frau Merkel und die Ihren dürften not amused sein!

niezeit
2 Jahre her

Herrliches Sittengemälde in Schrift.

klaus riedel
2 Jahre her

Leider werden die meisten „Pechvögel“ das nicht erfahren, nur die wenigsten von ihnen dürften TE lesen. Ja sozialistische Politik ist kluge Politik: Arme Menschen wählen sozialistsiche Parteien und Sozialismus schafft Armut – sich also seine Wähler.

binweitweg
2 Jahre her

Herzlichen Dank Herr Wendt für diesen wiederum „un-fucking-fassbaren“ Text, der mir ein Lächeln und ein Staunen ins Gesicht getrieben hat.
Ein „Tsunami“ von wohldurchdachten und nachvollziehbaren Fakten zum Zustand der Republik. Leider haben derartige Artikel eben auch den Nachteil, daß man als halbwegs intelligentes Wesen eben auch damit leben muß,die Konsequenzen für die Zukunft des Landes- als auch persönlich – gnadenlos zur Kenntnis nehmen zu müssen.Wir leben in einer bleiernen Zeit mit zu wenig Menschen, die diese Katastrophe noch verhindern könnten und sich lieber dem Untergang hingeben.Letztendlich die letzten Atemzüge einer zutiefst dekadenten Gesellschaft.

Kaenguru
2 Jahre her

Super!
„Verblendungszusammenhänge“
Volltreffer und versenkt.

Sidetrack
2 Jahre her

Großartig, Herr Wendt.

In einem Follow-Up könnten Sie vielleicht mal genau beleuchten, wie diese Karrieren von linken Biotops-Medienschaffenden, NGOlern, Vereinsfunktionären etc. praktisch verlaufen. Wie schaffen es diese Leute ihr Leben so auf das System einzustellen, um alle Vorteile abzuschöpfen.

Daneben wäre auch mal das Thema „Soloselbstständige“ im Kultur- und Sozialbereich interessant.
Wer sind sie, was machen sie genau, warum lassen sie sich nicht anstellen?

Und wie man munkelt glühten ja zum Beginn der Pandemie die Telefondrähte im Kiez, wo sich SoloS oder kleinere Unternehmen angeblich untereinander die Rechnungen ausgestellt haben sollen die sie als Nachweise für Corona Soforthilfen vorlegen mussten.

Last edited 2 Jahre her by Sidetrack
AngelinaClooney
2 Jahre her

Hervorragender Beitrag! Vielen Dank dafür.

free_your_mind
2 Jahre her

Danke Herr Wendt! So passen auch die offensichtlich unterlassenen Überlegungen zur geplanten Osterruhe am Gründonnerstag ins Bild. Viele Menschen haben Mühe, ihr geringes finanzielles Budget über den Monat zu strecken. Sie kaufen dann zu Monatsbeginn die notwendigen Lebensmittel, weil dann wieder Geld verfügbar ist. Diese Erkenntnis hat es offensichtlich nicht in die Hirne der Entscheidungsträger geschafft, bzw. die Betroffenen waren ihnen völlig egal. Sonst hätte kaum jemand einen Vorschlag, am 01.04. und die darauffolgenden Feiertage alles dicht zu machen, über die Lippen gebracht.