Die Reichen und die Armen

In der bürokratischen Fachsprache würde das Märchen von „Hänsel und Gretel“ so beginnen: „Vor einem großen Walde lebte ein einkommensschwacher Holzhacker, der hatte weniger als sechzig Prozent des Medianeinkommens“.

Getty Images

Millionäre gelten als „reich“ und Angehörige eines exklusiven Clubs, zu dem Normalsterbliche keinen Zutritt haben. Für Einkommensmillionäre mag das zutreffen. Bei Euro-Millionären, die mit Familienangehörigen mehr als eine Million Personen zählen, ist die Exklusivität aber sehr gelockert, und im Falle von Immobilienmillionären kann die Grenze zwischen „arm“ und „reich“ verschwimmen.

I

„Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr“, heißt es in der Bibel, „als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“. In Deutschland gelangt der Reiche auch nicht an die Spitze der Christlich Demokratischen Union, wie die Nichtwahl des „Millionärs“ Friedrich Merz zum CDU-Vorsitzenden auf dem Parteitag am 7. Dezember in Hamburg zeigt. Dabei ist Merz gar nicht „unermesslich reich“; er verdient nach eigenen Angaben derzeit jährlich „rund eine Million Euro brutto“ und zählt damit ‒ wie ein guter Fußballprofi ‒ zu den Einkommensmillionären.

Die Unwahrheit aufzeigen
Arbeit am Mythos von Merkels goldenen Zeiten
Nun können Einkommen, vor allem hohe, stark schwanken: Als Bundestagsabgeordneter (1994-2009) verdiente Friedrich Merz noch nicht jährlich eine Million, und als Parteivorsitzender hätte er dieses Einkommen nicht mehr erzielt. Stabiler für die Eigenschaft „Millionär“ ist das verfügbare Geldvermögen (in bar, Gold oder Wertpapieren, aber ohne selbstgenutzte Immobilie). Ob Merz auch zu denen zählt, die mindestens eine Million Euro „flüssig“ haben, wissen wir nicht; falls ja, wäre er in Deutschland nur einer von vielen Euro-Millionären, nämlich 600.000 bis 700.000. Das sind gut ein Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Wäre „Millionär“ ein Beruf, so würden in diesem Bereich fast ebenso viele Leute arbeiten wie in der Landwirtschaft.

Millionäre gelten als „reich“ und Angehörige eines exklusiven Clubs, zu dem Normalsterbliche keinen Zutritt haben. Für Einkommensmillionäre ‒ in Deutschland (Steuerstatistik 2014) rund 19 000 ‒ mag das zutreffen. Bei Euro-Millionären, die mit Familienangehörigen mehr als eine Million Personen zählen, ist die Exklusivität aber sehr gelockert, und im Falle von Immobilienmillionären kann die Grenze zwischen „arm“ und „reich“ verschwimmen: In Ballungszentren wie München, Frankfurt oder Hamburg sind Einfamilienhäuser durchaus über 1 Million Euro wert, ihre Besitzer haben aber häufig nur ein Durchschnittseinkommen oder liegen sogar unter der statistischen „Armutsgrenze“ (2018 für Alleinstehende 781 € netto, für Ehepaare 1.171 €). Die Witwe, die mit einer Kleinrente im eigenen Haus am Starnberger See lebt, ist also gleichzeitig „reich“ (Immobilienmillionärin) und „arm“ (Nettoeinkommen). Was sprachlich klar erscheint ‒ arm ist der Gegensatz zu reich ‒ wird in der heutigen sozialen Wirklichkeit diffus.

II

Politische Botschaften sollen sprachlich „klare Ansagen“ sein, und das Wortpaar arm ‒ reich bietet sich dafür an: Es gehört zum Grundwortschatz und wird von jedem Kind verstanden. Aber was bedeutet es?

In den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm (1812) treten die Reichen und die Armen in vielen Geschichten auf. „Hänsel und Gretel“ beginnt mit dem Satz:

„Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker, der hatte nichts zu beißen und zu brechen und kaum das täglich Brot für seine zwei Kinder“.

Die Armen in Grimms Märchen hungern, frieren und sind verzweifelt. Man bezeichnet diese existentielle Not heute als „absolute Armut“, und diese hat in Deutschland der Sozialstaat beseitigt. Die Armen von einst müssen nicht mehr betteln, sondern bekommen vom Staat ein Transfereinkommen, das ihre materielle Existenz sichert, auch wenn es manche Konsumbedürfnisse nicht abdeckt. Bei der aktuellen Armutsdiskussion geht es um „relative Armut“, die einkommensstatistisch definiert wird: Wer einen bestimmten Prozentwert, meist 60 Prozent, des durchschnittlichen Nettoeinkommens unterschreitet, gilt als „arm“. In einem Land mit 1.000 Steuerpflichtigen, von denen 999 jährlich jeweils 1 Million verdienen und ein einziger 1 Milliarde, wären die Millionäre ‒ sozialstatistisch gesehen ‒ „arm“; denn ihr Einkommen beträgt weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens von 1,999 Millionen.

Mit der normalen Wortbedeutung von arm hat dieser statistische Armutsbegriff nichts zu tun: Arm und sein Gegenwort reich dienen hier als Fahnenwörter für eine sozialpolitische Verteilungsdebatte; sie polarisieren und haben mediale Schlagkraft ‒ ganz im Gegensatz zur bürokratischen Fachsprache, in der das Märchen von „Hänsel und Gretel“ so beginnen würde:

„Vor einem großen Walde lebte ein einkommensschwacher Holzhacker, der hatte weniger als sechzig Prozent des Medianeinkommens“.

Dass es in Deutschland, wie in jeder Gesellschaft, unter- und überdurchschnittliche Einkommen gibt, ist selbstverständlich. Ein Einkommensverteilungsbericht der Bundesregierung würde in der Öffentlichkeit aber keine Beachtung finden. Ein Armuts- und Reichtumsbericht (der fünfte erschien 2017, 706 Seiten)) hingegen wirkt wie eine Anklageschrift: Man kann damit eine Nationale Armutskonferenz einberufen, Gelder für Armutsforschung bereitstellen und das Armutsproblem auf die politische Agenda setzen mit dem Programm: „Wir wollen das Geld bei den Reichen holen“ (Linken-Parteichef Riexinger).

III

Wortgeschichtlich geht reich zurück, auf germanisch rīk, „Herrscher, König“, das noch heute im Vornamenelement rich vorkommt: Fried-rich kombiniert semantisch „Frieden + Herrscher“. Die ursprüngliche Bedeutung von reich war „königlich“ und entwickelte sich über „mächtig, vornehm“ zu „wohlhabend, begütert“. Reichtum und Macht liegen also sprachlich nahe beieinander.

Gehört deshalb in Deutschland politischer Mut dazu, das Geld bei den Reichen zu holen? Nein, zumindest nicht der Versuch. Die erste Regierung Merkel hat ja 2007 den Steuersatz für Jahreseinkommen ab 250.000 € von 42 auf 45 Prozent erhöht. Gebracht hat diese sogenannte „Reichensteuer“ unter dem Strich nichts; denn viele „Reiche“, vor allem ältere, verlegen ihren steuerlichen Wohnsitz ins Ausland, und dann bekommt der deutsche Fiskus statt 42 Prozent von Etwas 45 Prozent von Nichts.

Die moralische Wirkung der Reichensteuer war damals allerdings groß, und sie wirkt bis heute: Ein „Reicher“ kann nicht zum CDU-Parteivorsitzenden gewählt werden. Quod erat demonstrandum „was [auf dem CDU-Parteitag] zu beweisen war“.

Unterstützung
oder

Kommentare ( 48 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

48 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
conferio
6 Jahre her

Es ist nicht die Aufgabe einer Regierung, Menschen reich oder arm zu machen. Sie hat in einem Sozialstaat die Verpflichtung, sich bei Krankheit und Alter das Auskommen ihrer Bürger sicher zu stellen. Das haben die Parteien niemals auf ihrer Liste gehabt und sogar den Wähler getäuscht…die Rente ist sicher… Seltsamerweise funktioniert das in der Schweiz und Österreich besser, ebenso wie in Holland, wo es eine Mindestrente von 1200 € unabhängig von der Einzahlung gibt, nur unter der Voraussetzung, 50 Jahre in Holland gelebt zu haben. Sozial geht nur national, und das werden die Anhänger der EU in den nächsten 20… Mehr

Wolfgang M
6 Jahre her

Die einzigen Armen in Deutschland sind die Obdachlosen mit minimaler staatlicher Unterstützung. Hartz 4 verhindert Armut. Das BVerfG hat festgelegt, dass Hartz 4 ein menschenwürdiges Leben ermöglichen muss. Es hat die Berechnung der Sätze genehmigt. Das Existenzminimum liegt erheblich tiefer. Wenn Hartzer am Ende des Monats nicht wissen, wie sie ein Stück Brot kaufen können, dann sollte man ihr Ausgebeverhalten, am besten an Hand eines Haushaltsbuchs, prüfen. Bei Privatinsolvenzen wird das gemacht und es ist erstaunlich, wo sich Geld sparen lässt. Dass Flüchtlinge, die ähnlich viel Geld wie Hartzer bekommen, davon Geld an ihre Angehörigen im Herkunftsland überweisen können, sollte… Mehr

linda levante
6 Jahre her
Antworten an  Wolfgang M

Obdachlose bekommen ebenfalls H4 und Flüchtlinge können sich Geldtransfers leisten, da Sie von vielen Personen und Organisationen unterstützt werden, vor allem finanziell, was bei den Deutschen nicht der Fall ist. Da ist sogar Hilfe per Gesetz verboten bzw. eingeschränkt. Überweist die Oma 20 € auf ein H4(Kinder*) Konto, so wird dem H4 Empfänger selbige Summe bei der nächsten Antragstellung abgezogen und wenn er Pech hat, und nicht zum Zeitpunkt der Überweisung das Jobcenter vom Zahlungseingang unterrichtet hat, kann es sein, dass Anzeige wegen Leistungsmissbrauch gestellt wird. * Kinderkonto deshalb, weil H4- Empfänger noch nicht einmal 10 € überziehen dürfen und… Mehr

Wolfgang M
6 Jahre her

Natürlich nimmt die Anzahl der Vermögensmillionäre ständig zu. Mit der Inflation überschreiten viele die Grenze, ohne sich mehr leisten zu können.
Bei Merz wird mehr als 10 Millionen Vermögen vermutet. Da wird die Anzahl derer, die zu dieser Gruppierung gehören, schon merklich kleiner.
Bei Merz könnte man dafür vermuten, dass er nicht käuflich ist.

Buranus
6 Jahre her

Dem „armen“ Bevölkerungsteil gehört man an, wenn man weniger als 60% des Medians der Bevölkerung verdient. Das sind nicht 60% des arithmetischen Mittels (=Summe der Einkommen der Bevölkerung dividiert durch die Kopfzahl). Der Median (=Zentralwert) ist der Wert in der Mitte, wenn man die Werte nach dem Betrage geordnet in eine Reihe stellt. Dies führt natürlich zu einem anderen Ergebnis. Die Aufspreizung der Einzelwerte über und unter dem Median sind für die die Bestimmung des Medians ohne Bedeutung, egal ob das Maximaleinkommen 1 Mio oder 1 Milliarde beträgt. Aber auch, wenn man 60% des Medians als Armutsgrenze definiert, ist dies… Mehr

horrex
6 Jahre her

Es hat schon etwas Irres und das charakterisiert unsere Gesellschaft, deren Zustand, Denkweise, die Jahrzehnte der Hirnwäsche, wenn zig Leute – fast alle – stillschweigend voraussetzen, Andere dies relativ klaglos tolerieren, dass Vermögen, Einkommen „irgendwie gleichmässig“ verteilt sein müsse … womöglich sogar gerecht!!! – Wird Leistung, das was einem Einkommen, Vermögen gegenübersteht, etwa „gerecht“ erbracht? Zumindest nach „Schweiß und Anstrengung und Fähigkeit“??? War das irgendwann in der Geschichte der Menschheit mal der Fall??? Hat irgendwer – ein Gott – behauptet, oder irgendwer einmal versprochen, dass es auf der Erde gerecht zugeht??? Da wird mit geradezu „märchenhaften“ Begriffen, Theorien, Forderungen um… Mehr

Eberhard
6 Jahre her

So kann nur jemand die Welt sehen, der immer etwas mehr in der Tasche hat, als für ein normales menschengerechtes Leben notwendig. Arm und Reich ist eigentlich wie im Licht und Schatten. Wer will schon ewig im Schatten leben. Ist es wirklich Neid, wenn Eltern oder Elternteile entsprechend ihrer eigenen Lebenssituation erleben müssen. dass auch sie ihren Kindern keine gute Bildung usw. gewähren können. Sie aber tagtäglich erleben, was anderen Kindern, ohne deren eigenem Verdienst, bereits in die Wiege gelegt wird? Trotz dem ihre Kinder dadurch schon auf einen Lebensweg vorbereitet werden, den eigentlich keiner verdient hat? Arm sind vor… Mehr

Talleyrand
6 Jahre her

In der aktuellen Realität des Hänsel und Gretel Holzhackers genügt eine kitzekleine Sinnverschiebung eines einzigen Wortes des Märchzenzitats. „Brechen“ kann auch aufgefasst werden als „erbrechen“. Also er könnte heute vermutlich gar nicht soviel beißen wie er k….. könnte, unser Durchschnittsholzhacker.

horrex
6 Jahre her

Sehr schön!!! Neid wurde von DENJENIGEN Mittelmässigen die der Mob wählte als „Knüppel des Mob“ den man zu führen beabsichtigte instrumentalisiert. Im nächsten Schritt entgleitet den Mittelmäßigen die Führung des MOB. Weil den Mittelmässigen die „Geschenke“ ausgehen. „Linke Hosentasche, rechte Hosentasche.) Oder Thatcher: Sozialismus ist, wenn einem das Geld der Anderen ausgeht. Kompletter Stillstand mündet schließlich im Chaos. Wahrnehmbar als „hektisches Handeln“ bei null Ergebnis. Politik wird nur noch als “Als-ob-Politik“ zelebriert. Siehe Plato: Demokratie verkommt entweder direkt zur „reinen“ Pöbelherrschaft (Ochlokratie). Oder aber zur Herrschaft (gewählter) höchst Mittelmässiger (einer „Schein-Elite“) die sich – Geschenke versprechend – vom Mob hat… Mehr

linda levante
6 Jahre her

„Der Club der Dollar-Millionäre wächst und wächst. Allein in Deutschland verfügten im vergangenen Jahr 1.364 600 Menschen über ein anlagefähiges Vermögen von mehr als einer Million Dollar. Das waren gut 84.000 mehr als 2016. Vor allem der Börsenboom und steigende Immobilienpreise mehrten das Vermögen auf insgesamt 5,2 Billionen Dollar (plus 7,6 Prozent). Mehr als ein Viertel der Menschen in Europas größter Volkswirtschaft haben einer Umfrage zufolge allerdings gar nichts auf der hohen Kante, wie aus einer Studie des Beratungsunternehmens Capgemini hervorgeht“. aus manager magazin 2017

http://www.manager-magazin.de/finanzen/geldanlage/deutschland-1-364-600-millionaere-in-2017-a-1213754.html

Der Artikel gefällt mir nicht. Punkt.

Helmut Berschin
6 Jahre her
Antworten an  linda levante

Der Zuwachs der „Dollarmillionäre“ in Deutschland von 2016 auf 2017 ist wechselkurs-bedingt: Im Dezember 2017 betrug der Euro-Dollar-Kurs 1 : 1,17, im Dezember 2016 aber 1 : 1,05. Es genügte also 2017 ein um rund zehn Prozent geringeres Eurokapital, um (einfacher) Dollarmillionär zu sein. H.B.

linda levante
6 Jahre her
Antworten an  Helmut Berschin

Hui, aber hallo Herr Berschin, dann will ich Ihnen das mal glauben „ohne Faktencheck“. Sie gehören aber nicht dazu, oder? Falls ja, bitte ich um eine kleine Spende. Ein bisschen Spaß muss sein. Danke für die interessante Antwort. Dass um 10 % geringere Eurokapital, würde mir schon reichen um nach Montevideo zu kommen. Und was ist mit den „Euromillionären“? Was aber interessant ist, ist der Zuwachs an Millionären, welcher Gattung auch immer, von 2005 bis heute. Nicht vergessen bitte, 2005 begann die Agenda 2010 ungefähr mit 630.000 Millionären und heute erfreuen sich weitere 600.000 und noch ein paar mehr, an unserem… Mehr

SpaeterGast
6 Jahre her

Bzgl Märchen Gebr. Grimm:
Der Holzfäller wohnte sicherlich nicht zu Miete-
sondern in eigener Höhle/Hütte

und war er nun
reich als Ausbeuter oder arm ?

Papier?geld reich oder arm—

Eher Zufrieden/innerlich reich aber „wer beurteilt das“ als arm ?–
solange es gilt:
Erst kommt das Fressen und dann die Moral …

Wartet es ab,
Diskussionen über Moral und Neid werden sogar den Parteien nicht helfen.
Bald is aus. Mit dieser Denke ..Und der Pope kann auch nicht mehr ..