Brüssler Schadensmeldung – Anmerkungen zu einem Gipfel

Weder Merkel noch Macron noch irgendwer in Brüssel versteht den alten Kontinent als eine zutiefst kulturelle Aufgabe und Verpflichtung. Deshalb bleibt am Ende nur der Diskurs um die Kohle.

Da kreißt der Berg und gebärt – jedenfalls keine Maus, eher einen monströsen Zombie. Er wird als auferstandene europäische Solidarität begrüßt. Alle wollen sich als Gewinner sehen. Besonders eine.

I.

Weshalb schreiben vermeintlich seriöse Zeitungen wie die Welt, die deutsche Kanzlerin habe „triumphiert“? Das Narrativ sitzt offenbar fest, ist aus der Großhirnrinde ins Kleinhirn gerutscht. Die ewige Kanzlerin – so der instinktive Reflex der Kommentatoren – kann gar nicht mehr anders als triumphieren. Über was? Und womit? Spielt keine Rolle. Hauptsache, sie funktioniert als unwirklich helles Gegenbild über den wirklich finsteren Trump. Und die europäischen Zwerge. Und wir triumphieren mit. Personifiziert Merkel doch das neue Deutschland, das gut ist und sich somit überheben darf über alles in der Welt. Alle hören auf uns, sagt man nicht. Alle hören auf Merkel, klingt besser. Deshalb muss sie triumphiert haben, etwas anderes können wir nicht zulassen. Damit wird aus der Lakaienhaftigkeit der Kommentatoren fast so etwas wie Patriotismus. Oder etwa nicht?

II.

Nein, nicht. Es ist so falsch wie nur sonst etwas. Denn der angeblich Reichsten Kanzlerin hat nach Auskunft nämlicher Beobachter nur moderiert. Sie hat sozusagen unparteiisch agiert. Will heißen, sie hat keine deutschen Interessen vertreten. Nun gehört es von jeher zu ihrem Stil oder Naturell, sich aus allem herauszuhalten und zu taktieren, bis sie weiß, woher der Wind weht. Hat sie Mark Rutte, Sebastian Kurz und die anderen der sparsamen Fünf nur bekämpft oder ihnen auch klammheimlich die Daumen gedrückt? Sie haben zweifellos auch deutsche Interessen vertreten. Etwas, was Merkel zwar geschworen hat, doch niemals bewiesen.

III.

Triumphiert hat niemand. Das liegt übrigens am Wesen dieser Union. Und es ist nicht das Schlechteste, was sich über die EU sagen lässt, dass niemand in dieser Staatengemeinschaft mehr über die anderen triumphieren kann. Nicht einmal die Regierungen der neuen Erbfreunde Frankreich und Deutschland, das Doppelpack. Keiner hat gewonnen, wahrscheinlich alle zusammen verloren.

IV.

Die Formel lautet: Das Weiterfunktionieren der EU sei im höchsten deutschen Interesse. Das ist wahr. Nur hat der Gipfel nichts zum Weiterfunktionieren beigetragen, und schon gar nicht zur Weiterentwicklung. Die entscheidenden Fragen sind nicht vertagt worden, sondern noch nicht einmal gestellt. Statt dessen die Notlüge: Die Billionen würden allein und ausnahmsweise und vorübergehend und nicht wiederholbar in einer besonders einzigartigen Notsituation namens Corona verschleudert. Man kann aber auch sagen: Corona kommt denen entgegen, die an der Reform der EU noch nie interessiert waren. Corona ist Anlass und Vorwand, in die falsche Richtung Fahrt aufzunehmen.

V.

Die entscheidenden Fragen hätten gelautet: Wie stellen wir die EU vom Kopf auf die Füße? Müssen die bestehenden Probleme mit immer noch mehr Geld zugeschüttet werden? Warum schaffen wir nicht zuerst ein gemeinsames ordnungspolitisches Fundament? Wie zähmen wir das Regiment der Richtlinienbürokratie? Warum nutzen wir nicht unseren größten Vorzug: Vielfalt in Einheit? Weshalb statt dessen Einheit um jeden Preis? Wie beenden wir den Brüsseler Zentralismus und gehen über zu einem effizienten, modernen Netzwerk der europäischen Regionen? Wie demokratisieren wir die Union? Es bleibt Raum für hundert Gipfel, von denen kein einziger geplant ist.

VI.

Warum nicht? Weil weder Merkel noch Macron noch irgendwer in Brüssel den alten Kontinent als eine zutiefst kulturelle Aufgabe und Verpflichtung versteht. Deshalb bleibt am Ende nur der Diskurs um die Kohle. Letztlich die Schuldenunion. Damit macht sich die EU kleiner als sie ist. Sie reduziert ihren historischen Auftrag auf sträfliche Weise. Wir sind doch nicht nur Nettozahler und Bruttoempfänger und umgekehrt. Wir sind Europäer, Abendländer. Und lassen uns den Stolz darauf systematisch nehmen. Antike, Humanismus, Aufklärung, Entdeckerdrang, Fortschrittsoptimismus sind unser Erbe. Die Kultur- und Politikeliten aber wickeln ihre Geschichte ab, deren größte Errungenschaften doch nicht Nationalismus und Kolonialismus gewesen sind. Aber darauf lassen sie sich reduzieren. Mit Wonne werden die gemeinsamen Wurzeln diffamiert und diskriminiert, das ist der größte Schaden.

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Kommentare ( 79 )

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79 Comments
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Manfred_Hbg
3 Jahre her

Zitat 1: „Nun gehört es von jeher zu ihrem Stil oder Naturell, sich aus allem herauszuhalten und zu taktieren, bis sie weiß, woher der Wind weht.“ >DANKE für die Bestätigung das ich als politischer Dummie bzgl Merkel doch richtig gesehen/-dacht habe. Denn ich habe auch hier schon geäußert, dass ich Merkel immer nur als AUSsitzerin und nie als Macherin gesehen habe weil sie zB bei Problemen immer nur rumgessen und abgewartet hat, bis sich dann irgendwann irgendeine Entscheidung u. Ergebnis hinauskristalisiert hat. Und erst dann hat sie sich zu Wort gemeldet. Merkel ist eine Blenderin u. Aussitzerin! – – –… Mehr

Mozartin
3 Jahre her

Frau Merkel und Kultur, das scheint mir ein bisschen weit hergeholt, aber gemessen an ihr wird Ihnen, Herr Herles doch auffallen, im Nachhinein, dass Helmut Kohl sehr wohl über eine deutsche Kultur verfügte z.B. Ernst Jünger, Friedrich der Große wurde umgesetzt, flankiert von ihm und er war quasi die Kultur und Bundesrepublik in repräsentabler Personalunion. Unschlagbar für Helmut Schmidt, der für Politik stand auf fast philosophischer Höhe, was ihn nicht vor Fehlern schützte. Helmut Kohl erinnernd würde ich sehr dafür plädieren, dass die zukünftige Politik in der Bundesrepublik, wenigstens annähernd auch mit der Bundesrepublik zu tun haben sollte, wenigstens im… Mehr

moorwald
3 Jahre her

Den sog. „Kanzlerkandidaten“ der CDU/CSU dämmert es, daß es da unendlich viel aufzuräumen gibt und daß sie den Merkelismus nicht fortführen können.
Aber das dürfen sie nicht öffentlich sagen, denn dann wären sie bei all den Merkel-Getreuen und -Profiteuren unten durch.
So erleben wir einige Schleiertänze. Söder sieht seinen Platz in Bayern. Spahn will Laschet unterstützen. Lascht pocht auf das Vorschlagsrecht der CDU.
Die SPD hat es da einfacher: wer auch immer Kanzlerkandidat sein soll – es ist völlig egal.

gerjmue
3 Jahre her

Herles weist – intelligent und kompetent – auf TATSACHEN der REELLEN EU.
Allerdings: Umwickelt, verpackt, in vielen politischen pseudo-Literarischen Phrasen.
Hiermit wendet er sich – grundsätzlich – auf Gebildete und oder Zeit-Habende Bürger. /*wie ich, ich bin Rentner*/. Aber KAUM an mittig-gebildete Bürger, und hiermit weitestgehend NICHT an vieeelle Wähler.

moorwald
3 Jahre her

Es kommt nicht oft vor: Im Falle Merkel-Deutschland und EU-Wahn wird das Erwachen schrecklicher sein als der Albtraum.

Nibelung
3 Jahre her

Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Immer wieder kommt es durch und wieso können wir eigentlich nicht in neutraler Position verharren, gute wirtschaftliche Kontakte pflegen, keine Verbindlichkeiten für andere übernehmen, nicht der ständigen Versuchung unterliegen die Welt zu retten und dafür zu sorgen, daß wir in allen Entwicklungen möglichst weit vorne stehen, so gut es eben geht. Dazu muß man sich doch nicht vor den sozialistischen EU-Karren spannen lassen, der nichts anderes ist als angedachte Nationalstaaterei im großen Umfang und aus allen unseren Niederlagen haben wir anscheinend nichts gelernt und lassen uns von der anderen die Richtung vorgeben, weil… Mehr

Marzo Matto
3 Jahre her

Ich liebe aus ganzem Herzen Europa und hasse regelrecht die Heuchler, die daraus ein bürokratisches Monster machen, um sich und ihre Hinterzimmer-Auftraggeber schamlos zu bereichern. Der Treppenwitz ist, dass ausgerechnet aus der Hauptstadt eines notorisch gespaltenen Landes, welches komplett unfähig ist, seine Probleme zu lösen, ohne Unterlass die falschen Schalmeienklänge eines geeinten – in Wirklichkeit sozialistisch gleichgeschalteten – Europas verbreitet werden. Im 1. Buch Moses, Kap. 11 – vulgo „Turmbau zu Babel“ ist minutiös beschrieben, wie solche „Projekte“ enden.

EinBuerger
3 Jahre her

„Weil weder Merkel noch Macron noch irgendwer in Brüssel den alten Kontinent als eine zutiefst kulturelle Aufgabe und Verpflichtung versteht.“:
Das ist denen doch sowas von sch…egal. Die Schlaueren suchen einfach ihren Vorteil in dem EU-System. Die Dümmeren glauben vielleicht wirklich die tägliche Dauerpropaganda.
Solange ein System noch funktioniert, ist es immer klüger mit dem System mitzulaufen.

Stiller Ruf
3 Jahre her
Antworten an  EinBuerger

Klüger vielleicht schon, aber bestimmt nicht redlicher. Und diese Unredlichkeit, vorgelebt von einer unredlichen Polit-und Medial-Zunft, ist es halt, weshalb sich auch die Masse irgendwann denkt, wozu noch redlich und nachhaltig handeln? Hol raus, was geht! Und eine unheilvolle Symbiose nimmt ihren Lauf ….

Wolf Koebele
3 Jahre her

Herr Herles zeigt sich sonst als sprachbewußt. Darum zur Korrektur: „gebären“ ist ein Verb mit e-i-Wechsel. Es heißt folglich „gebiert“ und nicht „gebärt“ in der 3.Person Singular (in der 2. dann „gebierst“), dasselbe grammatikalische Phänomen wie „lesen-liest“, „geben-gibt“, „essen-ißt“. Nichts für ungut! Aber es geht mir darin wie mit dem Genitiv. Beides „vom Aussterben bedrohte Arten“, d.h. schützenswert.

Johann P.
3 Jahre her
Antworten an  Wolf Koebele

Erfreulich, daß es noch Leute gibt, die auf die schöne deutsche Sprache achten! ?

Max Biber
3 Jahre her

Entweder habe ich den ‚Gipfel‘ nicht richtig verstanden und verstehe auch den Artikel mit den Kommentaren nicht oder anders herum. Was ist passiert? Mit den jüngsten Beschlüssen zur Finanzierung der EU ist sowohl der Regimewechsel in der Wirtschaftspolitik beschlossen als auch der Wechsel in eine Fiskalunion vollzogen. Quantitative Easing (QE), Modern Monetary Theory (MMT) und Yield Curve Control (YCC) stellen nun die Parameter für die künftige Geld- und Fiskalpolitik dar. Die Einschätzung und Bewertung von Risiken liegen nun nicht mehr beim Markt, sondern bei den Notenbanken und den Regierungen. Das neue System ist auf Stabilität ausgelegt. Das ist ein ebenso… Mehr