Friede – dank oder trotz EU?

Der Gastautor nennt die EU „EU“, die EWG „EWG“ und den Kontinent Europa „Europa“. Er widerlegt die These, dass der europäische Friede der EU zu danken ist. Er beschreibt, welche alternativen Erklärungen Historiker für den Frieden fanden und fragt, inwieweit die EU sogar Konflikte provoziert.

Europa war früher regelmäßig Kriegsschauplatz. Seit 1945 herrscht Friede. Die etablierten Parteien haben eine einfache Erklärung für diesen Wandel. Ein Wahlplakat der CDU lautet „Unser Europa sichert Frieden“ und Plakate der „Grünen“ sprechen von „74 Jahre Frieden“ dank dem „Friedensprojekt“ Europäische Union. Die Webseiten der Bundesregierung und der Europäischen Union bezeichnen Friedenssicherung als den wichtigsten Aspekt der EU und zitieren Guido Westerwelle, laut dem die EU das „erfolgreichste Friedensprojekt der (neueren) Geschichte“ sei. Deshalb hat die EU auch den Friedensnobelpreis bekommen. „Welch ein Geschenk!“ steht dort, und zwar nicht in Bezug auf den Nobelpreis, sondern auf den Frieden an sich.

Die etablierten Parteien bemühen sich auf ihren Plakaten und Webseiten um größtmögliche Begriffsverwirrung. Sie setzen Gebilde wie die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) mit der Europäischen Union (EU) gleich. Wo immer möglich vermeiden sie den politischen Begriff „EU“ komplett und benutzen stattdessen den geographischen Begriff „Europa“, so wie in „unser Europa“ oder „das neue Europa“. Kein Wunder! Das Wort „Europa“ weckt positive Assoziationen und ist gleichzeitig sehr vage. „Europakritische“ oder genauer gesagt „EU-kritische“ Parteien wie die AfD sprechen deshalb lieber von „Brüssel“. Das weckt negative Assoziationen und ist sehr konkret.

Ich probiere in diesem Artikel etwas Neues aus und bezeichne die „EU“ als „EU“, die „EWG“ als „EWG“ und den Kontinent „Europa“ als „Europa“. Ich widerlege zuerst die These, dass der europäische Friede tatsächlich der EU zu danken ist. Dann beschreibe ich, welche alternativen Erklärungen Historiker für den Frieden gefunden haben. Schließlich gehe ich der Frage nach, inwieweit die EU sogar Konflikte provoziert.

Friede nur innerhalb der EU?

Zuerst ein Intuitionstest: Halten Sie es für wahrscheinlicher, dass es demnächst einen Krieg zwischen Deutschland und Griechenland gibt, oder zwischen Deutschland und Norwegen? Wird es eher Krieg zwischen Deutschland und Ungarn geben, oder zwischen Deutschland und der Schweiz?

All diese Szenarien sind natürlich fast unvorstellbar. Aber ich würde wohl eher auf einen Krieg mit Griechenland (nicht mit Norwegen) und mit Ungarn (nicht mit der Schweiz) tippen, denn das deutsch-griechische und das deutsch-ungarische Verhältnis sind ziemlich angespannt. Mit Norwegen oder der Schweiz stehen wir dagegen nicht im Konflikt. Griechenland und Ungarn sind aber genau wie Deutschland EU-Mitglieder. Norwegen und die Schweiz sind unabhängig.

Ein weiteres Beispiel: In den letzten 20 Jahren waren Deutschland und England EU-Mitglieder. In den nächsten 20 Jahren wird England wohl kein EU-Mitglied sein. Wird es nun also Zeit, unsere Marine aufzurüsten, unsere Truppen mobil zu machen und die Westfront abzusichern?

Wenn es in Bezug auf Krieg und Frieden keinen Unterschied macht, ob ein Land zur EU gehört, dann kann die EU bei der Friedenssicherung wohl keine große Rolle spielen.

Die tatsächliche Nachkriegsgeschichte Europas

Unsere Bundesregierung argumentiert, dass es eine Korrelation (oder genauer: ein zeitgleiches Auftreten) zwischen der Entstehung der EU und dem Beginn des langen Friedens in Europa gab.

Selbst wenn das stimmen würde, beweist eine Korrelation noch kein Ursachenverhältnis. In dem Alter, in dem man Kinder üblicherweise impft, werden häufig autistische Eigenarten erkennbar. Impfgegner haben also Recht damit, dass es eine Korrelation zwischen Impfungen und dem Auftreten autistischer Eigenarten gibt. Das beweist aber noch nicht, dass Impfungen Autismus verursachen.

Genauer betrachtet gibt es zwischen der EU und dem europäischen Frieden aber noch nicht einmal eine solche Korrelation. Etwa 50 Länder gehören ganz oder teilweise zum europäischen Kontinent und seit 1945 gab es innerhalb der europäischen Grenzen keine zwischenstaatlichen Kriege. Vor der EU gab es also schon 48 friedliche Jahre (bis zu den Maastrichter Verträgen 1993) bzw. sogar 58 friedliche Jahre (bis zu den Verträgen von Nizza 2003).

Und was ist mit den Vorgängerorganisationen wie der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) oder der „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG)? Diese Vorgänger waren relativ lose Verbünde, zu denen bis in die 70er Jahre nur sechs Nationen gehörten. Wenn ein loser Verbund aus wenigen westeuropäischen Staaten also ein halbes Jahrhundert ausgereicht hat, um den Frieden zu sichern, dann brauchen wir zur Friedenssicherung offenkundig nicht die große und tiefenintegrierte EU, so wie sie seit 2003 besteht. Die These, die ich hier widerlegen will, lautet wie gesagt „die EU sichert den europäischen Frieden“ und nicht etwa „die EWG hat zwischen 1958 und 1993 zum europäischen Frieden beigetragen“.

Friede korreliert mit Demokratisierung

Die Demokratisierung der Welt korreliert wesentlich besser mit dem Frieden. Die Zeit seit 1945 war nämlich nicht nur in Europa überaus friedlich, sondern auf der ganzen Welt – insbesondere in der ganzen demokratischen Welt. Wer mehr über die historische Abnahme von Gewalt wissen will, dem sei Steven Pinkers „Gewalt“ empfohlen.

Einer strengen Definition zufolge hat es noch nie einen Krieg zwischen zwei demokratischen Staaten gegeben (siehe Pinker). Die Zahl demokratischer Staaten hat seit 1945 immer weiter zugenommen und parallel dazu sind Kriege auf der ganzen Welt immer seltener geworden. Im Jahr 2005 zählte die Forschungseinrichtung „Freedom House“ in den USA mit 123 demokratischen Staaten den bisherigen Höchststand.

In der nicht-demokratischen Welt werden bekanntlich weiterhin Kriege geführt – oftmals unter Beteiligung demokratischer Staaten wie den USA. Doch selbst diese Kriege sind im historischen Vergleich relativ selten und (im Verhältnis zu den Bevölkerungszahlen) relativ unblutig. Das mag überraschen, denn die wenigen verbleibenden Kriege und die wenigen Opfer dieser Kriege sind medial so präsent, dass unsere Zeit uns trotzdem ziemlich kriegerisch vorkommt. Außerdem können wir uns kaum mehr vorstellen, wie häufig und wie blutig Kriege in der Vergangenheit waren. Trotzdem ist die globale Abnahme von Kriegen historisch sehr gut belegt.

Der lange Friede seit 1945 ist also keine sehr bemerkenswerte europäische Besonderheit. Da es in Westeuropa seit 1945 nur noch demokratischen Staaten gibt, wäre es eher eine erklärungsbedürftige Besonderheit, wenn es trotzdem zu einem zwischenstaatlichen Krieg gekommen wäre. Die EU ist also erstens viel zu spät entstanden, um mit dem Frieden zu korrelieren, und zweitens als Erklärung ohnehin überflüssig.

Friede dank gesellschaftlicher Veränderungen

Die Demokratisierung korreliert zwar mit dem Frieden, erklärt ihn aber noch nicht zureichend. In den folgenden vier Abschnitten beschäftige ich mich mit den eigentlichen Gründen für das Ende aller Kriege in der demokratischen Welt und für die Abnahme von Kriegen in der nicht-demokratischen Welt. Leider begegnen uns auf der Suche nach diesen Gründen fast nur Korrelationen und wie ich schon sagte, darf man nur mit großer Vorsicht aus einer Korrelation ein Ursachenverhältnis ableiten.

Was halten Sie beispielsweise von folgender Kausalkette: Frauen begehen laut den Kriminalitätsstatistiken nahezu keine Gewalttaten und sind insgesamt wesentlich friedlicher als Männer. Nach dem zweiten Weltkrieg kam die Gleichberechtigung. Seitdem spielen Frauen in den Medien, der Bildung, der Wirtschaft und der Politik eine immer größere Rolle. Die Feminisierung trug also zum Frieden bei.

Die logische Folge von studierenden oder berufstätigen Frauen waren kleinere Familien. Je kleiner die Familie, desto wertvoller jedes Kind. Bei fünf Söhnen ist es nicht so schlimm, wenn einer davon im Krieg stirbt. Wer aber nur einen Sohn hat und in diesen eine Unmenge an Ressourcen investiert hat, der will ihn nicht „dem Vaterland opfern“. Kleinere Familien trugen also ebenfalls zum Frieden bei.

Die logische Folge von kleineren Familien war eine Umkehrung der Alterspyramide. Ein zweiter Blick in die Kriminalitätsstatistik beweist, dass alte Männer wesentlich friedlicher sind, als junge Männer. Eine alternde Gesellschaft trug also wiederum zum Frieden bei.

Unsere Kausalkette lautet also: „Feminisierung führt zu kleineren Familien führt zu steigendem Altersdurchschnitt, und alles zusammen führt zum Frieden in Europa und in vielen anderen Gegenden der Welt“. Das klingt gut.

Vielleicht sind manche Korrelationen ja aber wirklich nur Korrelationen. Viele kriegsbegeisterte Staatsoberhäupter bekamen genauso viele weibliche wie männliche Wählerstimmen, vielleicht spielt die Feminisierung also gar keine große Rolle? Vielleicht ist die Ursache-Wirkungkette genau andersherum und Frieden führt zu kleineren Familien. Wenn keine Kinder mehr im Krieg fallen, dann bekommt man auch gar nicht erst so viele. Und wenn Menschen nicht im Krieg sterben, dann werden sie natürlich auch älter. Und vielleicht gibt es einen wechselseitigen Ursache-Wirkungskreis. Vielleicht verstärken sich die Feminisierung, kleinere Familien, die steigende Lebenserwartung und der Friede gegenseitig in einer endlosen Aufwärtsspirale. Es ist also wesentlich leichter „Friedenskorrelationen“ zu finden, als zweifelsfrei „Friedensursachen“ nachzuweisen.

Trotz aller Vorbehalte ist wohl davon auszugehen, dass die Feminisierung und der demographische Wandel einen Beitrag zum Frieden geleistet haben. Mit der EU haben diese gesellschaftlichen Veränderungen nahezu nichts zu tun.

Friede dank der Globalisierung und Europäisierung

Viele Aspekte der Globalisierung fördern den Frieden. Ein Beispiel ist die Globalisierung der Kultur. Egal, wo man auf der Welt unterwegs ist: Man wird Leute treffen, die ihre traditionelle Kultur noch sehr ernst nehmen und man wird Leute treffen, die stark unter dem Einfluss einer internationalen Weltkultur stehen. Auf der einen Seite also diejenigen, die es ganz normal finden, wenn Männer ihre Frauen schlagen und ihre Töchter beschneiden. Auf der anderen Seite diejenigen, die fließend Englisch sprechen, „Avatar“ gesehen haben und auf dem Smartphone dieselben Apps benutzen. Solche Gemeinsamkeiten sind ziemlich oberflächlich, aber in aller Regel fördern sie trotzdem gegenseitiges Verständnis und ein friedliches Zusammenleben. Mit der EU haben diese Globalisierungsaspekte meistens nichts zu tun.

Europäisierung ist eine regionale Variante von Globalisierung (verzeihen Sie bitte das Paradox). Die EU vereinfacht in vielerlei Hinsicht die europäische Kooperation und den europäischen Austausch. Das Reisen ist beispielsweise dank der gemeinsamen Währung und fehlenden Grenzkontrollen unkomplizierter geworden. Man darf die Rolle der EU aber nicht überbewerten. Auch vor Schengen und dem Euro sind Europäer gerne in andere europäische Länder gereist, und Deutsche reisen auch weiterhin gerne in Nicht-EU-Länder.

Ein anderes Beispiel wäre das Auslandsstudienprogramm „Erasmus“ und die Anerkennung ausländischer Studienleistungen. Gewiss hat die EU hier manches vereinfacht. Zwingend notwendig ist sie aber nicht. Auch Amerikanistikstudierende absolvieren Auslandssemester und lassen ihre Studiennachweise in Deutschland anerkennen, obwohl die USA nicht Teil der EU ist.

Globalisierung und Europäisierung sind also in aller Regel friedensfördernd und die EU spielt bei der Europäisierung meistens eine positive Rolle. Die friedlichen Jahrzehnte vor 1993 und das friedliche Verhältnis zu demokratischen Nicht-EU-Staaten beweisen aber, dass eine friedenssichernde Kooperation auch ohne eine zentralisierte EU-Bürokratie in der aktuellen Größenordnung gewährleistet werden kann.

Friede dank wirtschaftlicher Entwicklungen

Der freie internationale Handel ist gleichfalls ein Symptom der Globalisierung und Europäisierung. Die meisten Ökonomen und Historiker sind sich darin einig, dass enge wirtschaftliche Verflechtungen einen Krieg zwischen zwei Nationen nahezu unmöglich machen.

Ein willkürliches Beispiel: BMW unterhält Werke in Deutschland, Großbritannien und Österreich, aber auch in Russland, Südafrika, Mexiko, China, Ägypten, Indien, Thailand, Brasilien und in den USA. Selbstverständlich will BMW gegen diese Länder keinen Krieg führen und seine eigenen Werke zerstören. Selbstverständlich sind die meisten anderen Länder der Welt für BMW kein Kriegsziel, sondern ein (potentieller) Absatzmarkt. Und selbstverständlich will eine Nation wie Deutschland keine Kriege führen, unter denen die eigenen Wirtschaftsbetriebe leiden würden. Industrienationen sind heute abhängig voneinander. Jeder Angriff auf einen Wirtschaftspartner wäre wie ein Angriff auf die eigene Wirtschaft. Das macht Kriege uninteressant und unfinanzierbar.

Ein gemeinsamer europäischer Handel ist also tatsächlich ein Garant für den Frieden. Brauchen wir dafür aber unbedingt eine tiefenintegrierte EU mit ausufernder Brüsseler Bürokratie? Wiederum beweisen die Erfahrungen zwischen 1945 und 1993 sowie der rege Handel mit Nicht-EU-Ländern das Gegenteil.

Große Teile der Weltwirtschaft sind heute nicht nur international, sondern außerdem immateriell. Früher war die Landwirtschaft der größte und entscheidendste Wirtschaftszweig, gefolgt von den natürlichen Ressourcen eines Landes (Holz, Pelze, Bodenschätze und dergleichen). Man konnte das Land und die natürlichen Ressourcen einer Nation im Krieg erobern und sie dann ausbeuten.

Und heute? Die USA ist die größte Wirtschaftsmacht der Welt und zwei ihrer wichtigsten Wirtschaftszweige sind die Computer- und die Filmindustrie. Es gibt aber keinen Grund, warum ein Land (bspw. China) Hollywood und Silicon Valley erobern sollte, denn dort ist nichts, was diese beiden Orte besonders wertvoll macht. Man kann überall einen Film drehen oder ein Computerprogramm schreiben. Wertvoll sind nur die Menschen, die dort arbeiten, also bspw. die Stars und die Programmierer. Und wertvoll sind die Patente. Ein Patent ist aber nur eine Idee, und Ideen sind nicht an ein Stück Boden gebunden.

Für Europa gilt dasselbe. Warum sollten wir Deutschen heutzutage das EU-Land Frankreich oder das Nicht-EU-Land Schweiz erobern? Um Patente von Renault oder Nestlé zu klauen? Das geht auch einfacher.

Selbst ohne eine wirtschaftliche Verflechtung würden sich Kriege heutzutage also selten lohnen. Sogar bei den Kriegen, bei denen Bodenschätze eine Rolle gespielt haben (wie beim zweiten Golfkrieg), war das Ziel eher die Öffnung eines Marktes und nicht so sehr das dauerhafte Einnehmen eines fremden Territoriums. Die EU hat mit diesen weltwirtschaftlichen Veränderungen nichts zu tun.

Friede dank technologischem Fortschritt

Der technologische Fortschritt hängt mit den genannten Friedensgründen eng zusammen. Die heutige Hygiene, moderne Verhütungsmittel und der medizinische Fortschritt sind für die Feminisierung und den demographischen Wandel mitverantwortlich. Die Medientechnologie (Bücher, Fernseher, Computer, Telefone) und die Transporttechnologie (Schiffe, Eisenbahnen, Autos, Flugzeuge) machen die Globalisierung, den internationalen Austausch und den internationalen Handel überhaupt erst möglich. Dank Internet können wir nun unkompliziert mit Menschen aus der ganzen Welt Bekanntschaften schließen und Gedanken austauschen. Wer in Paris Facebook-Freunde hat, der wird Paris nicht bombardieren wollen.

Ich will nicht übermütig werden. Bekanntlich werden viele technologische Neuerungen auch vom IS genutzt. China betreibt Industriespionage. Nordkorea zensiert jedes Wort und baut den Überwachungsstaat aus. Und Heiko Maas findet das toll. Vielleicht stehen uns sogar Cyberkriege bevor.

Trotzdem: Terrorismus oder Cyberkriege kosten weniger Opfer als herkömmliche Kriege. Unterm Strich ist die Welt dank solcher Technologien friedlicher geworden. Mit der EU hat dieser technologische Fortschritt nichts zu tun.

Provoziert die EU Konflikte?

Ich kann festhalten: Der Friede seit 1945 lässt sich plausibel erklären. Die EU ist eindeutig nicht der Grund für den europäischen Frieden und wird zur Sicherung dieses Friedens nicht benötigt, wenngleich sie hier und da eine positive Tendenz geringfügig verstärkt. Nun zur nächsten und letzten Frage: Provoziert die EU womöglich sogar Konflikte?

Stellen Sie sich vor, Sie sind Architekt und müssen ein Studentenwohnheim planen, in dem Erasmus-Studierende aus ganz Europa zusammenleben sollen. Die Universität hatte schon Ärger mit streitenden und prügelnden Studenten. Deshalb lautet Ihre einzige Vorgabe: „Planen Sie das Wohnheim so, dass die Studierenden möglichst friedlich, konfliktfrei und harmonisch zusammenleben!“ Nach welchem der folgenden zwei Prinzipien würden Sie das Heim planen?

Das „Be Yourself!“-Prinzip: Jeder Studierende hat eine Ein-Zimmer-Wohnung und kann sie wie gewünscht einrichten und den eigenen Vorlieben gemäß darin wohnen. Diese Wohnungen sind durch besonders dicke Wände und Türen getrennt, weil Studierende oft laut sind, aber beim Lernen auch gerne ihre Ruhe haben.

Das „Be United!“-Prinzip: Jedes Stockwerk ist ein großer Gemeinschaftssaal ohne Zwischenwände, in dem alle Studierenden zusammenwohnen. Das ganze Studentenheim hat nur eine große Küche und einen einzigen großen Aufenthaltsraum. Es bleibt ganz bewusst nur wenig Raum für individuelle Vorlieben, denn man möchte eine möglichst enge Vereinigung zwischen den Studierenden.

Meiner Einschätzung nach wird es im „Be Yourself!“-Heim, der einem Europa der unabhängigen Nationen gleicht, wesentlich friedlicher zugehen, als im EU-ähnlichen „Be United“-Heim. Ohne Zwischenwände sind Streit und Konflikte zwischen den Studierenden vorprogrammiert, weil ihr Alltag aus endlosen Kompromissen bestehen muss. Alle Studierenden müssen sich auf dasselbe Essen, dieselbe Einrichtung, dieselbe Beleuchtung, dieselbe Musik und dasselbe Fernsehprogramm einigen. Genauso muss es zu Streit und Konflikten zwischen den Ländern der EU kommen, wenn man ihnen die Möglichkeit zur souveränen Wahrung ihrer eigenen Interessen nimmt.

Die politische Erfahrung bestätigt diese Vermutungen. Wie war das deutsch-griechische Verhältnis vor 20 Jahren, also vor der EU-Vollendung im Jahre 2003? Soweit ich mich erinnern kann: Ganz hervorragend! Dieses Verhältnis wurde beschädigt, weil die Deutschen und die Griechen verschiedene Interessen hatten, ihre unterschiedlichen Interessen aber aufgrund der gemeinsamen Mitgliedschaft in der EU nicht wahrnehmen konnten. Die Deutschen wollten einen stabilen Euro. Sie wollten ein sparsames Griechenland. Sie wollten nicht ständig Rettungspakete mit 10stelligen Geldsummen schnüren und nach Griechenland schicken.

Die Griechen dagegen wollten eine Abwertung des Euro, weil dies das einfachste Mittel zu ihrer Entschuldung gewesen wäre. Sie wollten Geld ausgeben / investieren, um ihre am Boden liegende Wirtschaft anzukurbeln. Und unsere Sparpakete brachten dem durchschnittlichen Griechen keine spürbare Erleichterung. Ihr Ego litt an unserer Besserwisserei und unserer Dominanz. Wäre Griechenland (so wie Norwegen) kein EU-Land, und hätte Griechenland noch die Drachme statt den Euro, dann wäre das Deutsch-Griechische-Verhältnis wahrscheinlich so gut wie um die Jahrtausendwende.

Auch das deutsch-ungarische Verhältnis scheint mir heute schlechter als vor 20 Jahren. Die Deutschen wollen – vielleicht aufgrund ihrer Schuld-Komplexe – kein „Land der Deutschen“ mehr sein, und finden auch nicht, dass Europa ein „Kontinent der Europäer“ sein sollte. Die Ungarn dagegen wollen Ungarn als Land der Ungarn bewahren und sehen die Massenzuwanderung kulturell inkompatibler Menschen sehr skeptisch. Diese unterschiedlichen Interessen wären kein Problem, wenn Deutschland und Ungarn souveräne Nationen wären. Dann könnten die Deutschen ihr Land zum heterogenen multikulturellen Siedlungsgebiet umbauen und die Ungarn ihr Land als homogenes Land der Ungarn bewahren. Wiederum kommt es nur zum Konflikt, weil Länder wie Deutschland und Schweden allen EU-Ländern ihre Zuwanderungspolitik aufzwingen wollen und weil eine individuelle nationale Zuwanderungspolitik unmöglich ist, so lange man in der EU auf einen offenen Schengenraum und europäische Freizügigkeit pocht. Ganz zu schweigen von der „gerechten“ Verteilung von Asylbewerbern.

Fazit

Ich will nicht zu früh den Sekt aufmachen. In London und Paris gab es zuwanderungsbedingt schon bürgerkriegsähnliche Zustände, die womöglich nur ein Vorgeschmack auf das waren, was vielen westeuropäischen Ländern bevorsteht. Und an den Rändern Europas, in Russland und der Türkei, gibt es ebenfalls beunruhigende Tendenzen. Zwischenstaatliche Kriege in der demokratischen Welt sind aber sehr unwahrscheinlich.

Friedlich war Europa, bevor es die EU gab (also zwischen 1945 und 1993/2003), friedlich wäre Europa auch ohne die EU geblieben und frei von zwischenstaatlichen Kriegen ist wahrscheinlich auch unsere Zukunft, denn aufgrund diverser technologischer, wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Entwicklungen gibt es für demokratische Industrienationen überhaupt keinen Anreiz mehr, gegen andere demokratische Industrienationen Kriege zu führen.

Es gibt zwar ein paar friedensfördernde Aspekte, bei denen die EU eine gewisse Rolle spielt. Dafür provoziert die EU aber auch Konflikte, zu denen es sonst nie gekommen wäre. Man kann die Brüsseler Bürokratie und die heutige EU positiv oder negativ sehen, aber zur Friedenssicherung benötigen wir sie nicht!


Carl Lang betätigt sich nach einem Studium der Literaturwissenschaft, Linguistik und Philosophie als Essayist und Liedtexter. Er fühlt sich keinem politischen Lager zugehörig und interessiert sich besonders für Moralphilosophie und Religionskritik.

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Kommentare ( 57 )

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K.O.Estler
4 Jahre her

Kleiner Zusatz: in der VR Polen dauerten die Partisanenkämpfe gegen die kommunistische Regierung bis Ende 1960er Jahre. Bis tief in die 1950er herrschte ferner an der Grenze Polens zur ehemaligen Ukraine ein hässlicher, blutiger Bürgerkrieg – initiiert und am Flammen erhalten durch die sowjetische Grenzziehung ohne Rücksichtnahme auf Kulturen, ethnische Zusammensetzung und Familienbande.

Carl Lang
4 Jahre her

Eine Fußnote zum Wort „Studierende“: In den Kommentaren wird verständlicherweise kritisiert, dass ich in meinem Artikel von „Studierenden“ statt von „Studenten“ spreche. Besonders schön wurde diese Kritik vom Kommentator „Alexis de Tocqueville“ formuliert. Er beginnt mit „Weil ich so gern was meckere…“. Das finde ich gut, denn selbstverständlich hat diese Diskussion nichts mit dem eigentlichen Thema des Artikels zu tun. In meinem Artikel steht, dass „Studierende oft laut sind, aber beim Lernen auch gerne ihre Ruhe haben.“ De Tocqueville kommentiert: „Studierende sind sehr selten laut, weil Menschen tatsächlich beim Lernen gern ihre Ruhe haben. Studenten hingegen sind tatsächlich oft laut,… Mehr

Carl Lang
4 Jahre her

Eine Fußnote zu den Jugoslawienkriegen: In vielen Kommentaren wurde angemerkt, dass es nicht ganz richtig sei, wenn in meinem Artikel von „Friede in Europa seit 1945“ die Rede ist. Wieso bin ich nicht auf die Jugoslawienkriege eingegangen, die zwischen 1991 und 2001 stattgefunden haben? Die genaue Behauptung meines Artikels lautet „seit 1945 hat es innerhalb der europäischen Grenzen keine zwischenstaatlichen Kriege mehr gegeben“. Sind die Jugoslawienkriege ein Gegenbeweis? Ohne Zweifel gehört Jugoslawien zu Europa und die Kriege wurden nach 1945 geführt. Das Einzige, worüber man diskutieren kann, ist das Wort „zwischenstaatlich“. Ich gestehe ein, dass man die Jugoslawienkriege durchaus als… Mehr

Ursula Schneider
4 Jahre her

Sehr interessanter Artikel!
Beim dem gelungenen Beispiel „Be Yourself!“- und „Be United!“-Heim vermisse ich nur die Rolle der Heimleitung beim zweiten Modell, denn ohne die geht es nicht in der Massenunterkunft. Je mehr Kompromisse, Streitigkeiten, Pannen usw., desto größer und diktatorischer muss sie sein, was allerdings keineswegs dem Frieden dient …

Britsch
4 Jahre her
Antworten an  Ursula Schneider

Mehr Streitigkeiten – mehr Vorschriften nötig, mehr Vorschriften mehr Verstöße,
mehr Gerichtsbarkeit nötig, Schwierigere aufwendigere Verwaltung, mehr Kosten für Verwaltung, mehr Allgemeinkosten.
Dadurch wiederum Streit weil die Einen mehr Kosten verursachen als Andere und diese Anderen nicht für diese Mehrkosten aufkommen wollen. Jedes muß Komprommisse machen, dadurch kann sich nicht Jedes seinen Fähigkeiten entsprechend frei entfalten.
Was besonders überdurchschnittlichen Leistungen / Fähigkeiten entgegensteht.

Julian Schneider
4 Jahre her

** Dass 70 Jahre lang Frieden war, liegt nicht an der EU, denn die gibt es noch nicht so lange. Garant für den Frieden war lange Zeit der Kalte Krieg zwischen den Blöcken – das ließ auch die europäischen Staaten zusammenhalten. Seit sich die EU zunehmend totalitär und sozialistisch – Stichworte Transferunion, Nötigen der Mitgliedsstaten – gebärdet, mehren sich die Spannungen und Feindseligkeiten zwischen den EU-Staaten – also das genaue Gegenteil von Frieden schaffen. Davon abgesehen, dass die Zeit, wie viele Foristen beschrieben, in einigen europäischen Ländern sowieso nicht kriegsfrei war.

Udo Kemmerling
4 Jahre her

Seit 74 Jahren Frieden??? 17. Juni 1953, Ungarn 1956, CSSR 1968, „Großserbien“ von 1991 bis 1998, Annexion der Krim und Besetzung der Ostukraine durch ungekennzeichnete Kombattanten (vom russischen Militär!)!!! Strenggenommen müßte ich auch noch die 3. Belagerung Wiens (nach 1529 und 1683) seit 2015 hinzufügen, auch wenn das eher Berlin als Wien ist. Den Einsatz der spanischen Polizei gegen das katalanische Volk, der französischen Polizei gegen die Gelbwesten, den Einsatz der Antifa gegen Politiker und Anhänger der AfD. Den Einsatz der Gender-Professixe gegen den gesellschaftlichen Konsenz. Den 17. Juni 1953 will ich noch einmal herausheben: Nur 4 Jahre nach Gründung… Mehr

K.O.Estler
4 Jahre her
Antworten an  Udo Kemmerling

Danke! Abgesehen davon bestand halb Europa bis weit in die 1980er aus diktatorischen bzw. bestenfalls autoritären Staaten. Außer den sowjetisch besetzten Ländern Mittel- und Osteuropas, darunter ein Teil Deutschlands, waren Griechenland (tolles entspanntes Verhältnis, gelle), Spanien, Portugal Diktaturen. Ich will keineswegs die EU in Schutz nehmen, doch habe ich den Eindruck, der Autor konzentriere sich in seinen Betrachtungen zu sehr doch auf den Kern der alten EWG. Für ihre Mitglieder endete Europa an der deutsch-deutschen Grenze, ostwärts dieser nur noch ein „ubi leones“ lag. Es sei denn natürlich, es gab was zum Handeln (Neckermann, IKEA, Grundig, Philips…) – da hat… Mehr

Hosenmatz
4 Jahre her

Zum Thema „Die Feminisierung trug also zum Frieden bei“ Wenn ich das mal auf meine Erfahrungen im Berufsleben übertragen darf (etwas überspitzt): Streit zwischen männlichen Arbeitskollegen 1. Verbale Auseinandersetzung, evtl. etwas lauter 2. nächster Tag: Streitfall geklärt, Zusammenarbeit wie bisher Streit zwischen weiblichen Arbeitskollegen 1. Verbale Auseinandersetzung, Gekreische, Tränen, evtl. fliegen Gegenstände 2. nächste Wochen/Monate: Schweigen, andere Kolleginnen aufhetzen, Intrigen, Sabotage, kleinster Anlass führt wieder zu 1. Soviel zu Friedensprozessen mit weiblicher Beteiligung. Zur Erläuterung: arbeite seit fast 20 Jahren in einer rein männlichen Abteilung – alles wunderbar. Davor Zivildienst im Krankenhaus, 99% weibliche Besetzung – grauenhaft, was da manchmal… Mehr

Denis Diderot 2018
4 Jahre her
Antworten an  Hosenmatz

Meines Erachtens geben zwei der im Artikel zitierten Gründe den Ausschlag: Die Demographie und die Demokratie. Ohne männlichen Geburtenüberschuss besteht wenig Neigung zum Krieg und werden Jungen als zu wertvoll angesehen, um sie zu verheizen. Ohne Diktator oder Fürsten, der Krieg einfach anordnen kann, ist der Wille zur Kriegsführung schwer politisch zu erzeugen – Chamberlain lässt grüßen. Über die Feminisierung habe ich mich hier auch schon ausgelassen. Sieht man den Geburtenrückgang als Folge der Feminisierung, dann ist Feminisierung eine mittelbare Ursache des Friedens. Mehr aber nicht. Ihre Beobachtungen kann ich aus meiner Jugend bestätigen. Weibliche Vorgesetzte waren eine Qual, weil… Mehr

Peter Zinga
4 Jahre her

Hauptgaranten des Friedens in Europa : USA und UdSSR. Seit dem wieder säbelt.

K.O.Estler
4 Jahre her
Antworten an  Peter Zinga

So so. Sie nennen den Kalten Krieg also „Frieden“. Ales klar.

Im Übrigen war unter freien Intellektuellen im damaligen „Ostblock“ die Eventualität eines Dritten Weltkriegs keineswegs verpönt, sondern eine letzte Hoffnung, das scheinbar in Beton gegossene System doch noch zum Sturz zu bringen. Zu welchem Preis das hätte geschehen müssen, war selbstredend jedem klar, der in seiner Verzweiflung so weit dachte.

Nun greift Russland Europas Staaten an und besetzt sie. Zum Glück gibt es noch die USA als stabilisierende Abschreckung.

Josef K.
4 Jahre her

Noch im Beitrag des Deutschlandfunk Kultur vom 20.04.2008 hieß es in, Europas Weg zum Frieden: „Die Zivilisierung Europas erfolgte zwar auf den Trümmern des Krieges, war aber nur möglich durch den Kalten Krieg und den nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung.“ Kaum war der Kalte Krieg beendet, begann der Jugoslawienkrieg. Die EU konnte den Jugoslawienkrieg nicht nur nicht verhindern, sie war ohnmächtig und die Blauhelme verstrickten sich erneut in einen Völkermord. Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel trieb erneut einen Keil in die EU, und zwar genau dort, wo früher der Eiserne Vorhang stand. Die EU ist zutiefst gespalten und steht am Rande eines Finanziellen… Mehr

afisch64
4 Jahre her

Aufgrund meiner DDR-Vergangenheit kam mir schon lange in den Sinn:
„Wenn es keine Argumente mehr gibt,
dann muss eben der Frieden herhalten!“

Das konnte man sehr gut in der DDR
-dem Staat der Mauermörder- beobachten.
Dort gab es lange Zeit den Slogan:
„Die DDR – dein Friedensstaat!“

Wer auf Unfreiheit, Diktatur und Mauertote hinwies, wurde umgehend in Bautzen (oder anderswo) entsorgt.
Soviel zum Friedensstaat/Projekt „DDR“.

Gibt es da vielleicht Parallelen?!

teanopos
4 Jahre her
Antworten an  afisch64

jeder Sozi-Macker und jede Sozi-Tussi „argumentiert“ derart „für den Frieden“, gleich in welchen kleineren oder größeren Kontext/Kreisen, denn andere gar eigene Fähigkeiten die einen echten Wert gegenüber den Mitmenschen hätten, außer gut zureden, also jemandem etwas von Wert geben bzw. schaffen, haben sie nicht. Nichts davon, sie können nur „labern/gut zureden“. Trotzdem lassen sie sich anständig bezahlen, liegen damit anderen gehörig auf der Tasche und haben politisch aktuell gar die Deutungshoheit. Insgeasmt Quasi ein linksgrünes bzw. negatives perpetuum mobile, eine unaufhaltbare Abwärtsspriale. Typen/Typinnen vom Schlage: Frage: „Was willst Du später mal werden/machen?“ Antwort: „Irgendwas mit Menschen.“ Was für ein Abgrund,… Mehr