Viel Aufmerksamkeit bekommt eine neue Studie des linken Ökonomen Thomas Piketty zu seinem Lieblingsthema, nämlich der „Schere zwischen Arm und Reich“.

Der französische Ökonom Thomas Piketty hat mit seinem Team eine neue Studie vorgestellt. Die FAZ resümiert dazu: „Dass die Ungleichheit in vielen Ländern der Welt wächst, das stellt er in seinem Bericht ganz nach vorne. Dass die weltweite Ungleichheit schrumpft, steht irgendwo in der Mitte des Berichts, wo die meisten Leser schon mit ihrer Aufmerksamkeit kämpfen.“ Piketty gehört zu den ideologisch voreingenommenen Ökonomen – seine zentrale Mission ist es, die Ungleichheit anzuprangern. Er beriet den französischen Ex-Präsidenten Hollande bei der Einführung der (inzwischen wieder abgeschafften) Reichensteuer von 75 Prozent, die ganz nach Pikettys Geschmack war.
Pikettys neue Zahlen widerlegen jedoch in Teilen den Tenor seines vor einigen Jahren erschienenen Bestsellers über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Laut der aktuellen Studie hatte die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung im Jahr 1980 rund acht Prozent des weltweiten Einkommens, im Jahr 2013 waren es fast zehn Prozent. Und der Anteil des reichsten einen Prozents geht seit rund zehn Jahren zurück.
Nirgendwo so wenig Ungleichheit wie in Europa
Und wie sieht es mit der viel beklagten Ungleichheit im weltweiten Vergleich auf? Am lautesten wird dort über Ungleichheit geklagt, wo sie im weltweiten Vergleich am geringsten ist. Der Anteil der obersten zehn Prozent der Bevölkerung am Gesamteinkommen ist laut der aktuellen Piketty-Studie nirgendwo so gering wie in Europa, wo er 37 Prozent beträgt. Zum Vergleich: In den USA und Kanada sind es 47 Prozent, in Russland 46 und in China 41 Prozent. In Brasilien und Indien liegt der Anteil sogar bei jeweils 55 Prozent und im Nahen Osten bei 61 Prozent. Pikettys Studie enthält auch zu Deutschland interessante Zahlen: Vor 100 Jahren vereinigte das reichste Prozent der Deutschen noch 18 Prozent der Einkommen auf sich, heute sind es nur noch 13 Prozent. Relativ gesehen sind die Reichen also ärmer als vor 100 Jahren. Aber ist das überhaupt so wichtig?
Ist die „Schere“ überhaupt so entscheidend?
Piketty ist ganz und gar auf die Frage der „Schere zwischen Arm und Reich“ bzw. auf die „Ungleichverteilung“ fixiert. Schon in seinem „Kapital im 21. Jahrhundert“ mahnte er an, es sei „höchste Zeit die Frage der Ungleichheit wieder in den Fokus der Wirtschaftsanalyse zu stellen“ und „die Verteilungsfrage wieder in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken“. Einerseits argumentierte er dort, die Schere zwischen Reich und Arm sei zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiter auseinander gegangen, andererseits räumt er ein, es sei „nicht ausgemacht, dass die Vermögensungleichheiten insgesamt auf globaler Ebene wirklich zunehmen“. Die Datenbasis seines Buches und haarsträubende methodische Fehler seiner Vorgehensweise wurden inzwischen von zahlreichen Wissenschaftlern kritisiert – ich empfehle hierzu jedem Leser dieses ausgezeichnete Buch.
Das Beispiel China
Ist es für diese Hunderten Millionen Menschen entscheidend, dass sie nicht mehr hungern und der Armut entronnen sind oder dass sich – möglicherweise – im gleichen Zeitraum das Vermögen von Multimillionären und Milliardären noch stärker vermehrt hat als ihr Lebensstandard? Die Entwicklung Chinas zeigt, dass steigendes Wirtschaftswachstum – auch bei gleichzeitig steigender Ungleichheit – den meisten Menschen zugute kommt. Hunderten Millionen Menschen in China geht es heute sehr viel besser, und zwar nicht obwohl es so viele Millionäre und Milliardäre gibt, sondern gerade deshalb, weil Deng Xiaoping die Parole ausgegeben hatte: „Lasst einige erst reich werden.“ Deng hatte Recht damit, dass der wirtschaftlichen Entwicklung die Hauptpriorität eingeräumt werden müsse, was sich an folgenden Tatsachen zeigt: Untersucht man, in welchen Provinzen die Armut in China in den vergangenen Jahrzehnten am meisten zurückgegangen ist, dann sind es die mit dem höchsten Wirtschaftswachstum. Und noch etwas anderes ist bemerkenswert: Die Chancen für sozialen Aufstieg sind laut den Untersuchungen des renommierten Ökonomen Zhang Weiying in den vergangenen Jahrzehnten in China ganz erheblich gestiegen. Zugleich hat die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in China in diesen Jahren stark zugenommen. 2012 lag der Gini-Index, der die Einkommensungleichheit misst, bei 0,47 für China, wobei er in den Städten niedriger ist als in den ländlichen Gebieten.
Dass in den vergangenen Jahrzehnten in China die Zahl der Millionäre und Milliardäre stark gestiegen ist und sich für Hunderte Millionen der Lebensstandard so sehr verbessert hat, sind nur zwei Seiten einer Medaille und die Folgen des gleichen Prozesses, nämlich der Entwicklung vom Sozialismus zum Kapitalismus, von der Plan- zur Marktwirtschaft.
Daran, dass die Armut weltweit durch die kapitalistische Globalisierung zurückgegangen ist, kann es keinen Zweifel geben. Kontrovers diskutiert wird, ob der steigende Wohlstand in ehemals unterentwickelten Ländern zugleich in den westlichen Industrienationen, also namentlich in Europa und den USA, bei den unteren Einkommensgruppen zu Wohlstandseinbußen geführt habe. Zunächst: Wenn dies so wäre, weil die Niedriglohnbezieher in entwickelten Ländern heute im direkten Wettbewerb mit den Arbeitern in aufstrebenden Ländern stehen, dann wären die antikapitalistischen Globalisierungskritiker im Westen vor allem Verteidiger einer privilegierten Situation der Menschen in Europa und den USA – obwohl sie sich doch eigentlich vor allem als Anwälte der Armen in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas verstehen. Die These von den „Globalisierungsverlierern“ in Europa und den USA ist jedoch darüber hinaus umstritten, denn laut einer OECD-Untersuchung aus dem Jahr 2011 gab es nur zwei OECD-Länder, in denen die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung geringere Realeinkommen zu verzeichnen hatten als Mitte der 80er-Jahre, nämlich Japan und Israel.
„Relative Armut“
Wenn man in den Medien immer wieder lesen kann, die Zahl der Armen in den entwickelten westlichen Industrieländern sei gestiegen, dann liegt das oft einfach daran, dass Armut in den zugrunde liegenden Studien relativ gemessen wird. Arm ist beispielsweise im offiziellen Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung, wer weniger als 60 Prozent des sogenannten Medianeinkommens verdient. Wie fragwürdig diese Definition ist, sieht man an einem Gedankenexperiment: Angenommen, bei gleichem Geldwert stiegen alle Einkommen um das 10-fache. Untere Einkommensbezieher, die beispielsweise bisher 1.000 Euro im Monat hatten, bekämen nunmehr 10.000 Euro. Keiner müsste sich mehr sorgen. Das Leben wäre schön. Jedoch – nach der herrschenden Armutsdefinition gemäß der 60-Prozent-Formel hätte sich nichts geändert. Immer noch läge die Armut auf dem gleich hohen Niveau.
Im zweiten Fall nehmen wir die 115.000 Euro und verteilen sie auf alle 1.003 Inselbewohner gleichmäßig, so dass jeder 114,65 Euro besitzt. Würden Sie es als Armer mit einem Ausgangsvermögen von 100 Euro vorziehen, in der Wachstums- oder in der Gleichheitsgesellschaft zu leben? Und was wäre, wenn durch eine Wirtschaftsreform, die zur Gleichheit führen soll, das Gesamtvermögen auf nur noch 80.000 Euro schrumpft, von denen dann jeder nur noch knapp 79,80 Euro erhält?
Natürlich kann man einwenden, das Beste sei, wenn sowohl die Wirtschaft und der allgemeine Lebensstandard wüchsen und gleichzeitig auch die Gleichheit zunehme. Tatsächlich hat der Kapitalismus genau dies – sogar nach den Berechnungen von Piketty ! – im 20. Jahrhundert geleistet.
Dennoch ist das Gedankenexperiment sinnvoll, weil in der Antwort die unterschiedlichen Wertpräferenzen deutlich werden: Wem die Erhöhung der Gleichheit der Menschen untereinander bzw. der Abbau von Ungleichheit wichtiger ist als die Erhöhung des Lebensstandards für eine Mehrheit, wird sie anders beantworten als derjenige, der die Prioritäten umgekehrt setzt. Noam Chomsky, einer der führenden amerikanischen Linksintellektuellen, vertritt einen solchen Standpunkt, wenn er in seinem 2017 erschienenen Buch „Requiem für den amerikanischen Traum“ schreibt, „dass es um die Gesundheit einer Gesellschaft umso schlechter bestellt ist, je mehr sie von Ungleichheit geprägt ist, egal ob diese Gesellschaft arm oder reich ist“. Ungleichheit an sich sei bereits zerstörerisch, so seine These, die mit Pikettys Sichtweise korrespondiert.
Kapitalismus ist sozialer als Sozialismus
Ich finde hingegen, die Frage, durch welches Wirtschaftssystem weltweit die Zahl der Armen reduziert wird, viel interessanter als die, ob eine Schere zwischen Arm und Reich aufgeht. Der Kapitalismus ist weltweit und in der Geschichte das sozialste Wirtschaftssystem, weil er am meisten zur Beseitigung der Armut beigetragen hat. Dagegen gehen die meisten Toten bei großen Hungersnöten im 20. Jahrhundert auf sozialistische Experimente zurück. Was man in Pikettys Studie nicht lesen kann: Seit 1920 starben mehr als 70 Millionen Menschen durch Hungersnöte, wobei fast die Hälfte davon auf Maos sozialistisches Experiment des ‚Großen Sprungs nach vorne’ Ende der 1950er Jahre entfällt, ein weiteres Viertel auf Stalins sozialistische Zwangskollektivierung. Das Ende des Kommunismus und der weltweite Siegeszug des Kapitalismus haben dazu geführt, dass in den 2000er-Jahren nur noch drei von 100.000 Menschen durch Hungersnöte starben. Zwischen 1920 und 1970 starben dagegen global im Schnitt 529 von 100.000 Menschen pro Dekade in Hungersnöten. Mehr als drei Viertel davon gingen auf das Konto der Kommunisten.
Teile dieses Beitrages stammen aus dem im Februar erscheinenden Buch, das jetzt vorbestellt werden kann.
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Sie haben es auf den Punkt gebracht: Alle Linken halten Wirtschaft für ein Nullsummenspiel, so wie im Gedicht vom Brecht über den armen und den reichen Mann.
Wirtschaft *ist* ein Nullsummenspiel – bei Wachstum 0.
Der war zumindest so ehrlich am Ende des Guten Mannes die Götter auf die Bühne rufen zu müssen.
Zynisch. A-historisch. Parteiisch. traurig.
Zynisch finde ich die Sozialisten, die den Kapitalismus anklagen, obwohl die Sozialisten im 20. Jahrhundert überall Wirtschaften heruntergewirtschaftet haben. Fragen Sie mal Menschen, ob sie lieber in Nord- oder Südkorea leben wollen. Oder lieber im sozialistischen Venezuela oder im kapitalistischen Chile. Wo gibt es mehr Menschen, die in Armut leben? In China verhungerten Dutzende Millionen unter Mao. Seit dort mehr auf Marktwirtschaft gesetzt wird, haben sich die Lebensbedingungen im Vergleich zu früher verbessert, gerade für die Armen. Was ist daran ahistorisch. PARTEIISCH? Wenn Sie parteiisch für die Armen sind, können Sie den Kapitalismus nicht verdammen.
Gute Replik!
Der Grundsatzfehler der ganzen Betrachtung (Hr. Zitelmann) liegt darin, alles dem Kapital zuzuordnen, nicht aber auf individuelle Leistungen für individuell Begünstigte.
Die ganzen Statistiken verschleiern im Grunde die treibenden Ursachen, die in Engagement bestehen mit der Absicht, Menschen zu bereichern. „Der“ Kapitalismus hat diese Absicht nämlich gar nicht. Am Ende soll er aber der Gute gewesen sein. Man sollte den Ansatz unformulieren: Wem haben wir es zu verdanken, dass wir in der Breite trotz Kapitalismus reicher geworden sind?
Meinen Sie, die Menschen in sozialistischen Staaten seien fauler als in kapitalistischen? Meinen Sie, den Nordkoreanern gehe es schlechter als den Südkoreanern, weil die weniger Leistung brächten? Meinen Sie, in der DDR sei der Lebensstandard so viel niedriger gewesen als im Westen, weil die Menschen dort nichts geleistet hätten? Ich finde das abwegig. Das Beispiel Chinas zeigt doch, dass die Leistung der Menschen erst zur Geltung kommt, wenn dem Markt mehr Raum geschaffen und der Staat zurückgedrängt wird.
@Dr.Dr.Zitelmann. Sie sollten wenigstens einen GANZEN Absatz lesen, um behaupten zu können, was ich „selber sage“. Den Widerspruch zwischen öffentlich ausgewiesenem, (angeblich) vorhandenem Wohlstand in Venezuela und der Abwahl dieses „wohlbingenden“ Kapitalismus ist Ihnen offenbar nicht in die Gedanken gekommen.
Dass an dieser Wohlstandsdefintion etwas faul sein muss, würde ein Blinder mit dem Krückstock sehen. Und genaso kritisch muss man die zahlreichen Wohlstandshinweise ihn Ihren Texten beleuchten.
Sehr gut. Ganz genau. Nicht zufällig steht Hongkong mit an der Spitze im Index der wirtschaftlich freiesten Länder der Heritage-Foundation. Als die VR China noch sozialistisch war flohen die Menschen unter Einsatz ihres Lebens von dort nach Hongkong, so wie auch von der DDR in die Bundesrepublik oder von Nord- nach Südkorea. Dass Menschen aus einem kapitalistischen Land massenweise fliehen in sozialistische Länder habe ich noch nie gehört. Mein Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ wird Ihnen gefallen. 🙂
Der Staat ist das Problem! So lange es einen Staat gibt, gibt es nach meinem dafürhalten auch keinen Kapitalismus. Die Unternehmer fürchten nichst so sehr wie den Wettbewerb, deswegen betreiben sie mit dem Kooperatismus einen „Sozialismus der Eigentümer“ Deswegen brauchen wir immer kleinere Staaten, die mit anderen Staaten im Wettbewerb stehen, nur so können wir mehr wirtschaftliche Freiheit erlagen. „Small is beautiful – und friedlicher“
https://www.youtube.com/watch?v=24M5Hxcvzlk
Am schnellsten wächst die Bevölkerung in den ärmsten Ländern, so dass das Wenige durch immer mehr geteilt wird. In der alten Welt schrumpfen die Bevölkerungen, und viele werden durch Erbschaften wohlhabender.
Erbschaften spielen eine viel geringere Rolle als früher. Nehmen Sie die kürzlich veröffentlichte Bloomberg-Liste der 10 reichsten Menschen der Welt – kein einziger davon ist durch Erbschaft reich geworden. Vor 30 Jahren war der Anteil der Erben viel höher als heute.
Der heutige Kapitalismus ist Sozialismus. Das hat selbst die Welt in einem lichten Moment erkannt, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article127643658/Unser-Geldsystem-ist-Sozialismus-fuer-Reiche.html
Danke für den Hinweis. Dieser Satz ist in der Tat falsch und Ihre Kritik ist berechtigt. Ich lasse den Satz streichen. Ärgerlich: Denn ich hatte den Fehler schon entdeckt und für die Buchfassung beseitigt, aber in dieser Version war er noch drin. Umso besser, dass Sie ihn gefunden haben. Die anderen Beispiele zeigen aber genau das, was gemeint ist und sind auch korrekt. Danke für den Hinweis. Lg zt
Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist nicht eingebildet.
Gleichheit muss nicht sein, aber Gerechtigkeit.
Ist es gerecht, dass eine Frau nach 40Jahren Arbeit weniger Rente erhaelt als ein unbekannter Fremder, der auf Jahre nichts arbeiten kann oder will?
Ich sage mal Nein.
Etwas Gerechtigkeit taete dem Land gut.
Ich verstehe nicht, was Ihr Punkt mit den in dem Beitrag diskutierten Themen zu tun hat.
Sind sie so limitiert in ihrem Geiste oder tun sie nur so?
Wer hier als „Flüchtling“ankommt wird fast genauso alimentiert wie jemand der 40 Jahre gearbeitet hat!
Habe ich verstanden. Aber nochmal: Was hat das bitte mit den im Artikel angesprochenen Themen zu tun. Oder schreiben Sie einfach zu jedem Kommentar einen Brief, der sich auf das Thema Flüchtlinge bezieht, egal, worum es in dem Artikel eigentlich geht?
@Prissianer
Warum gleich so unwirsch und im Grunde beleidigend?
Richtig!
ab Seite 313 im Buch „Das Kapital im 21. Jahrhudnert“ von Piketty wird es interessant. Die Struktur der Ungleichheit zeigt sehr deutlich wo der Hase im Pfeffer liegt. Diese dort aufgezeigten Zahlen sind schon erschreckend.