Plötzlich wieder Wir

Viel ist in Zeiten einer „epidemischen Notlage von nationaler Tragweite“ die Rede von „neuer Normalität“. Dazu gehört die unerwartete Rückkehr eines nationalen „Wir“-Gefühls in die Arena. Selbst der eigentlich ausrangierte „Patriotismus“ bekommt noch eine letzte Chance. Von Jürgen Schmid

picture alliance / ZB | Sascha Steinach
Eine Steintafel aus Zeiten der DDR mit der Aufschrift "Vom Ich zum Wir durch die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft - 11. März 1960" steht in der Straße Kietz im Ortsteil Schlunkendorf in Beelitz

Die zentralen Begriffe des Bundesgesundheitsministers und anderer Politiker zur Impfkampagne sind staunenswert. Schon am 16. Dezember 2020 sprach Jens Spahn in der ‚Aktuellen Stunde‘ des Bundestags über eine „Nationale Impfstrategie“.

Bald darauf, zum Impfstart, rief er zu einem „nationalen Kraftakt“ auf.

Im Juli 2020, als die Impfwilligkeit merklich nachließ, forderte Spahn einen „nationalen Impf-Ruck“.

Im Sommer-Interview mit dem Münchner Merkur am 5. August 2021 steigerte sich der CDU-Politiker zu der frivolen Aussage: „Impfen ist ein patriotischer Akt.“

Auch CSU-Generalsekretär Markus Blume galt die Impfung gegen Corona Ende 2020 als „patriotischer Akt“.

Flankiert wurde das neue patriotische Wir lange mit der leicht chauvinistischen Feststellung, Deutschland sei „besser durch die Pandemie gekommen“ als die meisten anderen Länder – eine Behauptung, die jetzt nicht mehr ganz so oft zu hören ist wie 2020.

Schon zu Beginn der Corona-Krise kam es europaweit zu einer rhetorischen Re-Nationalisierung im Kampf gegen das Virus. Nationale Alleingänge galten bis dahin nicht nur als Verstoß gegen EU-Vertragswerk, sondern vor allem gegen die grundsätzliche Vorstellung der Europa-Konstrukteure von einer fortschreitenden Vereinheitlichung aller Mitgliedsländer und -völker. Im Vorfeld der desaströs verlaufenen EU-zentralisierten Impfstoffbestellung flackerte mit dem Warnruf „kein Impfnationalismus“ noch einmal kurz diese alte Doktrin auf. Aber ein auch nur oberflächlicher Blick auf die völlig unterschiedliche Handhabung von Corona-Maßnahmen in der Praxis der EU-Staaten (etwa zwischen Deutschland und Schweden) zeigt, wie eigenwillig die Nationalstaaten in der EU tatsächlich handeln.

Nationales Pathos, das man in Zeiten von „,no border, no nation“ längst auf der verbalen Sondermülldeponie vermutete, feiert also fröhliche Urständ – mit einem Vokabular, das die zeitgenössischen Political-Correctness-Wachbataillone normalerweise niemals durchgehen lassen würden. Die vieldiskutierte Spaltung der Gesellschaft in verantwortungsvolle Impf-Patrioten (frei nach Jens Spahn) und unsolidarische Impfverweigerer hat auch in Alltagsgespräche eine permanente Polarisierung einziehen lassen: „Wir, die wir versuchen, die Inzidenz runterzukriegen“ versus „die, die durch ihre Impfverweigerung den wirtschaftlichen Aufschwung bremsen“.

Der Spiegel fasst die Lage in dem Stakkato zusammen:

„Geimpft. Genesen. Gefrustet. Wie Politik und Ungeimpfte es verbockt haben.“

Noch vor nicht allzu langer Zeit galt das Wir vor allem bei Trägern der vorbildlichen Haltung als hochproblematisch. Die „Neuen Deutschen Medienmacher“ um ihre Frontfrau Ferda Ataman setzten das „zunächst harmlose Wort“ „wir“ 2014 noch auf die rote Liste der auszumerzenden Vokabeln, weil es „ausgrenzend verwendet werden“ kann.

Und auf der Webseite der Amadeu-Antonio-Stiftung hieß es (beziehungsweise, es steht dort immer noch): „Die Einteilung von Menschen in ‚wir‘ und die ‚anderen‘, die vermeintlich weniger wert sind, ist die Grundlage von Ideologien der Ungleichwertigkeit.“

Die „Grüne Jugend“ und andere Linke polemisierten während jeder Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaft gegen das Schwenken von Deutschlandfahnen mit dem Argument, das befördere ein nationales Wir-Gefühl – und das sei, auch wenn es nur um Sport gehe, immer ausgrenzend und gefährlich.

Als hätte es diese schwersten Bedenken gegen das Wir nie gegeben, benutzen Corona-Bekämpfer in Politik und Medien die Vokabel mittlerweile exzessiv – zum einen als Majestätsplural, zum anderen zur Kollektivformung. Tiefpunkt der Ausgrenzungs-Rhetorik dürfte schon im April 2021 ein wenig beachtetes Gustlstückerl des Juristen Rolf Schwartmann gewesen sein: „Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde.“ In der aktualisierten Fassung dieses Beitrags ist das Wort „Volksfeind“ nicht mehr zu finden, aber in einem (redaktionellen) „Hinweis“ an dessen Ende:

„In einer früheren Version des Artikels wurden im Hinblick auf mögliche Auswirkungen einer Kommunikation des eigenen Impfstatus geschrieben ‚Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde‘. Der Begriff ‚Volksfeinde‘ war dabei in Anlehnung an das Drama ‚Ein Volksfeind‘ von Henrik Ibsen gewählt worden, um den Druck einer gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung zu beschreiben. Da der Begriff allerdings auch im Nationalsozialismus als ideologischer Begriff verwendet worden ist und um Fehlinterpretationen zu vermeiden, wurde der Absatz geändert.“

Wie glaubhaft die rabulistische Rechtfertigung für ein nicht zu rechtfertigendes Wort wie „Volksfeinde“ ist, mag im Belieben jedes Lesers verbleiben.

„Wir sind ein Berlin"
Berlin: Mischung aus Pjöngjang, Drogenkiez und DDR-Parolen
Das Schwartmann’sche Denkmuster gilt in progressiven, woken Kreisen prinzipiell als faschistisch, erfreut sich aber trotzdem bei vielen Corona-Kämpfern großer Beliebtheit: Das Volk wird als Schicksalsgemeinschaft verstanden, unbedingte Impfbereitschaft als patriotische Pflicht gefordert, unter Hintanstellung individueller „Befindlichkeiten“ wie Bedenken vor einem experimentellen Impfstoff mit Notfallzulassung. Die Gemeinschaft ist alles, der Einzelne nichts. In der FAZ verkündete der Publizist Anders Indset diese Formel in einer nur leichten Abwandlung: „Bei der überhitzten Impfdebatte geht es nicht um Meinungen, Rechte und individuelle Freiheit. Es geht um Haltung.“

Dieser Gedankengang wird in einem erstaunlich großen Feld vom CSU-General bis zu den Progressiven geteilt. Im Milieu von Diversitätsverfechtern, Nationalstaatsauflösern und Weltregierungsanhängern hätte ihn bis März 2020 sicherlich niemand erwartet. Jetzt lautet die Frage, wie sich die Progressisten dieses für sie eigentlich ewiggestrigen Ballasts eines nationalen Wir-Gefühls wieder entledigen wollen.

Die Rückkehr des großen Wir auf die offene Bühne unserer Gesellschaft hält noch eine innerlinke Pointe parat. Der Rückwärtssalto von einer strikten Entnationalisierungsagenda zur pathetischen Gemeinschaftsverpflichtung stößt auch jenen Teilen der Linken auf, die schon länger mit ihrer Partei fremdeln. Sie haben es der bisherigen Partei ihrer Wahl nicht verziehen, wie sehr sie unter dem Vorsitz von Katja Kipping und dann auch unter ihrer neuen Führung den Maßnahmenkurs der Regierung nicht nur unterstützt, sondern verbal oftmals sogar noch überboten hat. Diese Kritiker gehören zu der Wählerkohorte, die der Links-Partei im Corona-Kampf nicht mehr folgen wollten, ihr deshalb bei den Bundestagswahlen ihre Stimme verweigerten – und damit diese Gruppierung buchstäblich halbiert haben.

Das neue Wir führt nicht zum erwünschten Zusammenhalt, wie er am Anfang der Corona-Krise gebetsmühlenartig auf allen Kanälen beschworen wurde. Im Gegenteil, es spaltet die Gesellschaft in bisher unbekanntem Ausmaß, weil diejenigen, die es benutzen, ein Feindbild zur Festigung des Wir kultivieren zu müssen glauben, das eine Minderheit markiert und ausschließt. Diese Praxis steht eigentlich für das Gegenteil von allem, was diskriminierungssensible Progressive für richtig halten. Dass sich links und rechts einer angenommenen Mitte gerade in dieser Frage querfrontartige Annäherungen abzeichnen, müssen die Verfechter des neuen patriotischen Wir als Kollateralschaden verbuchen.


Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor. Er lebt in München.
Dieser Text ist auch bei Publico erschienen

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Kommentare ( 27 )

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Nibelung
2 Jahre her

Dieser Spruch ist symtomatisch für dieses linke Pack, nach eigener Definitiion und wir haben ja zweimal hintereinander gesehen wo die uns hingeführt haben und der dritte Anlauf könnte wieder gelingen, wenn wir nicht alle wachsam sind und den heutigen Leuten unter 40 Jahren kann man keinen Vorwurf machen, die werden schon seit Jahren rot infiltriert aber ihren Erzeugern schon. Die müßten ja noch wissen was Sozialismus in der Praxis heißt und wer das will, der sollte sich auch im Klaren sein was kommt, denn der Sozialismus hat noch nie auf der Welt bewiesen, daß er es kann, geschweige denn daß… Mehr

Andreas aus E.
2 Jahre her
Antworten an  Nibelung

den heutigen Leuten unter 40 Jahren kann man keinen Vorwurf machen“

Doch, kann man und sollte man. Gerade „die Jugend“ ist doch (in nicht unerheblichen Teilen) gern widerspenstig, wenigstens zu meiner Zeit war das so und Generation davor die Hippies und Beatniks, davor Jazzer und Swinger usw.

Zum Wege der Erkenntnis genügt oft ein einziger Mauswisch – weg von Rezo, Greta, Annalena, hin zu bsw. hier – und lesen.

Andreas aus E.
2 Jahre her

Es gibt eine Konstante im Haltungsjournalismus seit Jahren, nämlich daß kritische Geister niemals und nirgendwo irgendwie oder irgendwas mit Zuständen in jenen 12 Jahren zu vergleichen, welche rund um die Uhr im Gebührenrundfunk zu vernehmen sind. Ich war schon immer der Ansicht, daß selbstredend alles mit allem verglichen werden könne – Vergleich bedeutet ja nicht Gleichsetzung, aber das Gekeife kam schon immer aus der Ecke, aus der auch Gendersprech dröhnt. SPD, „Grüne“, SED, ÖRR, die Ecke eben. Nazis andersrum. Da fragte man sich: Wie konnte es weiland dazu kommen? – Und erlebt es nun in Echtzeit, live und in Farbe,… Mehr

Fulbert
2 Jahre her

Vom „ich“ zum „wir“ bis zum „ihr“ ist es nicht weit, denn jedes „wir“ bedarf der Abgrenzung von einem „ihr“. Das wusste schon ein einst berühmter Barde, als er hellsichtig sein „wir“ intonierte: Wer will nicht mit Ungeimpften verwechselt werden? WIR! Wer sorgt sich um die Gesundheit auf Erden? WIR! Ihr lungert herum in ungeimpften Massen, Wer kann euren sinnlosen Trotz nicht fassen? WIR! WIR! WIR! Wer hat den Mut, für euch sich zu schämen? WIR! Wer läßt sich unsere Zukunft nicht nehmen? WIR! Wer sieht euch freche Parolen skandieren, Und muß vor euch jede Achtung verlieren? WIR! WIR! WIR!… Mehr

Kaktus 61
2 Jahre her

Als diktatursozialisierter DDR-Bürger kennt man das Wort „WIR“ nur zu genau, bedeutet: keiner übernimmt die Verantwortung. Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Sollte er doch Recht behalten?

Evero
2 Jahre her

Dieses „Wir“ meint nicht Patriotismus, sondern ist ein Imperativ für den sozialistischen Gehorsam.
Es passt schon in die Zeit. Der SED-Geist ist ja en vogue im wiedervereinigten Deutschland. Freiheit wird zum Fremdwort in diesem Land. Nicht nur bei dem Corona-Thema.
Die Blockwarte und Zensoren schießen wie Pilze aus dem Boden.
Wer rechts von Merkels Demarkationslinie der weltsozialistischen Rechtgläubigkeit steht, ist den Anfeindungen der schleimheiligen Antifahetzknechte (ich korrigiere: HetzknechtInnen) ausgeliefert.

Last edited 2 Jahre her by Evero
Salue
2 Jahre her

Mir fallen sofort zig Pionier-und FDJ Lieder ein, in denen das WIR herausgestellt wird. Motto: der Einzelne ist Nichts, das Kollektiv ist Alles, UNSERE Zukunft wird strahlend sein. In den letzten Tagen hatte ich schon über das seit 1Jahr unablässig gebrauchte Wort „solidarisch“ nachgedacht, dass jetzt wieder versucht wird, den Einzelnen in eine konforme Masse einzugliedern.
https://m.youtube.com/watch?v=KZUrwOAXOfo

Janno
2 Jahre her

Nicht nur bemüht man Patriotismus und eine Kriegsrhetorik, es ist, als wäre man über Nacht in einer neuen Welt erwacht, in der plötzlich das Gegenteil dessen gilt, was gestern noch linksliberaler Common-sense war.

– Kritisch gegenüber Big Pharma
– Skepsis gegenüber Gentechnologien
– Ablehnung von Überwachungsmechanismen
– Demokratische Kontrolle, Gewaltenteilung, kritische Medien

Am Besten verkörpert diese orwellsche Wendung Sadam Montgomery.

Noch 2018 wetterte der Mann gegen das Röntgen der Handwurzel von Asylbewerber mit den Worten, das wäre ein Eingriff gegen das „Menschenwohl“(sic!).

EDELSACHSE57
2 Jahre her

Siehste!
Für die gute Sache ist fast alles möglich.Da wird der Nationalismus und Patriotismus aus der Mottenkiste geholt.Wenn der gemeine Bürger die beiden Begriffe nützt ist es so was von gestern oder noch schlimmer.
Allen im Forum hier einen schönen ersten Advent!

Georg J
2 Jahre her
  • Ein gesellschaftsverbindendes und Unterschiede überwindendes „Wir“ bildet sich in einer freien Gesellschaft von „unten nach oben“. Dieses „Wir“, das über freiwillig eingegangene Mehrheiten verfügt, hat es nicht nötig, Minderheiten auszugrenzen,im Gegenteil, es legt Wert darauf, Minderheiten nicht auszugrenzen, sondern zu integrieren.
  • Das „Wir“ des „Coronaregimes“ wird mit einer ungeheuren Propaganda „von oben“ verordnet. Ein solches „Wir“ kann nicht einen, kann nicht Frieden schaffen, kann nicht „Gemeinschaft“ im eigentlichen Sinn erzeugen. Es erzeugt lediglich eine Gefolgschaft der Mehrheit aus Angst vor den Konsequenzen von oben. Diese „Nichtgemeinschaft“ benötigt einen „Sündenbock“ (ein Feindbild), um von der „Nichtgemeinschaft“ dieses Zwangssystems abzulenken.
Last edited 2 Jahre her by Georg J
humerd
2 Jahre her

Es gab mal ein Buch vom US-Bestseller-Autor Sean Brummel alias Tommy Jaud mit dem Titel “ Einen Scheiss muss ich “ . Es galt als Manifest gegen das schlechte Gewissen und als Befreiungsschlag gegen Bevormundung, Leistungswahn und Öko-/Klimaterrorismus. In einem Interview sagte er „“Einen Scheiß müssen wir! Die Leute sterben nicht, weil sie zu wenig Licht bekommen. Sie sterben, weil sie zu wenig Spaß haben.“