Österreich – die Insel der Unseligen

Die meisten Wähler wollen sich nicht über einen Reichtum und einen Frieden freuen, den man ja ohnehin besitzt. Jetzt wollen sie mehr, sie verlangen nach Glück, zur Not auch nach jenem, das ihnen die Demagogen verheißen. Fragt sich nur, ob man sich das Glück auf diese Weise verschafft.

Wer die Alpenrepublik besucht, lernt nicht nur ein Land von großer Schönheit kennen, sondern noch dazu eines von beeindruckendem Wohlstand. Nicht dass es nicht viele Kennziffern gäbe, die seiner jetzigen und jeder anderen Regierung Kopfschmerzen verursachen müssen, aber im Vergleich zu den meisten Staaten, die jenseits seiner südlichen und östlichen Grenze liegen, darf dieses Land sich wohlhabend nennen; im Vergleich zu den Staaten Afrikas und des Nahen Ostens sogar überaus reich – und zu all dem ist es wie gegenwärtig noch ganz Europa ein Refugium sowohl des äußeren wie des inneren Friedens.

Seinen Einwohnern geht es sehr viel besser als noch vor einem halben Jahrhundert – und das gilt selbst noch für den immer noch geringen Prozentsatz von Arbeitslosen, die weitgehend in Wohnungen und unter Bedingungen leben, von denen die meisten Österreicher in den ersten Nachkriegsjahren nur träumen konnten. Wo man in diesem Land – aufgrund welcher Ursachen auch immer – echter Not begegnet, ist es dem Wirken der Caritas zu danken, dass sie niemals auch nur im Entferntesten jenes Ausmaß erreicht wie in den wirklich armen Ländern des Globus. Wenn es – wie gerade von extremen Parteien und Bewegungen zu hören – an einer guten Regierung liegt, ob ein Land im Wohlstand lebt oder nicht, so scheint die Folgerung unabweislich, dass die Regierungen, die das Nachkriegsösterreich bis heute lenkten, allen Fehlern zum Trotz dennoch zu den besten der Welt gehörten.

Propagandistische Selbstbespiegelung?

Derartige Lobgesänge hören sich freilich ein wenig so an wie die Broschüren der jeweils herrschenden Regierungspartei, welche die eigene Leistung aus leicht verständlichen Gründen gern in den Himmel lobt und dabei alle Missstände geflissentlich auszublenden versucht. Kein Zweifel: Die besten Politiker – jeder stellt sie sich freilich auf seine Art vor – hätten ein noch weit besseres Gemeinwesen geschaffen; wobei man allerdings anmerken muss, dass auch in diesem Fall jeder sich den idealen Staat wiederum auf eigene Weise denkt. Was die Zukunft betrifft, so sieht das Bild dennoch weit weniger rosig aus. Es ist unbestreitbar, dass jüngere Menschen mit weit schwierigeren Arbeitsbedingungen kämpfen als die Generation ihrer Eltern. Zudem werden nur wenige leugnen, dass Wachstum als die eigentlich Reichtum schaffende Kraft gerade in diesen Jahren einen Plafond erreicht und uns in Zukunft ein harter Verteilungskampf um das Vorhandene droht.

Diese und viele andere Herausforderungen können jedoch nichts an der Tatsache ändern, dass es dem Land und seinen Bewohnern in seiner ganzen bisherigen Geschichte materiell niemals so gut ging wie selbst noch heute im Jahr 2016, dem Jahr der kaum ausgestandenen Krise. Blickt man von Afrika oder dem Nahen Osten nach Österreich, so stellt sich das Land ebenso wie Deutschland als eine Insel des Wohlstands und der Seligen dar – genau aus diesem Grund brechen ja so viele Menschen aus jenen Regionen nach Mitteleuropa auf.

Und dennoch: Missbehagen grassiert auf der Insel der Seligen

Diese Feststellung bleibt allerdings nur so lange richtig, wie man das Wort „materiell“ betont. Denn viele und immer mehr Österreicher sind mit ihrer Situation inzwischen so wenig zufrieden, dass ihr Land einem feinnervigen Beobachter eher als eine Insel der Unseligen erscheint. Eine breite Front – vermutlich schon eine Bevölkerungsmehrheit – lässt sich unter Führung der FPÖ bereitwillig davon überzeugen, dass das Land von den bisherigen Parteien so hoffnungslos ruiniert worden ist, dass nur eine Bewegung mit einem grundsätzlich anderen Programm das Land aus solcher Misere zu retten vermag – wenn es sein muss auch unter Missachtung oder Aufhebung demokratischer Spielregeln. So verbreitet und ausgeprägt ist dieses Missbehagen, dass Norbert Hofer, dem Präsidentschaftskandidaten der genannten „Bewegung“, mit großer Wahrscheinlichkeit das höchste Amt des Staates zufallen wird. Alexander van der Bellen, sein Konkurrent, entstammt zwar ebenfalls einer Protestpartei, doch ist diese nie mit dem erklärten Willen angetreten, einen als durch und durch morsch und korrupt deklarierten Staat, in dem Demokratie nichts mehr zustande bringe, aus den Angeln zu heben und autoritär neu zu erfinden – sie will ihn nur im Sinne der Ökologie und der sozialen Fairness reformieren; nicht anders übrigens als beide Volksparteien, soweit sie dieses Ziel nicht aus Gründen des globalen Wettbewerbs oder des Opportunismus auf die lange Bank abzuschieben beliebten.

Warum finden die Österreicher an ihrem eigenen Erfolg so wenig Gefallen?

Wenn ein Land aus der unparteiischen Sicht des Auslands zwar eine Erfolgsstory ist, aber ein wachsender Teil seiner eigenen Bevölkerung diesen Erfolg weder sieht noch sehen will, dann haben wir es mit einem Phänomen besonderer Art zu tun, das auf den ersten Blick paradox erscheint. Am materiellen Wohlstand dieses Landes ist nicht zu zweifeln, aber ebenso wenig an der fundamentalen Unzufriedenheit einer großen Zahl seiner Bewohner – den Beweis dafür wird der wahrscheinliche Sieg Norbert Hofers demnächst erbringen. Österreich ist in objektiver Sicht eine Insel der Seligen, aus der subjektiven Perspektive seiner Bewohner dagegen ein Land der Unzufrieden-Unseligen – dieses erstaunliche Phänomen bedarf der Erklärung.

Die Sehnsucht nach Gemeinschaft

Christian Felber, österreichischer Wirtschaftsanalytiker und scharfsinniger Kritiker der herrschenden Ökonomie, die, wie er sagt, dem Gemeinwohl längst mehr schade als nütze, hat die Lösung für dieses erstaunliche Paradox nicht gefunden, aber er führt ziemlich nahe an sie heran. Wie bekannt, ist der Wettbewerb für ihn eine Quelle des Übels. Wenn er an seine Stelle die gemeinschaftsfördernde Kooperation setzen will, dann verleiht er einer geheimen Sehnsucht Ausdruck, denn Wettbewerb ist ja nichts anderes als Kampf – also Distanz, Entfremdung, Gegeneinander, während Kooperation Menschen miteinander verbindet.

In seiner Kritik am Wettbewerb sieht Christian Felber freilich darüber hinweg, dass dieser den Reichtum moderner Gesellschaften einschließlich seines eigenen Landes überhaupt erst ermöglicht hat, weil erst der Wettbewerb Können und Wissen der einzelnen aus der feudalen Fesselung befreite. Im Feudalismus gab es Entfaltung fast ausschließlich von Gottes Gnaden, man musste als Adliger geboren werden oder als Kleriker von der Macht auserwählt sein; der Rest des Volkes, ganze neunzig Prozent, war lebenslänglich zu einer Handvoll angestammter Tätigkeiten verdammt. Dass sämtlichen Gliedern einer gesamten Bevölkerung – heute auch den Frauen – aufgrund eines allen zugänglichen Bildungssystems alle verfügbaren Posten bis hin zu Kanzler und Präsident offenstehen – je nachdem, ob sie sich durch ihr Wissen und Können dafür qualifizieren -, ist allein dem Wettbewerb zu verdanken, der in einem nunmehr zweihundertjährigen Prozess nach und nach die zuvor bestehenden Privilegien schleifte. Ohne den Wettbewerb, der zum Wesensmerkmal der Marktwirtschaft aller modernen Staaten gehört – auch einer sozialistisch autoritären wie in China – hätten sie das Potential an Talent, wie es bis dahin in ihren Bevölkerungen ungenutzt schlummerte, niemals auszuschöpfen vermocht. Der gebändigte Kampf – denn nichts anderes ist ja der ökonomische Wettbewerb – hat gigantische Kräfte entfesselt, gigantisch auch noch in seinen Entartungen, wenn an die Stelle sozialer Marktwirtschaft die Entwicklung zu einem äußerst rabiaten Neoliberalismus trat, der einerseits Menschen, andererseits die Natur verschleißt. Die auf Wettbewerb begründete Marktwirtschaft hat sich geschichtlich als das wirksamste Instrument zum Erwerb materiellen Reichtums bewährt.

Die rein ökonomische Effizienz zersprengt jede Gemeinschaft

Dennoch hat Christian Felber den Finger auf eine offene Wunde gelegt, denn das Wort Wettbewerb hat nicht nur für ihn, sondern für viele theoretisch ganz unbelastete Bürger seinen guten Klang eingebüßt – und nicht nur dieser Begriff: Die gleiche Abwertung betrifft inzwischen die meisten der mit unserem modernen Wirtschaftssystem verbundenen Wörter. Wer liebt denn noch den Kapitalismus? Wer zeigt sich noch begeistert vom technischen Fortschritt? Wer möchte noch etwas von Leistung hören und den ewigen Mahnungen, sie weiter zu steigern? Wer hat noch Sympathie für zentrale Institutionen unserer Wirtschaft wie Banken oder Konzerne? Mit deren Akteuren, d.h. Managern oder Bankiers, befasst man sich sowieso nur noch dann, wenn man sie kritisieren möchte. Und schließlich ist es auch kein Geheimnis mehr, das sogar Schlüsselwörter wie Demokratie und freie Wahlen (angeblich wären sie in Wahrheit ja doch niemals frei!) ihre Faszination eingebüßt haben, obwohl die Völker dereinst so lange und unter so großen Opfern für sie kämpfen mussten.

Hier offenbart sich die Wurzel des Paradoxes. Was so viele Österreicher, einschließlich Christian Felber, gefühlsmäßig abstoßend finden – der Grund für ihr tiefes Missbehagen – trägt ein Janusgesicht wie der Wettbewerb: Zwar vermochte erst dieser die schlummernden Kräfte der individuellen Entfaltung und des materiellen Aufstiegs zu wecken, doch erweist er sich zur gleichen Zeit als das wirksamste Instrument der sozialen Zerfaserung und Zerstörung. Wie wirtschaftlich rational ist es doch, wenn ein Betrieb Menschen augenblicklich feuert, sobald ein Mitbewerber die Aufgaben nur etwas besser oder billiger erfüllt! Wie ökonomisch zweckmäßig ist es doch, alle gefühlsmäßigen Hemmungen im Sinne dieser Rationalität beiseite zu schieben; wie gut ökonomisch begründbar ist es schließlich, sämtliche Traditionen und Neigungen der Menschen zu schleifen, die dem wirtschaftlichen Apparat keinen in der Bilanz ausweisbaren Nutzen verschaffen!

Doch was ökonomisch zweckmäßig ist, kann als Gift für menschliche Gemeinschaften wirken. Die soziale Zerfaserung und Zerstörung findet ihren unmittelbaren Ausdruck in der Einsamkeit des modernen Menschen, die gerade in den Ballungszentren der Städte am größten ist, dort wo Menschen sich auf engstem Raum aneinander drängen. An ihren Arbeitsplätzen müssen sie täglich erfahren, dass ihr Wert in der ökonomischen Megamaschine nicht hinausreicht über ihre bloße Funktionsfähigkeit, die ihrerseits aber nie gesichert, also immer nur vorläufig ist, weil ein noch funktionstüchtigerer Mitbewerber sie jederzeit aus ihrer Stelle verdrängen kann. Ein Apparat, in dem ausschließlich Leistung zählt, ist ökonomisch von maximaler Effizienz, aber sozial ein Desaster, denn menschliche Fürsorge oder gar Liebe sollen und dürfen hier nicht existieren.

Wie sehr dieser Imperativ mittlerweile sämtliche Lebensbereiche durchdringt, ist daran zu erkennen, das selbst Hilfsorganisationen sich dem Diktat der ökonomischen Effizienz unterwerfen: Jeder Handgriff, sei es das Umbetten eines Kranken, sei es die Verabfolgung einer Spritze, wird nach seinem Zeitaufwand definiert und gesondert abgerechnet. Auch das liebevolle Wort einem Sterbenden gegenüber kostet Zeit, also Geld; deshalb ist es, wirtschaftlich gesehen, unrentabel und in Gefahr, der Effizienz aufgeopfert zu werden.

Führt man das Prinzip des Wettbewerbs bis an sein logisches Ende, so entsteht eine Gesellschaft von menschlichen Robotern, die keine Gefühlsregung mehr miteinander verbindet, da sie allein dem unmenschlichen Imperativ der materiellen Effizienz gehorcht. Einsamkeit oder Anomie, wie sie der hellsichtige französische Soziologe Emile Durkheim schon vor mehr als einem Jahrhundert beschrieb, steht an der Wiege des modernen Wirtschaftssystems und könnte sie sehr wohl bis an ihre Bahre begleiten, denn in einer Hinsicht dürfte sich der Homo sapiens seit der Steinzeit ja kaum geändert haben: Er ist vor allem ein soziales Wesen, d.h. er lebt von der Achtung, Aufmerksamkeit und Liebe der ihn umgebenden Mitmenschen. Ausgesetzt auf einer menschenleeren Insel droht ihm Verkümmerung. Genau dieses Schicksal wird ihm heute von einer einseitig auf die ökonomische Effizienz fixierten Gesellschaft bereitet, zumal wenn jene traditionellen Instanzen, die den Menschen bis dahin in seiner Ganzheit und Einmaligkeit respektierten – also an erster Stelle die verschiedenen Kirchen – ihren Einfluss weitgehend verloren haben.

Verunsicherung durch das Fremde

Dieses gefühlsmäßige Vakuum, diese innere Leere und Entleerung, diese Not von Menschen, die nebeneinander her im selben Land, in derselben Stadt, im selben Haus existieren, sich aber nichts mehr zu sagen haben, brauchen Demagogen nicht zu erfinden: Sie sind gefühlte Realität, sie sind der Humus, auf dem das Missbehagen der Unseligen gerade dann blüht und wuchert, wenn alle physische Not überwunden wurde – jene Not der ersten Nachkriegsjahrzehnte, die dem Handeln ein fragloses Ziel und eine eindeutige Richtung gab. Selbst die ländliche Bevölkerung Österreichs, die noch vor zwanzig Jahren den Abend nach der Arbeit im Wirtshaus zu verbringen pflegte, leidet an dieser zerstörerischen Einsamkeit und Anomie. Das Land außerhalb der Städte ist ja bereits zu einer Art Vorstadt geworden: Materiell gesehen ist es wohlhabend bis reich, seelisch aber unzufrieden bis unglücklich gestimmt. Die Wirtshäuser schließen eins nach dem anderen, die Leute sind einander mittlerweile nicht weniger fremd als in den Städten, sogar noch fremder, weil die Stadt immerhin tausend Abwechslungen bietet und so die Menschen von ihrem Ego abzulenken vermag. Die ländliche Bevölkerung Österreichs scheint zutiefst verunsichert zu sein, was sich schon darin zeigt, dass sie allem Fremden gegenüber feindlich eingestellt ist, obwohl sie Fremden im eigenen Lebensraum kaum begegnet. Diese Tatsache überrascht freilich nur dann, wenn man darüber hinwegsieht, dass das Maß an gefühlsmäßiger Ent-Fremdung und Verunsicherung durch die Konfrontation mit den wirklich Fremden nur noch gesteigert wird. Das Multikulti-Wesen, das ihnen „die dort oben“ verordnen wollen, ist für die Menschen auf dem Lande keine Therapie, sondern ein Schreckgespenst.

Ein unüberwundener Widerspruch

Die materiell gesättigten Staaten des Westens sehnen sich nach der Wiederentdeckung, ja, Wiederbelebung ihres der Ökonomie geopferten Selbst. Haben die seelischen Opfer, die man dem Wettbewerb und der ökonomischen Effizienz bringen musste, nicht längst ihre Früchte getragen? Man ist reich, man hat alle physische Not erfolgreich beseitigt, jetzt möchte man diese Früchte endlich genießen; man möchte mit einem anderen und besseren Leben jenseits der ökonomischen Tretmaschine beginnen.

Genau hier beginnt die Tragik unserer Zeit. Weder ist das kleine Österreich noch selbst das große Europa souveräner Herr seines eigenen Schicksals: Erst haben wir den Wettbewerb nach außen getragen, jetzt sind wir ihm selbst ausgesetzt. Aufsteigende Staaten wie China und Indien befinden sich in einer ähnlichen Situation wie die Österreicher am Ende des vergangenen Krieges: Willig beugen sie sich den Imperativen der ökonomischen Effizienz, weil es für sie immer noch darum geht, echte physische Not zu beseitigen. Dadurch aber zwingen sie uns, den entwickelten Staaten, das Gesetz des Handelns auf. Denn es ist ja nicht so, dass einem reichen und nach außen offenen Staat keine andere Gefahr drohen würde, als dass er auf dem einmal erreichten Wohlstandsniveau stehen bliebe, sollte er sich dem internationalen Wettbewerb verweigern – viele Menschen in Europa wären vermutlich bereit, das ohne weiteres in Kauf zu nehmen. In Wahrheit kommt es viel schlimmer: Der bestehende Reichtum wird wieder abgebaut, die Produktionsbasis mehr und mehr an die Aufsteiger ausgelagert – ein Prozess, der ja trotz unserer Anstrengungen heute schon unübersehbar ist.

So kommt es, dass die Diktate der Ökonomie das Leben eines Staates selbst dann noch beherrschen, wenn dieser Staat materiell so gesättigt und reich wie Österreich ist. Die Haltung von Wirtschaft und Finanz ist in diesem Punkt ohnehin eindeutig: Beide bestärken die jeweilige Regierung darin, in jeder Lockerung der ökonomischen Imperative im besten Fall eine unverantwortliche Sozialromantik im schlimmsten reine Demagogie zu sehen.

Autoritäre Regime wie Russland oder China haben es leichter, mit dem Widerspruch zwischen ökonomischer Selbstbehauptung und menschlichen Bedürfnissen fertigzuwerden. Sie wiederholen das uralte Spiel, indem sie ihre Länder mit Nationalismus vollpumpen – die Menschen werden auf einen emotional sehr heißen, gemeinschaftsstiftenden Sinn eingeschworen. Dass die Welt auf diese Weise kaum friedlicher wird, hat uns Putin bereits bewiesen, aber das wird durchaus in Kauf genommen.

Österreich nur ein Gleichnis für das große Europa

Der ungelöste Widerspruch bringt auch bei uns die Demagogen ins Spiel. Der langsame, schwere, aber niemals mechanisch planbare Weg zur Gemeinschaftsbildung führt über Begeisterung, Liebe, Hingabe für Sachen oder Personen; der schnelle und in hohem Maße kalkulierbare Weg, wie ihn Hitler und zahllose andere dämonische Demagogen intuitiv erspürten, führt über Nationalismus und Hass. Hass verbindet wirksamer und schneller als jede andere Medizin. Kann man gemeinsam schimpfen, dann rückt man wieder zusammen, dann ist man sich wieder nahe. Auch auf diese Weise wird die verlorene Kommunikation wieder hergestellt, die Einsamkeit überwunden. Hofer wird siegen, weil seine Bewegung den Hass so erfolgreich mobilisiert.

Doch man gebe sich, bitte, mit dieser Feststellung nicht zufrieden, als hätte man mit einer solchen Anklage alles erklärt! Denn der Hass – das sollte man keinen Moment vergessen! – ist aus wirklicher Not geboren, der Not eines inneren Vakuums. Nur weil dieses Vakuum eine Tatsache ist, nur weil unser ökonomisch (bisher) so überaus erfolgreiches System, den tiefsten sozialen Bedürfnissen des Menschen so wenig entspricht, konnte sich dieser Hass entwickeln, nur deshalb ist er inzwischen stärker als alle Vernunft. Nur weil das Vakuum Hass erzeugt und der Hass die Vernunft verdunkelt, wird eine Mehrheit der Österreicher bei der Wahl des neuen Präsidenten völlig vergessen haben, dass es ihr materiell besser geht als jemals zuvor und ohnehin sehr viel besser als mindestens achtzig Prozent der Weltbevölkerung. Die meisten Wähler werden zu solchen Argumenten gleichmütig die Schultern zucken; was soll man sich schon über einen Reichtum und einen Frieden freuen, den man ja ohnehin besitzt? Jetzt wollen sie mehr, sie verlangen nach Glück, zur Not auch nach jenem, das ihnen die Demagogen verheißen. Fragt sich nur, ob man sich das Glück auf diese Weise verschafft.

Ist damit etwas gegen das kleine, schöne und stolze Österreich gesagt? Natürlich nicht, denn dieses Land ist ja nicht mehr als ein Gleichnis. Ist nicht ganz Europa bereits zu einer Insel der Unseligen geworden?

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