Die Sternstunde des Gewissens

Am 17. und 18. April vor 500 Jahren lehnte Martin Luther vor dem Kaiser und den Reichsständen auf dem Reichstag zu Worms den Widerruf seiner Theologie ab, behauptete seine christliche Freiheit als Individuum und begründete die Verantwortung des Menschen vor seinem Gewissen.

IMAGO / epd
Lutherdenkmal in Worms

Was war am 18. April 1521 geschehen, dass ein Bundespräsident einen Gedenktag für die Opfer der Corona-Pandemie ausgerechnet auf den 18. April 2021 legte, um nicht zum 500. Jahrestag von Luthers Auftritt in Worms reden zu müssen? Es ist allen bekannt, dass der April 30 Tage, davon vier Sonntage hat. Da dieser 18. April seit langem im evangelischen Festkalender einen herausragenden Eintrag darstellt, kann er dem Protestanten Steinmeier nicht unbekannt sein. Oder doch? So oder so stellt die demonstrative Kaum-Nichtachtung dieses Jubiläums an diesem Tag ein deutliches Statement des Bundespräsidenten dar.  Dabei handelt es sich um eine Sternstunde des Gewissens.

Martin Luther befand sich seit Januar 1521 im Kirchenbann. Nach zähen Verhandlungen zwischen Kaiser, Kurie und vor allem Luthers Kurfürsten Friedrich dem Weisen lud der junge Kaiser Karl V. den Wittenberger Professor auf den Reichstag zu Worms, damit er vor den Reichsständen seine Ansichten darlegt.

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Am 24. März 1521, einen Tag vor der Ankunft des Reichsherolds in Wittenberg, hatte Martin Luther noch einem Freund geschrieben: „Sie arbeiten daran, dass ich viele Artikel widerrufen soll, aber mein Widerruf wird dieser sein: Früher habe ich gesagt, der Papst sei der Statthalter Christi; jetzt widerrufe ich es, und sage: Der Papst ist Christi Widerwärtiger und der Apostel des Teufels.“ Er zweifelte nicht daran, dass der „allerheiligste Widersacher Christi, der oberste Anstifter und Lehrer der Mörder“ ihn vernichten wolle – so, wie er Johannes Hus auf den Scheiterhaufen geschickt hatte. Sicherheit in dieser schwierigen Situation fand er nur im Glauben: „Es geschehe der Wille des Herrn. Mein Christus wird mir den Geist geben, dass ich die Diener des Satans im Leben verachte und im Sterben überwinde.“ Tags darauf überbrachte der Reichsherold Luther die Vorladung des Kaisers: „Ehrsamer, Lieber, Andächtiger! Nachdem wir und die Stände des heiligen Reiches, die jetzt hier versammelt sind, uns vorgenommen und entschlossen haben, der Lehre und Bücher halber, die vor einiger Zeit von dir herausgegeben wurden, Erkundigung von dir einzuholen …“ Ein Kaiser, ein Kurfürst und ein Reichsfürst versprachen ihm freies Geleit.

Die berühmten letzten Worte

Nach der Reise von Wittenberg nach Worms, die sich zu einem Triumphzug entwickelte, trat Martin Luther am 17. April vor das Plenum des Reichstages und sollte, verhört von dem Trierer Offizial Johannes von der Ecken, seine Bücher widerrufen. Um Erläuterungen und Erkundigungen, wie es in der Einladung hieß, ging es nicht mehr. Luther bat sich Bedenkzeit aus, so kam es am 18. April zur entscheidenden Sitzung. Oft werden die Worte, die Martin Luther an den Kaiser und die Fürsten richtete, übersehen, doch bilden sie die Ouvertüre für das berühmte Statement von Worms: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen wider seinen Vater zu erregen.“ Damit warnte er den Kaiser, die falsche Partei zu ergreifen und dadurch zum Pharao oder zum König von Babylon zu werden und Schaden an seiner Seele zu nehmen. Die von Martin Luther zitierte Stelle stand in Verbindung mit der Aussendung der zwölf Jünger, um das Evangelium zu verbreiten: „Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in eine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Das Himmelreich brach dann an, wenn der Antichrist besiegt war – mit der Reform der Kirche. Im Grunde drehte Luther den Spieß um. Nicht er hatte zu widerrufen, sondern der Kaiser hatte seinen christlichen Auftrag anzunehmen, die Reform der Kirche einzuleiten, auch dafür hatte er, wenn es nottat, und das tat es, von Christus das Schwert bekommen. Luther nahm, was die EKD vergessen will, den Missionsbefehl ernst. Tags zuvor hatte er sich vor dem Kaiser mit Matthäus 10,32 darauf berufen, Gott mehr zu fürchten als die Menschen und zur Mission ausgesandt worden zu sein: „Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will auch ich verleugnen vor meinem Vater im Himmel.“

Das Gewissen ist entscheidend

Von der Ecken befahl dem Wittenberger Mönch, seine Schriften zu widerrufen und sein Gewissen fahren zu lassen. Das aber konnte Luther nicht, denn „das Gewissen ist im Wort Gottes gefangen, und ich kann und will nicht irgendetwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln. Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen.“ Oft ist in Abrede gestellt worden, dass Luther die letzten Worte gesprochen hat. Vor allem aber wurden sie zuweilen missverstanden: Nicht Trotz oder Widerstand, sondern Demut spricht aus ihnen.

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Im Evangelium heißt es nicht umsonst, dass man Gott gebe, was Gottes, und dem Kaiser gebe, was des Kaisers ist. Ganz im Sinne der „Freiheit eines Christenmenschen“, als Konsequenz der Zwei-Regimente-Lehre besteht Luther darauf, dass es keinen Zwang im Glauben geben darf, dass er als Christ zu seinem Glauben stehen muss, über den die weltlichen Herrscher, letztlich aber auch die Päpste, Kardinäle und Bischöfe keine Gewalt haben. Im „Sermon über die Kraft der Exkommunikation“ dachte er bereits 1518 über die Spannung zwischen Glauben und Institution nach. Für ihn war die Gemeinschaft der Gläubigen eine zweifache: „Die eine ist innerlich und geistlich, die andere ist äußerlich und leiblich.“ Aus der Gemeinschaft mit Christus oder der Gemeinschaft der Heiligen kann sich der Mensch nur selbst entlassen, indem er sündigt und sich von Gott entfernt.

Würde Luther also widerrufen, würde er sich selbst aus der Gemeinschaft mit Christus entlassen und sein Seelenheil verlieren. Deshalb kann er nicht anders, deshalb kann ihm nur Gott helfen, kein Papst, kein Kaiser, kein Bundespräsident.

Die Sternstunde von Worms ist die Behauptung des Individuums vor Gott und dem Menschen, ist die Vollmacht des Gewissens. Präziser kann man das Gebot der Meinungs- und Glaubensfreiheit nicht definieren. Martin Luther warnt: „Denn wie streng sie gebieten und wie sehr sie loben, so können sie die Leute nicht weiter nötigen, als dass sie ihnen mit dem Mund und mit der Hand folgen; das Herz können sie ja nicht zwingen, und wenn sie sich zerreißen sollten.“ Er geht sogar so weit, dass die von ihm zutiefst verabscheuten Ketzer nicht mit Feuer und Schwert zu bekämpfen seien, sondern dass man sich mit ihnen rein argumentativ auseinanderzusetzen hat. Das bessere Argument wird sich schon durchsetzen, meinte der Reformator im ganz praktischen Gottvertrauen.

Die Wahrheit wird siegen

Aktivistin auf der Kanzel
Luisa Neubauer im Berliner Dom: Die Gottesaustreibung
Da die Wahrheit bei Gott ist, wird sie siegen. Andere Meinungen zu kriminalisieren und ihnen mit staatlichen Repressionen zu begegnen, hält Martin Luther nicht nur für Gotteslästerung, sondern er zeigt sich felsenfest davon überzeugt, dass diese Repressalien auf ihre Hervorbringer, die für ihn Gotteslästerer sind, zurückfallen werden. Denn: „Sie treiben damit die schwachen Gewissen mit Gewalt dazu, zu lügen, zu verleugnen und anders zu reden, als sie es im Herzen meinen, und beladen sich selbst so mit graulichen fremden Sünden. Denn alle die Lügen und falschen Bekenntnisse, die solch schwache Gewissen tun, fallen zurück auf den, der sie erzwinget.“ Und der Reformator folgert daraus: „Es wäre jedenfalls viel leichter, wenn ihre Untertanen schon irreten, dass sie sie schlechthin irren ließen, als dass sie sie zur Lüge und anders zu sagen nötigen, als sie es im Herzen haben. Es ist auch nicht recht, dass man Bösem mit Ärgerem wehren will.“

Wie müssen diese Worte einem Bundespräsidenten quer im Magen liegen, dass er am Tage des 500. Jubiläums, einem Sonntag noch dazu, zu diesen Worten nicht sprechen will? Worms jedenfalls stellt die Geburtsstunde des modernen Europas, des Europas des Individuums, der bürgerlichen Freiheit dar – aber die wird uns ja gerade von einer Pfarrerstochter vorenthalten. Und ein Bundespräsident hindert sie nicht daran.


Dieser Artikel von Klaus-Rüdiger Mai erschien zuerst in IDEA Nr. 15-2021 ( idea.de). Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

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Kommentare ( 9 )

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fischer
3 Jahre her

seien wir doch froh, daß das Gedenken an Luthers Mut und Standhaftigkeit nicht durch eine dieser Steinmeier-Wischi-Waschi-Reden befleckt wird.
Daß der eitle Kreuzesverleugner Bedford-Strohm lieber in Berlin rumlungert statt sich in Worms zu Luther zu bekennen – hat irgendjemand etwas anderes erwartet ??

Wolf Koebele
3 Jahre her

„Es wäre jedenfalls viel leichter, wenn ihre Untertanen schon irreten, dass sie sie schlechthin irren ließen, als dass sie sie zur Lüge und anders zu sagen nötigen, als sie es im Herzen haben. Es ist auch nicht recht, dass man Bösem mit Ärgerem wehren will.“ Das haben die Lutherischen aber nicht beherzigt (s. die sog. Orthodoxie), Man sehe in diesem Licht nicht nur Fichtes „Berufsverbot“ in Jena; es ist nur das bekannteste. – Und heute? Da wendet sich der Gast mit Grausen…

Physis
3 Jahre her

Lieber Herr Mai. Der 18.04. hat mir bestenfalls HEUTE soviel gesagt, dass Sonntag ist, wenn ich denn jemals einen Sonntag mit einem Datum verbunden hatte. Ich glaube, es gibt aber sogar eine Zeit, in der sämtliche Advente auf einem Sonntag treffen, könnte mich aber irren, da die christliche Kirche hier genauso undurchschaubar ist, wie der Verlauf von Ebbe und Flut. Es soll aber vierte Advente geben, die ausgerechnet am 24.12. statt finden! Für mich als Laie übrigens die Quintessenz einer Weihnacht! Naja, ob nun ein Steinmeier ausgerechnet an einem 18.04. dazu aufruft, der bereits mit und an Corona Verstorbenen zu… Mehr

Mausi
3 Jahre her

Eine interessante Geistesübung ist es auch, sich vorzustellen, wie sich die Geschichten aus dem neuen Testament heute in D zutragen würden. Würde Christus das Internet nutzen, anstatt körperlich vor den Menschen zu stehen? Ich denke nicht. Eine christliche Gemeinde lebt insbesondere auch von der körperlichen Nähe. Würde Christus Menschen von einem Ort zum anderen befördern, damit sie dort vom Staat versorgt werden? Das hätte er damals auch haben können, denn der römische Staat hat ja durchaus die Armen unterstützt. Würde er wollen, dass wir uns vor Corona fürchten? Dass wir unsere Eltern in den Seniorenresidenzen weiterhin nicht in den Arm… Mehr

Alexander Schilling
3 Jahre her

Dergleichen Worte hätte man sich von der EKD, am besten aus Worms, erwartet;nun gut, jetzt sind sie aus den Neuen Medien in die Welt hinaus gegangen. Die katholische Kirche hatte ein paar Jahrzehnte benötigt, um in Trient auf Luthers Bewegung zu reagieren. Derzeit scheint der neue Franziskus ein briefing zu veranstalten zu wollen: haben die Globalisierer schon den Vatikan unterwandert?

Last edited 3 Jahre her by Alexander Schilling
Kassandra
3 Jahre her
Antworten an  Alexander Schilling

Tja. Fratelli tutti. Und seltsame Streiter scheinen Einfluss zu nehmen, denn unterstützend geschrieben wurde die Enzyklika von einem, vor dem Hamed Abdel Samad schon 2016 warnte: https://www.cicero.de/aussenpolitik/die-dialogindustrie-respekt-als-eine-einbahnstrasse/60668 Wofür Luther stand, scheint heute ein Dorn im Auge vieler – denn damit kann man die Politik uns zu Lasten nicht begründen: Sola fide – allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Werke – Röm 3,28 LUT: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Sola gratia – allein durch die Gnade Gottes wird der Mensch errettet, nicht durch eigenes… Mehr

EinAlterWeisserMann
3 Jahre her

Wenn Satan sich den Menschen offenbart, wird er nicht sagen: „Ich bin der Antichrist!“ Er wird sagen: „Ich bin die Gebenedeite. Ich bin die heilige Angela, eure gütige Mutti, die euch ins Licht führt. Darum tragt eure Masken als Zeichen der Unterwerfung – und der Tod hat keine Macht mehr über euch, denn ich bin der Lichtbringer!“

Frank v Broeckel
3 Jahre her

Als renegates CDU Mitglied und somit selbstverständlich auch als der offizielle Vater aller Nationalisten und Populisten hier in Deutschland, der heutzutage bereits das zehnte(!) Strafverfahren GEGEN die eigene Person provoziert hat, um nach dem Eintritt der Illegitimität einer Extralegalität und der absoluten Unvereinbarkeit von Parteiendemokratien und extrakonstitutionelle Notstandsmassnahmen eine ordnungsgemäße Republik, Parteiendemokratie und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, nur soviel: Da ich persönlich bereits zum zehnten Male eine Haftstrafe zur Wiederherstellung der Republik, der Parteiendemokratie und der Rechtsstaatlichkeit hier in Deutschland persönliche riskiere, habe ich Meine Verteidigungschrift anlässlich eines weiterhin laufenden Strafverfahren des Staatsschutzes Sachsen GEGEN meine Person ebenfalls mit den berühmten Worten… Mehr

Schmidtrotluff
3 Jahre her

Der Maoist Steinmeier kann mit Luther offensichtlich nichts anfangen. Die Chinesen verstehen ja auch Tibet nicht. Beide erkennen nicht den mentalen und transzendentalen Wert des Individuums, der Geschichte und der Vorfahren.
Das ist kein Bundespräsident. Das ist eine Anmaßung sondersgleichen. Die Deutschen brauchen keinen starken „Bund“. Die Länder, Städte und Dörfer sind das Salz der Erde.