Internes Papier des Verteidigungsministeriums verkennt erneut die Lage in Afghanistan

In einem Papier des Verteidigungsministeriums wird die Sicherheitslage in Kabul beschönigt. Die Flughafen-Abriegelung der Taliban hätte bei der Evakuierung geholfen, heißt es. Doch in Wirklichkeit führt die Abriegelung zu noch mehr Chaos, die Afghanen an der Flucht hindern soll, um Vergeltung zu üben!

IMAGO / ZUMA Press
Ein "Evacuee Control Checkpoint" (ECC) amerikanischer Soldaten am Flughafen in Kabul

In einem internen Papier des Bundesverteidigungsministeriums vom 17.08.2021 heißt es auf Seite 2 unter Punkt „1. Bedrohungs- und Sicherheitslage Afghanistan“:

„Die Taliban haben die Bevölkerung dazu aufgerufen, ehemalige Beamte der Regierung nicht anzugreifen und der Bevölkerung versichert, privaten Besitz zu respektieren. Rund um den Flughafen Kabul wurden Sicherungsposten durch die Taliban eingerichtet, die die Zufahrt zum Flughafen kontrollieren. Dadurch beginnt sich die Lage am Flughafen zu beruhigen. Mit der Abriegelung des Flughafens ermöglichen die Taliban den internationalen Kräften zunehmend einen geordneten Flugverkehr zu Evakuierung ihrer Staatsangehörigen einzurichten. Gleichzeitig wird jedoch durch die Abriegelung des Flughafens für AFG Staatsbürger eine Evakuierung ehemaliger AFG Ortskräfte erschwert.“

Diese Darstellung der Bedrohungs- und Sicherheitslage hat wenig mit der Realität zu tun. Die Taliban haben zwar behauptet, dass es keine Vergeltungsaktionen gegen Personen, die für den Westen gearbeitet haben, geben wird. Doch es erscheint abwegig, dass das deutsche Verteidigungsministerium solch eine Aussage einer islamischen Terrorgruppe, die seit Jahrzehnten immer wieder Racheakte ausführte, ernsthaft glaubt? Wie naiv ist das von Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) geleitete Verteidigungsministerium? An diesem Tag des internen Lageberichts existierten bereits Listen, auf denen Personen mit möglichen Adressen standen. Noch am selben Tag und vor allem am Tag darauf, gingen Taliban-Kämpfer von Tür zu Tür, um ihre brutale Vergeltung durchzuführen. Auch dass der private Besitz von den Taliban „respektiert“ werden würde, ist mehr als unwahrscheinlich. Die Taliban sind dafür bekannt zu plündern. Nicht zu vergessen: Als sie erstmals 1996 die Macht übernahmen, zerstörten sie die berühmten Buddah-Statuen von Bamiyan. Seit dem Einmarsch in Kabul vernichten viele Menschen alles, was Rückschlüsse auf ihre vorherigen Tätigkeiten wie Journalismus, Politik oder Hilfsorganisationen geben könnte. Aus Angst, dass die Taliban sie ermorden, falls private Besitztümer etwas verraten könnten, verbrennen oder vergraben Menschen in Kabul alles mögliche. Diejenigen, die sich nicht zum Flughafen trauen, verschanzen sich.

Auch dass rund um den Flughafen Kabul sogenannte „Sicherungsposten“ von den Taliban eingerichtet wurden, um „die Zufahrt zum Flughafen“ zu „kontrollieren“, ist eine euphemistische Darstellung der Realität. Es handelt sich nicht um Wachposten, die für eine Sicherung des Flughafens und der Menschen dort sorgen sollen. Ganz im Gegenteil. Es handelt sich um Kontrollschalter rund um den Flughafen, die dafür sorgen sollen, dass keine afghanischen Bürger ausreisen können. Vermeiden wollen die Islamisten damit, dass afghanische Ortskräfte, die für westliche Staaten arbeiteten, entkommen können – um ihre Vergeltung an ihnen vollstrecken zu können. Die Islamisten wollen „Verräter“ und „Abtrünnige“ nicht entkommen lassen.

Des Weiteren wollen die Taliban natürlich nicht den von ihnen verhassten Amerikanern und anderen westlichen Staaten den Flughafen Kabul überlassen. Zeitgleich zur Evakuierung landete noch am selben Tag eine Taliban-Delegation aus Doha am Flughafen in Kandahar, mit einer C17-Maschine der Qatar Air Force, die vor dem Rückflug nach Qatar in Kabul landete. Man muss damit rechnen, dass noch weitere Mitglieder und Führer der Taliban, aber auch demnächst Führer anderer Regierungen und Terrorgruppen über die Flughäfen Kandahar und Kabul einreisen werden. Die Taliban haben also das Ziel, den Flughafen in Kabul bald nicht nur von außen zu kontrollieren.

Die Aussage im Papier des Verteidigungsministeriums, dass mit der Abriegelung des Flughafens die Taliban einen geordneten Flugverkehr ermöglichen, klingt sogar so, als sei das Verteidigungsministerium nahezu froh darüber – ja als wären die Taliban ihnen eine große Hilfe. Im Gegenteil ist die Abriegelung aber eine humanitäre Katastrophe und keine Hilfe. Nun ist es für Afghanen, die besonders schutzbedürftig sind – aufgrund ihrer früheren Tätigkeiten etwa als Ortskräfte, Bürgermeisterinnen oder Frauenrechtskämpferinnen – lebensbedrohlich, zum Flughafen zu gelangen, um aus Afghanistan zu flüchten. Von einem „geordneten Flugverkehr“ kann auch nicht die Rede sein, wenn immer noch großes Chaos, ja sogar eine noch größere Panik seit der Einrichtung der Taliban-Kontrollschalter herrscht. Die Taliban schossen auf Menschen, die versuchten über die Mauern des Flughafens zu klettern. Das was sich am Flughafen seit dem Einmarsch der Taliban abspielt, ist alles andere als „geordnet“!

Auch Außenminister Heiko Maas (SPD) betonte zusammen mit Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in einer Pressekonferenz am 17. August, dass die Lage am Flughafen Kabul sich stabilisiert habe. Es war die Rede von einer „sicheren Schleuse“. Doch Videos und Berichte zeigen, dass auch dies nicht der vollständigen Wahrheit entspricht. Es ist der Versuch, nun den Anschein zu erwecken, als habe man jetzt endlich nach dem skandalösen Versagen der deutschen Bundesregierung die Lage unter Kontrolle. Aber dem ist nicht so. Viele einheimische Helfer von deutschen Organisationen berichten von Schwierigkeiten, zu den Evakuierungsflügen zu gelangen.

Die Deutsche-Presse-Agentur dpa berichtete beispielsweise über zwei Ortskräfte, die von US-Soldaten nicht auf das Gelände durchgelassen würden. An den Eingängen hätte es keine deutschen Soldaten gegeben. Stattdessen wurden Schüsse in die Luft gefeuert und Tränengas eingesetzt – diesen Beschreibungen gleichen auch Video-Aufnahmen von vor Ort. Auch würden die US-Soldaten oftmals nur „ihre eigenen Leute“ durchlassen. Zudem sind die Straßen immer noch völlig verstopft und nahezu unpassierbar. Mittlerweile fordern die Taliban mit Gewaltdrohungen und Schüssen in die Luft alle Menschen auf, den Flughafen zu verlassen, die keine Reisegenehmigung haben. Deshalb sei ein erneutes Chaos dort ausgebrochen. Der Spiegel berichtete, dass ein Taliban-Vertreter erklärte, dass zwölf Menschen im Zuge der Massenpaniken am Flughafen gestorben oder erschossen worden seien.

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Kommentare ( 40 )

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alter weisser Mann
2 Jahre her

„Mit der Abriegelung des Flughafens ermöglichen die Taliban den internationalen Kräften zunehmend einen geordneten Flugverkehr zu Evakuierung ihrer Staatsangehörigen einzurichten.“
Klar und Überbelegung der Maschinen ist dann auch kein Thema mehr, man fliegt für ca. 7 Leute kommt ja keiner mehr auf den Flughafen vor lauter Taliban-Ordnung..

Deutscher
2 Jahre her

Ich weiß nicht, ob das wirklich so dramatisch zugeht in Afghanistan. Die Kameras und Augen sind auf einen Hotspot gerichtet, an dem sich alle versammeln, die abhauen wollen. Sie haben es sehr eilig, wegzukommen und die Möglichkeiten dazu sind wenige. Dementsprechende Bilder bekommen wir serviert. Im Rest des Landes scheint aber alles weitgehend normal zu sein.

Kann es etwa sein, dass man mal wieder – salopp gesagt – aus einer Mücke einen hypermoralischen Elefanten macht?

Last edited 2 Jahre her by Deutscher
Kassandra
2 Jahre her
Antworten an  Deutscher

Zumal die Taliban bis jetzt erklären, keine Rache an Kollaborateuren nehmen zu wollen. Sie rufen die Staatsbediensteten auf, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren, wollen – soweit es die Scharia zulässt – Frauen und Mädchen Bildung und Berufsmöglichkeiten eröffnen und den Anbau von Mohn in Afghanistan komplett beenden. Sollten die Taliban diesbezüglich Wort halten, was von westlichen Kommentatoren vorsorglich stark in Zweifel gezogen wird, dürfte die von den gleichen Kommentatoren an die Wand gemalte Flüchtlingswelle Richtung EU ausbleiben, oder zumindest schnell wieder abebben.
Ich frage mich auch – was läuft hier wirklich?

Julius Schulze-Heggenbrecht
2 Jahre her

In Kabul sitzen noch immer deutsche Staatsbürger fest, die es nicht bis zum Flughafen geschafft haben. Ich frage mich nun, was passiert, wenn die Taliban (die ja aus vielen verschiedenen und nicht unbedingt einheitlich handelnden Gruppen bestehen) deutsche Staatsbürger in Kabul ermorden? Scheint ja nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis das geschieht … Vor allem werden diese Opfer dann Zivilisten sein und keine deutschen Soldaten. Werden DANN endlich die gewissenlosen und unsagbar dummen Polit-Clowns, die daran die Schuld tragen, zur Verantwortung gezogen? Was muss eigentlich noch alles geschehen, damit der deutsche Michel diese unfähige Politdarstellerbande vom Hof… Mehr

Deutscher
2 Jahre her

Warum sollten die Taliban Deutsche ermorden? Die haben doch ganz andere Zielsetzungen. Die verfolgen eine klare Strategie der Machtübernahme in Afghanistan. Die paar Deutschen sind denen doch schnuppe.

Davon abgesehen darf man fragen, was deutsche Zivilisten überhaupt in einem angeblich unsicheren Herkunftsland voller Krieg und Gefahr verloren haben – es sei denn, es ist in Wirklichkeit gar nicht sooooo gefährlich.

Man bindet uns einen Coronabären auf, warum nicht auch einen Afghanistanbären?

Mir ist ehrlich gesagt völlig schnurz, was dort passiert. Und unsere Soldaten haben sich freiwillig zum Einsatz dort gemeldet, das muß bei aller Solidarität auch mal gesagt werden.

Last edited 2 Jahre her by Deutscher
Kassandra
2 Jahre her

Es wäre inzwischen schon interessant zu wissen, wer da noch festsitzt und das Recht auf einen Flug hat. Die Diskussion bewegt sich so im Ungewissen, wenn man nicht weiß, um was und wie viele es überhaupt noch gehen kann.
Und nach ersten Erklärungen der Taliban sieht es nicht danach aus, als wollten sie sich durch das Töten von Menschen hervortun.

Wolf Koebele
2 Jahre her

Für die Deutschen in ihrer Mehrheit ist es unvorstellbar, daß man Kenntnisse und Fähigkeiten schätzen kann. Vielleicht lassen die Taliban keine „Ortskräfte“ ausreisen, weil sie deren Kenntnisse benötigen (Wer kann einen Hubschrauber neuester Bauart fliegen?) und ihnen diese Leute genauso servil dienen werden wie zuvor den Deutschen. Gute Arbeit um den Preis der Duldung.

Kassandra
2 Jahre her
Antworten an  Wolf Koebele

Es gibt Amnestien – und Trump sagt, die von den westlichen Streitkräften Ausgebildeten wären mit Streichen des Salärs, das ebenfalls durch den Westen aufgebracht wurde, direkt übergelaufen.
Wen wollen die also hierher holen?

Ralf Poehling
2 Jahre her

Die Aufklärung funktioniert nicht. Weil unsere Dienste mutwillig kastriert worden sind. Von Menschen, die den Ernst der aktuellen Situation nicht begriffen haben und vermutlich auch nicht begreifen wollen.
Und damit meine ich nicht die Verteidigungsministerin.

November Man
2 Jahre her

Laut Seehofer gestrigen Pressekonferenz sind es insgesamt 2 bis 4 Ortskräfte. Von den 4 wollen angeblich 2 noch nicht nach Deutschland. Er vergaß aber nicht zu erwähnen, dass die 2 weitere 5 Familienangehörige mitbringen..
Wir alle werden verar….nach Strich und Faden.

Andreas aus E.
2 Jahre her

Deutschlandfunk berichtet eben schon von Talibanmassaker an Angehörigen einer schiitischen Minderheit.
Neun Männer seien gemordet worden.

Pardon! Da waren Massaker in Paris, Nizza, Berlin weit „effektiver“…
Jetzt läuft diese Propaganda wieder an, auf daß bei uns alle aufgenommen werden.

StefanB
2 Jahre her

„Auch dass rund um den Flughafen Kabul sogenannte „Sicherungsposten“ von den Taliban eingerichtet wurden, um „die Zufahrt zum Flughafen“ zu „kontrollieren“, ist eine euphemistische Darstellung der Realität.“

Arbeitsthese Nr. 2 der linksgrünen Weltverbesserer: Was nicht passt, wird passend gemacht. In diesem Fall durch die übliche Realitätsumkehrung (= Lüge).

Weiss
2 Jahre her

Wenn folgende Quelle die Wahrheit sagt, dann steht fest, dass das BRD-Verteidigungsministerium nicht ganz im Bilde ist oder die Öffentlichkeit bewußt falsch informiert. Folgende Quelle sagte vor 5 Stunden, dass sie Verbindungen zu Mitarbeitern der USA in Afghanistan habe. Die Quelle bekomme von diesen Kontaktpersonen in Afghanistan regelmäßig Infos. Die Quelle sagte vor 5 Stunden, dass Übersetzer für die USA nicht zum Flughafen von Kabul durchkommen können, da die Taliban sie davon abhalten würden: Alex Plitsas ?? auf Twitter: „I just woke up and my inbox is flooded with messages again from interpreters who say that the Taliban are still… Mehr

Weiss
2 Jahre her

Das taufrische Video fand ich auch ganz interessant. Die Quelle ist direkt vor Ort in Afghanistan bzw. in Kabul und berichtet regelmäßig. Habe die schon länger auf dem Schirm… Im Video vor dem Flughafen sieht man wohl, dass radikal islamische Taliban-Terroristen nur wenige Meter von den US-Soldaten entfernt stehen ? Wer waren sonst die schwerbewaffneten Zottelbärte am Ende des Videos ? Hilfskräfte, afghanische Soldaten oder Taliban ? 20 Jahre haben sie gegeneinander gekämpft und beide Kriegsparteien trennen wohl nur noch wenige Meter voneinander ? Afghanistan 24/7 auf Twitter: „#KabulAirport People want to go out anyway and are willing to risk… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Weiss