Hannah Arendt contra Wladimir Putin

Wie schon mal gegen Ende der 1920er nach der Weltwirtschaftskrise breiten sich Zweifel und Ratlosigkeit aus. Ihre sichtbaren Folgen sind die zunehmende Polarisierung der politischen Lager: In Frankreich, Italien, Polen, Ungarn noch mehr als in Deutschland.

© Andreas Solaro/AFP/Getty Images

Es ist wohl unserer Primatennatur geschuldet, dass große Gefühle so oft mit dem Triumph über Feinde verbunden sind. Die Ilias ist ein Heldengesang, wo mit höchstem Aufwand an dichterischer Inspiration die blutigsten Siege gefeiert werden. Kein Wunder also, dass der neue russische Zar seine Landsleute seinerseits auf die uralten Gefühle einschwört. Immer öfter hört man aus seinem Mund, wie heldenhaft das russische Volk sich gegen den Faschismus gewehrt und ihn schließlich überwunden habe. Endlose Paraden, endlose Beschwörungen. Man sieht es den Gesichtern der jungen Soldaten und steinalten Veteranen an, wie ihnen die Gänsehaut kommt, wenn sie an die glorreichen Tage denken …

Und natürlich lässt Putin die Gelegenheit nicht aus, den Westen anzuklagen, der es ganz offensichtlich in boshafter Absicht unterlässt, den Russen dafür zu danken, dass sie es waren, die den Sieg über Hitler und den Faschismus ermöglicht haben. Ohne die rote Armee wäre es den westlichen Mächten nie gelungen, Hitler zu überwunden. Die bei weitem größten Opfer seien schließlich auf ihrer Seite erbracht. Diese Wahrheit werde in der westlichen Propaganda, in den Medien und in Volksbefragungen beharrlich verschwiegen. Da könne man immer nur hören und lesen, dass der Sieg über die Pest des Faschismus dem Westen zu danken sei.

Schwere Fehler des Westens

Das große Talent des russischen Präsidenten besteht in der Kunst, Wahrheit und Lüge auf so subtile Art miteinander zu amalgamieren, dass das eine vom anderen am Ende kaum noch zu trennen ist. Denn er hat ja durchaus Recht – kein Historiker würde das ernsthaft bestreiten – dass Hitler an der russischen Abwehr gescheitert ist und dass dieser Sieg weit größere Opfer von den Russen gefordert hat als von den Alliierten. Für die Sowjets war es überdies ein gerechter Krieg, denn ihr Land wurde ohne alle russische Provokation auf brutale, durch nichts zu rechtfertigende Art von Deutschland überfallen. Hätte Hitler nicht noch weit fürchterlichere Verbrechen begangen, so wäre dies allein schon genug, um ihn nicht nur als Unhold in die Geschichte eingehen zu lassen, sondern zudem noch, wie Sebastian Haffner sagt, als den größten Feind der Deutschen. Er hat das Verhältnis zu ihren russischen Nachbarn, das aufgrund kultureller Gemeinsamkeiten oft genug freundschaftlich eng und von gegenseitigem Verständnis geprägt war, auf hinterhältige Weise geschädigt. Eine solche Schädigung fand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dann noch einmal statt. Der Westen hat damals die einmalige Chance versäumt, dem Land mit tatkräftiger Kooperation zu helfen. Stattdessen wurde Russland in den neunziger Jahren, wo es daniederlag, mit unverkennbarer Häme gedemütigt – vor allem von Seiten der USA.

Das erklärt das Verhalten Putin, rechtfertigt aber nicht die von ihm zu politischen Zwecken betriebene Fälschung der Geschichte. Denn diese geschieht ganz bewusst – ich halte den russischen Präsidenten für viel zu intelligent, um seinen eigenen Parolen zu glauben. Oder sollte er die Geschichte wirklich so schlecht kennen, dass ihm die entscheidende Rolle des Westens bei der Niederschlagung des Nationalsozialismus entgeht? Tatsache ist, dass ohne die Alliierten nur eine Diktatur die andere abgelöst hätte; eine staatliche Mafia – das Regime Stalins – wäre an die Stelle einer anderen getreten. Dagegen war es die Hoffnung auf Freiheit, welche Europa erlöste: die Verheißung einer Rückkehr der politischen, ökonomischen, sozialen Selbstbestimmung, also alles dessen, was es unter Stalin ebenso wenig wie unter Hitler gegeben hatte. Gewiss haben die Russen sich heldenhaft gegen einen heimtückischen Überfall gewehrt – das uralte Recht jeder angegriffenen Nation -, aber für die Freiheit war damit noch nichts gewonnen. Das sowjetische System ist ebenso über Millionen von Leichen geschritten wie das nationalsozialistische.

Deswegen hat die Sowjetunion, so siegreich sie war, nirgendwo die Menschen vom Faschismus „befreit“. Sie hat nur dafür gesorgt, dass die Freiheit eine offene Tür vorfand. Dafür können ihnen die von Nazis überfallenen Völker dankbar sein, aber auch wirklich nur dafür allein. Überall dort, wo die Sowjets selbst zur Besatzungsmacht wurden, haben sie das Erbe der Besiegten übernommen, indem sie die Freiheit ihrerseits mit Panzern platt walzten. Wenn das gegenüber Gorbatschow mündlich abgegebene Versprechen, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, so schnell gebrochen wurde, dann aus der immerhin verständlichen Angst des östlichen Europa, neuerlich unter die Knute ihrer „Befreier“ zu geraten.

Zwei totalitäre Unrechtsstaaten

Das ist Geschichte, die jedermann kennt – natürlich auch Putin. Trotzdem arbeitet er beharrlich an dem Projekt, die Vergangenheit der Sowjetunion nachträglich rein zu waschen, so als wäre es ein liberaler, freiheitsliebender Stalin gewesen, der die Zukunft des Alten Kontinents damals in glücklichere Bahnen lenkte. Aber wie es in Wirklichkeit war, dazu hat Hannah Arendt schon alles gesagt. Dennoch scheint es nötig zu sein, in den Zeiten einer neuerlich auflebenden Propaganda, die keine Scheu vor den dreistesten Lügen kennt, ihre zentrale These zu wiederholen. Die Sowjetunion war ein totalitärer Unrechtstaat, nicht anders als das Naziregime. Das Individuum zählte nichts, es wurde zu Millionen geopfert, wenn die Staaträson oder – richtiger gesagt – der Wille eines misstrauisch rachsüchtigen Diktators an seiner Spitze, das für richtig befand. Beide Regime waren skrupellos mörderisch.

Von der Moral der Geschichte
Aufstieg und Niedergang am Beispiel Deutschlands und der Vereinigten Staaten
Ein Unterschied allerdings spricht auf den ersten Blick für das Sowjetregime – das kommunistische Ideal einer Brüderschaft aller Menschen war von transzendenter Reinheit – es hätte dem Neuen Testament entlehnt sein können. Die Naziideologie dagegen erschien von vornherein atavistisch: es zerteilte die Menschheit in WIR und die ANDEREN. Dieser Unterschied war es, der einen Großteil westlicher Intellektueller – selbst einen Mann wie Arthur Koestler, der darüber später selbstkritisch Rechenschaft ablegte – dazu verleitete, den Sowjets so lange zu glauben. Viele Intellektuelle sahen nicht oder wollten nicht sehen, dass der Gegensatz „WIR und die ANDEREN“ im real existierenden Sozialismus eine ebenso fürchterliche Fratze besaß: Wir, das waren die linientreuen Parteisoldaten, die an der Spitze des Staats alle Vorteile der Nomenklatura genossen; die ANDEREN, das waren die Ungläubigen, die das Regime zu Hause und in der übrigen Welt ausschalten durfte und musste. Totalitarismus ist, wenn man das Paradies herbeimorden will.

In letzter Zeit hört man Putin eindringlich davor warnen, die Geschichte zu fälschen. Viele sind naiv genug, ihm zu glauben, weil sie nicht sehen, dass dies die Taktik aller Wölfe ist, die sich in einem Schafspelz verkleiden. Die anderen anklagen für das, was man selber vorhat – wer wüsste nicht, dass diese Strategien von jeher zum Operationsbesteck gewiefter Demagogen zählt? Vor der Krise von 2007 wäre Putin damit im Westen allerdings auf taube Ohren gestoßen; die Leute hätten den Kopf geschüttelt. Inzwischen gibt es aber nicht nur Putinversteher, sondern eine breite Putingefolgschaft.

Europa in der Krise

Nicht etwa deshalb, weil der russische Präsident selbst sich geändert hätte. Von Anfang an wollte er Russland stärken. Dass er sich dazu aller verfügbaren Mittel bedient, wird man ihm schwer vorwerfen können. Die Erklärung für den Erfolg solcher Geschichtsfälschungen ist deshalb auch gar nicht bei Putin selbst zu suchen. Nicht er hat sich geändert, sondern Europa.

Denn das ist ja nicht länger jener einst so selbstbewusste, zukunftsoptimistische Kontinent, der sich (auf dem EU-Gipfel von 2000) noch vollmundig damit gebrüstet hatte, die USA bis spätestens 2010 ökonomisch zu überholen, das ist auch nicht mehr jenes Europa, welches sich als moralisches Gewissen der Welt sehen möchte. Seit der Krise wird Europa von einer Krankheit heimgesucht, die es zu lähmen droht: einem rapiden Vertrauensschwund in Politik und Zukunft. Wie schon einmal gegen Ende der Zwanziger Jahre nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise breiten sich in der Bevölkerung Zweifel und Ratlosigkeit aus; dazu kommt auch noch wachsende Wut vor allem in den Ländern im europäischen Süden und Osten. Zu ihren unmittelbar sichtbaren Folgen zählt die zunehmende Polarisierung der politischen Lager: In Frankreich, Italien, Polen, Ungarn noch mehr als in Deutschland. Es ist dieser Zweifel an einer rauen, unübersichtlichen, immer schwieriger verstehbaren Gegenwart, die viele Menschen dazu bewegt, auch der eigenen Vergangenheit nicht länger zu trauen. So werden sie für Geschichtsfälschungen empfänglich. Nicht mit Putin sollten wir uns beschäftigen, sondern mit uns selbst – mit Europa. Wie ist es möglich, dass der Pesthauch der späten zwanziger Jahre schon wieder über uns liegt?

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Kommentare ( 22 )

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Pe Wi
6 Jahre her

Dann öffnen Sie bitte Ihre Augen und üben Sie verstehendes Lesen. Ich glaube, gerade diese Fähigkeit ist sehr vielen Deutschen abhanden gekommen. Sie können diesen Hass in jedem Mainstreamblättchen nachlesen Das Ukraine-Problem ist ein völlig anderes, als was uns diese deutschen Agit-Prop-Leute in der Regierung erzählen. Lesen!

Pe Wi
6 Jahre her

Das habe ich auch gelesen und zwar eingebettet in einen Roman von einem Engländer.

Pe Wi
6 Jahre her

MH17. Sie wissen mehr, wer die abgeschossen hat? Gut. Denn bis jetzt kennen wir nur die Propagandaschlagzeilen dazu. Übrigens Diktatur, den meisten Menschen ist es piepegal, wer gerade herrscht. Hauptsache, die Verhältnisse sind stabil und sie kommen über die Runden. Was denken Sie denn, was den Menschen in Sibirien oder anderen Regionen die Probleme der Moskowiter interessieren. Und auch die Moskowiter lassen sich von irgendwelchen Oligarchen instrumentalisieren, wie unsere Gutmenschen. Wir wissen nicht wirklich, was in Russland los ist. Was wir wissen, dass es den kleinen Mann mehrheitlich in der Sowjetunion besser gefiel – nach eigenen Aussagen. Wir müssen das… Mehr

Ivan De Grisogono
6 Jahre her
Antworten an  Pe Wi

Wer in einer Diktatur leben muss, dem ist es nicht „piepegal“! Vielleicht nur den Menschen die sich mit Diktaturen gut arrangiert haben. Dadurch sind aber Diktaturen nicht besser und zu relativieren. Besonderes wenn die Menschen nicht ein Teil der korrupten Regierungsmafia sind . Es gibt genug Menschen die in Russland gelebt haben oder auch nur unter Stalinisten und Kommunisten. Diese Menschen glauben Ihnen kein Wort. Die Menschen in Sibirien etc. werden von Regierenden ausgebeutet und von Information isoliert. Sie werden von russischer Regierung einfach auf primitievste Weise betrogen! Sie wissen nicht, dass deren Lebenserwartung wesentlich kuerzer ist als im demokratischen… Mehr

Katharina
6 Jahre her

Sie sprechen mir aus tiefster Seele ; der Feind ist , „fein verpackt“ mitten unter uns, wird mit medialer Befeuerung im Gleichschritt regierungstreuer Schergen – auf hinterhältigste, fern ab jeglicher demokratischer Wesensbildung in die verbrämten Köpfe der politisch unwilligen Deutschen gehämmert. Als ,Beobachter/Kenner zumindest in meinem näheren Umfeld, der russischen Seele kann ich dem Post von Ivan de Grisogono nur beipflichten. Vielleicht geboren aus der Not, deshalb aber umso wichtiger, bemerke ich auf meinen Rußlandbesuchen immer wieder , wie leidenschaftlich dort Politik verstanden wird. Ein wenig davon würde auch diesem Land hier gut zu Gesicht stehen Der Zusammenhalt, die Nähe… Mehr

Walter Finger
6 Jahre her

Ihr Quatsch ist aber aber auch nicht weit her…….

Dozoern
6 Jahre her

Und es macht mich zutiefst traurig so einen Artikel hier zu lesen. Ich war letztes Jahr in St. Petersburg und tief beeindruckt von der Freundlichkeit der Russen, gerade uns Deutschen gegenüber. Die Fremdenführerin hatte fast ihre komplette Familie in der Belagerung verloren. Und dann das ….

Hans Druchschnitt
6 Jahre her

Jetzt machen Sie mich neugierig.
Welche Bücher meinen Sie bitte?

Zum Verständnis meiner Neugierde:
Ich bin davon überzeugt, das hinter JEDER kriegerischen Auseinandersetzung finanzkräftige Akteure stecken.
Das nichts zufällig sich ereignet.

Lassen Sie mich bitte an Ihren Quellen teilhaben.

Ich empfehle das Buch von Guido Giacomo Preparata,
„Wer Hitler mächtig machte“
Wie britisch-amerikanische Finanzeliten dem Dritten Reich den Weg bereiteten.

Gruß
H.D.
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Zone
6 Jahre her

Was Merkel auch sagt – die Souveränität Deutschlands ist begrenzt… „Im Rahmen der militärisch-politischen Bündnisse ist sie offiziell begrenzt. Dort ist festgelegt, was erlaubt ist und was nicht. Und in der Praxis ist es noch härter. Man darf nichts außer dem, was erlaubt ist. Wer erlaubt es? Die Führung! Wo ist die Führung? Sie ist weit“, „Ich wiederhole es, in der Welt gibt es nicht so viele Staaten, die ihre Souveränität behalten. Und Russland legt viel Wert auf seine“, das sind die Worte von Putin auf dem 21. Internationalen Wirtschaftsforums in St. Petersburg wer Augen im Kopf zum lesen ,… Mehr

Anthea
6 Jahre her
Antworten an  Zone

Umsonst ist Putin nicht auf der“schwarze Liste“. Was wohl nach Putin kommt? Will ich gar nicht wissen ?

treu
6 Jahre her

Die Antwort kennen Sie ja sicher! 😉 Auch die Archive in Rußland sind für russ. Historiker wieder weitgehend tabu. So wie zu Sowjetzeiten. Obwohl insbesondere die britischen Archive wohl noch interessanter sind und die ihre Sperrfristen ja „erstaunlicherweise“ regelmäßig verlängern. 😉

Claudius
6 Jahre her

Die Nazis hassten „Rassen“ und die Kommunisten hassten „Klassen“. Beide waren der Meinung, dass bestimmte Rassen bzw. Klassen verschwinden müssen, damit endlich Frieden und Gerechtigkeit einkehren kann. Damit konnten beide millionenfachen Mord an unbewaffneten Zivilisten rechtfertigen. Beide ist purer Faschismus: Für das Erreichen eines ideologisches Zieles, Menschen aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit bzw. eines Merkmals zu ermorden. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Judenhass ebenfalls ein marxistisch motivierter Klassenhass war (Finanzjudentum). Insgesamt mussten im 20. Jahrhundert 260 Millionen unbewaffnete Zivilisten sterben, weil bewaffnete Staatsbedienstete sie ermordeten oder verhungern ließen. Tote Soldaten nicht mitgerechnet. Die Russen bzw. Sowjets töteten allein 100 Millionen… Mehr