Eine erneuerte Gedenkkultur

Nicht erst die Reaktionen auf den 7. Oktober 2023 haben gezeigt, dass es allerhöchste Zeit ist, deutsches Gedenken auf den Prüfstand zu stellen und einer Erneuerung zu unterziehen – auch um künftige Generationen zu sensibilisieren. Denn die Gesten unserer Gedenkkultur sind leblos, ihre Floskeln bedeutungslos geworden.

IMAGO / Political-Moments
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Debatte zum Tagesordnungspunkt Schutz jüdischen Lebens.

Die Erinnerungskultur der Deutschen muss auf den Prüfstand, wenn sie die praktische Relevanz des Holocaust für deutsche Politik und deutsches Selbstverständnis weiterhin sichtbar machen soll. Der ritualisierte Gedenkmarathon voller Floskeln und erstarrter Gesten verliert dramatisch an Prägekraft: Schon jetzt scheint er die Solidarisierung der Deutschen mit Israel nicht mehr sicherstellen zu können; und künftige Generationen kann man so wohl kaum sensibilisieren.

Der 9. November läutet sie ein: die Zeit, in der zwischen den Gedenktagen der Reichspogromnacht und der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar ein Gedenkveranstaltungsmarathon die Deutschen davon überzeugen soll, das Grauen der Shoah in wacher Erinnerung zu behalten. Das Anliegen ist nicht nur ehrbar, es ist dringlich. Wie alle historischen Ereignisse sinkt auch der Holocaust unumkehrbar ins Dunkel der Geschichte hinab. Doch nicht erst die Reaktionen auf den 7. Oktober 2023 haben gezeigt, dass es allerhöchste Zeit ist, deutsches Gedenken auf den Prüfstand zu stellen, und einer Erneuerung zu unterziehen. Denn die Gesten unserer Gedenkkultur sind leblos, ihre Floskeln bedeutungslos geworden.

Von der Verfolgung zur Vernichtung der Juden
Nationalsozialistische Novemberpogrome 1938
Das liegt auch daran, dass sich deutsches Gedenken viel zu sehr in Selbstreferentialität ergeht: Um die Einzigartigkeit des Holocaust als schwerstes Verbrechen aller Zeiten herauszustreichen, hat man sich hierzulande angewöhnt, das spezifisch Deutsche der Schuld hervorzuheben. Eine Herangehensweise, die durchaus ihren Sinn und Platz im Zuge der Aufarbeitung hatte. Allerdings hat man zugelassen, dass sich die Zerknirschung über deutsche Schuld zum Teil in eine seltsame Form der Selbstgerechtigkeit verwandelt hat; namentlich bei jenen Angehörigen der 68er-Generation, die sich als schonungslose Aufklärer der Schuld ihrer Eltern verstehen, und eine grimmige Befriedigung daraus ziehen, anders als jene „alles richtig“ gemacht zu haben: Als Nachfahren haben sie sich, die eigene Familie, die Liebe zum eigenen Land nicht geschont, um die grausame Wahrheit ans Licht zu zerren.

Aus dieser Selbstbespiegelung ergibt sich fatalerweise, dass der Holocaust einerseits seine Relevanz für unser Verhalten gegenüber Israel im Hier und Jetzt verliert, andererseits aber einer Verantwortungshybris Vorschub leistet, die alles Mögliche mit Hinweis auf deutsche Schuld begründet: Viele sehen im Deutschsein zwar die Verpflichtung, gegen jedwede Ungerechtigkeit vorzugehen. Sie vermeinen aber, die Erben der toten Juden von damals viel eher in den Bewohnern Gazas zu erkennen als in den quicklebendigen Israelis. Diese wollen schließlich den ihnen zugedachten ewigen Opferstatus nicht annehmen, und haben wenig Ähnlichkeit mit den Bildern, die uns einst Guido Knopp ins Gedächtnis gebrannt hat.

Absolute Singularität, die jede Relativierung verbietet, zugleich aber Bezugspunkt für fast alles: Kein Wunder, dass diese Art des Gedenkens zu Überforderung, nicht selten zu Überdruss führt. Wir haben doch aufgearbeitet – muss nicht „irgendwann Schluss sein“? Diese Frage bedroht die Gedenkkultur vor allem deshalb, weil eine ehrliche Auseinandersetzung darüber ausbleibt, wie ein positives Verhältnis zum eigenen Land für Deutsche aussehen kann, und zwar ohne Bagatellisierung deutscher Verbrechen. Nicht einmal die historisch einzigartige Aufarbeitung – keinesfalls perfekt, aber doch beeindruckend – wird als positiver Referenzpunkt betrachtet. Auch hier haben die 68er ihre eigene Disposition, die Unfähigkeit zur Liebe zu Deutschland, flugs dem gesamten Volk oktroyiert, und den Holocaust als effektives Druckmittel instrumentalisiert. Setzt hier kein umfassendes und rationales Umdenken ein, wird sich die deutsche Gedenkkultur gegen Schuldfrust nicht langfristig durchsetzen können.

Tatsächlich droht mittel- bis langfristig ein völliger Verlust der Erinnerungskultur. Das liegt vor allem am Fortschreiten der Zeit. Kinder, die heute in Deutschland aufwachsen, werden in der Schule keine Zeitzeugen mehr kennenlernen. Sie können ihre Vorfahren nicht mehr befragen. Wird die Gedenkkultur nicht auf eine breitere Basis gestellt als persönliche Verflechtung und Betroffenheit, werden künftige Generationen über Dachau nicht mehr schaudern als über den Dreißigjährigen Krieg oder die Terreur der Französischen Revolution. Gegen diese Tatsache aber stemmen sich insbesondere Angehörige der Generation Aufarbeitung mit aller Kraft, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Schließlich sollte die „Deutschheit“ des Verbrechens einer solchen zeitbedingten Relativierung ja gerade vorbeugen.

Debatte über den Schutz jüdischen Lebens
Cem Özdemir will Zusammenarbeit mit muslimischen Verbänden überprüfen
Womit wir beim zweiten Aspekt wären, der bereits seit Jahrzehnten vernachlässigt wird: die veränderte Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft. Viele junge Menschen haben einen Migrationshintergrund. Wollte man ihnen deutlich machen, dass aus dem Holocaust eine Verantwortung für sie erwächst, etwa die, nicht zum Mitläufer zu werden oder Dehumanisierung zu bekämpfen, so müsste man dies im Hinblick auf allgemein menschliche Verantwortung tun: der Holocaust als Zivilisationsbruch und Menschheitsverbrechen. Das aber würde ihn ein Stück weit den Deutschen „wegnehmen“.

Das ist nicht nur für Nachfahren schmerzhaft, die einen Gutteil ihrer Identität daraus schöpfen, Angehörige eines „Tätervolks“ zu sein. Es ist auch für jene eine Bedrohung, die befürchten, dass der Holocaust damit „nur“ noch als ein Verbrechen unter vielen wahrgenommen würde. Dies trifft für den Rest der Welt ohnehin vielerorts zu, und kann dort auch nicht verurteilt werden: Vom Genozid an den Armeniern bis zum stalinistischen Terror, von den Killing Fields bis zum Völkermord in Ruanda – die Menschheit hat im 20. Jahrhundert ein eindrucksvolles Register bestialischer Schandtaten vorgelegt.

Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass die Gefahr besteht, den singulären Charakter des Holocausts aufzugeben. Dem kann man allerdings begegnen, wenn man sich dessen bewusst ist. Das Risiko nicht einzugehen, würde hingegen bedeuten, den Holocaust als prägenden Parameter deutscher Identität früher oder später auf jeden Fall zu verlieren.

Der industrielle Massenmord an Juden ist und bleibt ein einzigartiger Akt der Barbarei. Aber er ist nicht in erster Linie eine Warnung an die Deutschen. Er ist eine Warnung an das gesamte Menschengeschlecht: Was „nie wieder“ geschehen soll, ist jederzeit möglich.


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Kommentare ( 38 )

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38 Comments
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Peter Pascht
5 Monate her

Super Artikel, in Argumention und Tiefenanalyse.
Es ist genau das was der deutschen Erinnerungskultur fehtl, Authentizität und Ehrlichkeit.
Das Verbrechen der Shoa wird nicht schlimmer und nicht besser, wenn man es als einzigartig bezeichnet. Die Menschen die da gestorben sind, wird es einerlei sein, denn Mord ist Mord. Es gibt keinen weniger schlimmeren Mord.
Vor allem es war keine „deutsche Schuld“, sonder es war und ist „Nazischuld“.
Die stalinistischen Verbrechen haben die Naziverbrechen bei weitem an Opferzahl überschritten.

Marcel Seiler
6 Monate her

Ich habe schon im Ausland gelebt. Nirgendwo im Ausland hat man mir, weil ich Deutscher bin, den Holokaust vorgeworfen. Auch Juden haben es nicht getan. Aber in Deutschland schon, immer und immer wieder. Nein, Deutschland wird nicht vom Ausland erpresst dazu, den Holokaust zum Zentrum der eigenen Selbstdefinition zu machen. Das machen Deutsche, die sich auf diese Weise seelisch entlasten wollen, und die andere Deutsche dafür in Haft nehmen, um sich selbst besser zu fühlen.

Querdenker73
6 Monate her

Wenn ich die heuchelnden Gesichter der „Gedenker“ so sehe, stellvertretend seien KGE, Merkel, Özdemir genannt, möchte ich mit bei allen Juden im In- und Ausland entschuldigen. Mehr ist dazu nicht zu sagen!

Necke
6 Monate her

Das übliche hilflose Lavieren mit der „Einzigartigkeit“ des Holocaust-Verbrechens. Entstanden aus der üblichen Schlamperei der Begriffe. Die allerdings eine absichtsvolle ist. Selbstverständlich ist der industrielle Massenmord an den Juden eine HISTORISCHE Einmaligkeit. Diese aber teilt er mit allem historischen Geschehen. Was aber unter der Hand mitgeteilt werden soll, ist eine metaphysische Einmaligkeit. Meines Wissens war Karl Jaspers der Erfinder dieser metaphysischen Einmaligkeit. Aber er war so ehrlich, das auch zu benennen. Aus der absichtsvollen Unklarheit entspringt die ideologische Unterdrückung aller „Relativierung“ einerseits und das hemmungslose Vergleichen mit allem und jedem, das gerade unerwünscht ist. Nebenbei: JEDES rationale Begreifen beginnt mit… Mehr

Marcel Seiler
6 Monate her
Antworten an  Necke

Kommentator Necke hat recht: die Behauptung der „Singularität“ des Holocausts ist philosophisch-erkenntnistheoretisch unhaltbar. Diese Behauptung hält den Holocaust in einer gefühlig-moralischen dunklen Unterwelt, in die das Licht der der Vernunft und der Aufklärung kaum vordringt.

Die Absicht mag gut sein: man möchte verhindern, dass der Holocaust kleingeredet wird. Man verhindert aber auch sinnvolle Untersuchungen und hält die deutsche Seele in einem „Bann des Bösen“. Gerade das letztere hat schlimme Folgen, denn verständliche Versuche einzelner oder einzelner Gruppierungen, sich aus diesem Bann zu befreien, bringt mit Notwendigkeit weiteres Böse hervor. Das Starren auf das Böse befreit eben nicht zum Guten.

Manuela
6 Monate her

Das Problem ist, dass, bei aller Erinnerungskultur, es ein Volk (von dem viele aufgrund ihres Alters damals gar nicht dabei sein konnten) nicht davon abhält, in die damaligen Fußstapfen zu treten, wie wir bei so vielen derzeitigen Entwicklungen sehen können. Auch und insbesondere in den letzten Jahren. Die sogenannte Schulbildung (die schon lange gekapert ist) und das Dauerdaddeln auf dem Handy machen’s möglich. Ebenfalls ist es ein Leichtes, unsere sogenannten Indexneuronen zu überschreiben, sodass sich unsere Wahrnehmung und damit unbemerkt unsere „Erinnerung“ verändert (Dr. Michael Nehls). Alles machbar, und wer die Geschichtsklitterung bzw. Auslöschung bestimmter geschichtlicher und kultureller Merkmale beobachtet,… Mehr

AmitO
6 Monate her

Ich versuch es mal so platt wie möglich zu sagen: Ich hab keine Juden umgebracht. Meine Eltern haben keine Juden umgebracht. Und meine Großeltern auch nicht. Mir geht das betroffene Gerede von „unserer Schuld“ ziemlich auf den Senkel. Was hab ich mir denn zu schulden kommen lassen? Sippenhaft gibt es nicht. Was die 68er gemacht haben, ist dem Volk eine geschichtskulturelle Psychose verpasst, mehr nicht. Arbeitet Russland seinen Stalinismus auf? Nein. Arbeitet Japan seine Gräuel gegen China auf? Auch nein. Arbeitet USA seine Gräuel in Vietnam oder Irak auf? Ebenfalls nein. Gestern habe ich wieder Aussagen von SuS zur Reichskristallnacht… Mehr

Judith Panther
6 Monate her

„Der industrielle Massenmord an Juden ist und bleibt ein einzigartiger Akt der Barbarei. „ Mit Verlaub: Bedeutet die Vereinzigartigung des Holocaust nicht umgekehrt eine Bagatellisierung all der anderen grausamen Verbrechen an der Menschheit? Klu Klux Clan und Sklaverei?? Hexenverfolgung? Kriegsverbrechen aller Art? Weltweite Pädophilenringe, in denen Kindern 24/7, auch jetzt, in diesem Moment unvorstellbare Grausamkeiten zugefügt werden, geplant und durchgeführt mit einer Gründlichkeit, die der der Deutschen in nichts nachsteht? „ROOTS“ vs. „HOLOCAUST“? Wie kann man aus dem Leiden von Menschen überhaupt einen Wettbewerb machen? Und ist es überhaupt noch ein Wettbewerb, wenn der ewige Sieger im „Leidensranking“ immer schon im… Mehr

Last edited 6 Monate her by Judith Panther
G
6 Monate her

Ich habe in meinem Leben keinen einzigen Juden umgebracht. Und auch sonst niemanden. Als mal ein Linker gemeint hat, daß die Rede Merkels zum Auschwitztag gut war, habe ich genau so geantwortet. Hat ihn ziemlich aus dem Konzept gebracht. Dieser Schuldkult und die Auschwitzkeule gehen mir nur noch auf die Nerven. Es reicht.

LiKoDe
6 Monate her

In den frühen 1970ern unterrichtete man uns in der Schule über die NS-Diktatur (und deren Trägern und Nutzniessern), teilweise mit Fotografien von befreiten KZs. Letzteres war noch ein Ausfluss jener Re-Education der Alliierten, der 1945 viele Bürger Deutschlands zwangsweise unterzogen und damit erschüttert wurden. Vor der NS-Pogromnacht 1938 wurden in Deutschland ab 1933 vom NS-Regime KZs errichtet, in denen u.a. politische Gegner [Gewerkschafter, Liberale, Sozialdemokraten, Kommunisten …] eingekerkert, gefoltert und totgeprügelt wurden. Damit versetzte man viele Bürger in Angst und Schrecken, schüchterte sie ein umd machte sie mundtot; so wurde also schon früh Widerstand gegen das NS-Regime gebrochen. Die KZs… Mehr

Last edited 6 Monate her by LiKoDe
89-erlebt
6 Monate her

Hohles Polit 🤡🤡 Geschwafel bei:
– Mio Überweisungen an Migranten
– Massenimport von Juden- und Christen-Hassern,
– Mrd. zur Alimentierung der Antisemiten
– Stimmenthaltung bei UN Abstimmungen
Dieser gratis Müll an wohlfeilen Reden – widerlich.