Die Wahrheit in unsichtbaren Buchstaben

Zwei »Familien« geraten in Streit, so liest man. In der Meldung fehlt beinahe mehr als drin steht. Das Wesentliche ist für den Journalisten unsichtbar, der Leser liest nur mit Verstand und Erfahrung gut – vor allem zwischen den Zeilen!

Ein Schüler kam zum Meister. – »Berichte uns von dir!«, sagte der Meister. Der Schüler erzählte also von sich.

Der Schüler berichtete von seinem Heimatdorf, von seiner Mutter und von seinen Geschwistern, von den Schulen, die er besuchte, und vom Beruf, den er erlernt hatte.

Nachdem der Schüler den ersten Bericht abgelegt hatte, goss der Meister ihnen Tee ein und reichte dem Schüler eine Tasse.

Es war früher Abend an einem frühen Sommertag. Meister und Schüler saßen auf der Terrasse und blickten in den Garten. Ein Vogel spazierte vorbei, schaute sie an, prüfte sie, piepste zwei mal, und ging zu Fuß weiter.

»Danke«, sagte der Meister zum Schüler, »ich danke dir für dein Vertrauen, dass du mir so viel und so ehrlich über deinen Vater berichtet hast!«

Der Schüler verschluckte sich am Tee, verbrannte die Spitze seiner Zunge, hustete, und antwortete dann: »Aber ich habe doch gar nichts über meinen Vater gesagt!«

Der Meister lächelte, schlürfte vorsichtig am Tee, betrachtete neugierig den Vogel, der wiederum neugierig einen Wurm zu betrachten schien, unsicher, ob er ihn fressen sollte (also der Vogel den Wurm, nicht der Meister den Vogel).

Der Schüler wiederholte: »Ich habe doch nichts über meinen Vater erzählt.«

Der Meister schüttete dem Schüler den Tee nach, den dieser beim Husten auf das Holz der Terrasse vergossen hatte.

»Über deinen Vater«, sagte der Meister, »über deinen Vater hast du am lautesten gesprochen!«

Westen, Helme und Maschinenpistolen

Es ist eine jener Schlagzeilen, wie wir sie nun seit einigen Jahren lesen: »Hessen – Schießerei und Verletzte in Darmstadt« (welt.de, 8.5.2020)

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Es hat sich um einen »Streit zwischen zwei Familien« gehandelt, so erfahren wir. Die Polizei rückte mit Spezialkommandos an, und sie durchsuchte später mehrere Wohnungen. Die Bürger erlebten den Einsatz von Polizisten mit schusssicheren Westen, Helmen und Maschinenpistolen, sogar ein Polizeihubschrauber flog über ihren Köpfen.

Wir lesen im Bericht, unter anderem, diese Zeilen zu den festgenommenen Tatverdächtigen:

Zu deren Identität und der der Verletzten machte die Polizei keine weiteren Angaben. Auch der Ablauf der Auseinandersetzung und die Zahl der Beteiligten sowie deren Nationalität blieben nach dem Vorfall zunächst unklar. Die Polizei konnte auch nicht sagen, ob mehrere Streitparteien Schüsse abfeuerten. (welt.de, 8.5.2020, Stand 8.5.2020 vormittag)

Man darf dem schreibenden Journalisten zugestehen, dass er immerhin die Zeilen liefert, zwischen denen der Leser dann lesen kann – immerhin das.

Lasset uns puzzlen!

Wir verstehen heute, buchstäblich, was mit dem »Lesen zwischen den Zeilen« gemeint ist. Selbst ehrliche Journalisten, also die mit altem Berufsethos, als »Journalist« noch nicht ein Schimpfwort war und »Haltung« noch nicht für »schmierige Parteilinientreue« stand, selbst die wohl-nicht-so-vielen Anständigen in den Redaktionen, können nicht sagen, was sie wollen – oft können sie nur die Leerzeilen liefern, zwischen denen der Leser dann selbst die Wahrheit erkennen und einsetzen soll.

Geleakt aus dem BMI: brisante Analyse
Exklusiv auf TE: „Ein Vorwurf könnte lauten: Der Staat hat sich in der Coronakrise als einer der größten fake-news-Produzenten erwiesen.”
Nachrichten in Deutschland sind heute wie ein Puzzlespiel, bei dem die Hälfte der Teile fehlt, dafür aber immer wieder komplett falsche Teile eingemischt wurden – und die Vorlage, also die »Wahrheit«, die fehlt vollständig. Medienkompetenz bedeutet heute, aus dem Tohuwabohu der Puzzlestücke zunächst die eindeutig falschen Stücke auszusortieren, dann die möglicherweise falschen Stücke provisorisch zur Seite zu legen, dann aus den wahrscheinlich richtigen Puzzlestücken auf das vermutliche Motiv des gesamten Bildes zu schließen, und dann die vorhandenen Stücke so zusammen zu setzen, dass man zuletzt die fehlenden Teile des Puzzlebildes selbst ergänzen kann.

Nachrichten sind ein Puzzlespiel, und die Kunst des klugen Nachrichtenlesens besteht darin, die falschen Puzzleteile herauszufiltern, dann aufs ganze Bild zu schließen und selbst die fehlenden Stücke zu ergänzen.

Große unsichtbare Buchstaben

Manche Wahrheiten entdecken wir als Analogien auf verschiedenen Ebenen unserer Existenz wieder, und dazu gehört jene von der unausgesprochenen Wahrheit, welche die Lauteste, Dringendste, Schmerzlichste ist. Wir finden es in Partnerbeziehungen zweier Menschen, in Familien wie in Firmen, und selbstredend auch in Politik und Journalismus, was ja heute ohnehin zwei Namen für denselben Komplex zu sein scheinen. (Randnotiz: Dieses brüllende Schweigen begegnet uns in der Rhetorik von Politik und Wahlkampf auch im Begriff Tabu, mit dem Tabubrecher als schwierig zu spielender, aber wenn gut und im richtigen Augenblick gespielt, punktuell hoch effektiver Politik-Rolle; Näheres dazu in »Talking Points«.)

»Man sieht nur mit dem Herzen gut«, so sagt der kleine Prinz, »das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.« – Nun, beim Lesen der Nachrichten gilt desweiteren: Man liest nur mit dem Verstand und der Erfahrung gut, und mit viel Vorsicht, auf dass man beim Ergänzen und Ausmalen nicht allzu oft über die Linien der Logik und der Wahrscheinlichkeit drüber- und hinausfällt.

Boulevardblätter sind für ihre großen Buchstaben bekannt, mit denen sie betonen wollen, was wir heute wichtig und dringend zu finden haben, doch die größten Buchstaben sind heute bei Gelegenheit unsichtbar, die größten Buchstaben muss der kundige Leser heute selbst errechnen, selbst ergänzen.

Die wirklich wichtigen Frequenzen

Demokratie setzt kluge Bürger voraus, eine ehrliche Debatte und gemeinsames Dazulernen, ja, auch im offenen Streit um die Sache – und der muss eben möglich sein!

Wir hören heute Kampfgebrüll, wie das latent faschistische »Wir sind mehr!«. Im Staatsfunk wird gegen Andersdenkende gehetzt, wer aus Reih und Glied auszuscheren wagt, wird als Ratten, Spinner oder Wirrköpfe verhöhnt.

»Wer Ohren hat, der höre«, heißt es in der Bibel (Matthäus 11:15). Die Wahrheit zwischen den Zeilen klingt heute lauter als die Schablonen und Beschwichtigungen um die Wahrheit herum, doch es braucht aufmerksame Ohren.

De facto haben wir die Triage
Hoffen auf die zweite Welle. Oder: Warum Söder seuchelt
Ich weiß nicht, was hiernach kommt. Ich weiß nicht, wie lange dieses Schauspiel noch gespielt werden kann, bevor die Bühne kollabiert, das Publikum protestiert oder schlicht der Vorhang fällt. Ich weiß aber, und da bin ich mir sicher, dass es heute gute Ohren braucht.

Und deshalb: Trainiert eure Ohren! Hört die Zwischentöne und das Weggelassene. Zuerst mag es uns alles als Kakophonie erscheinen, als Durcheinander und Lärm, doch wenn man genauer hinhört, wenn man zu hören lernt, dann klingen die wirklich wichtigen Frequenzen erstaunlich klar durch.

Es braucht Übung, die richtigen und wichtigen Frequenzen aus dem großen Lärm herauszuhören, doch wer etwa den Ostblock am eigenen Leib und an eigener Seele erlebte, wird Ihnen bestätigen, dass man mit Erfahrung richtig gut darin werden kann.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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Kommentare ( 17 )

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DELO
3 Jahre her

Lieber Herr Wegener, ich glaube Ihnen gern und sofort, daß Sie am heutigen Journalismus ebenso verzweifeln wie ich. Was haben wir uns früher aufgeregt über Artikel, die „des Guten zu viel“ waren oder „nun wirklich nicht mehr gingen“. Heute ist das Gegenteil der Fall: Schleimige Schreiberlinge sondern einen Mitläufer_Müll ab, daß einem die Halsschlagader schwillt. Was sind die Ursachen dafür? Hat das DDR-System Merkel die Bundesrepublik unterspült? Sicher hat sie das versucht (und versucht es heute noch), die eigentlichen Ursachen liegen aber viel tiefer. Unsere gegenwärtige „Generation Spaß“ hat eine andere Lebenseinstellung als wir „Alten“ aus den 50er-Jahren des vergangenen… Mehr

H. Gregor
3 Jahre her

Als jemand der in der BRD aufgewachsen ist und hier im Lande lebt und gearbeitet hat, konnte ich mich bis vor 10 Jahren (gefühlsmäßig) über den ÖR – Rundfunk /Fernsehen sowie die Presse und andere Druckerzeugnisse gut informieren und eine eigene politische Meinung bilden. Einige Jahre schon ertrage ich keine Nachrichtensendungen auf ARD / ZDF mehr. Den früher gern gehörten Radiosender vom DLF schalte ich hin und wieder ein, um mir ein Bild zu machen, wie weit der Sozialismus bzw. Öko – Kommunismus in den Medien schon Realität geworden ist. Der Radiosender DLF ist nach meiner Ansicht eine Propgandaschleuder allererster… Mehr

U.S.
3 Jahre her

Liebe TE Leser

Ich bin froh um TE, achgut, und auslaendischen Info Quellen (NZZ, Schweiz), und einige wenige handverlesene Quellen.

TE ist dazu geworden, was früher West TV fuer die DDR damals war.

Und mainstream Medien sind dazu geworden, was früher in der DDR die xxx waren.

petra50
3 Jahre her

Oh, ja,Herr Wegner, da kenne ich mich aus, ich bin ein DDR-Kind Jahrgang 1950. Ich habe gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen und früher beim DDR-Kabarett genau hinzuhören. Und nun mache ich das seit ein paar Jahren wieder.

Silverager
3 Jahre her
Antworten an  petra50

Ich bin Westkind und lerne seit ein paar Jahren wie ein DDR-Kind, in der Presse ebenfalls zwischen den Zeilen zu lesen, um das Nichtgesagte zu erkennen. Ich werde immer besser darin, zumal mich alternative Medien wie hier TE oder auch die „Junge Freiheit“ (quasi das Westfernsehen) darin sehr unterstützen.

alf1
3 Jahre her

Herr Wegner, Danke!
Hatte gerade heute mit einem jungen Mann eine Diskussion über das Handeln von Frau Merkel in der Corona-Affäre. Nach ein paar Minuten und wenigen Sätzen, hatte ich das Gefühl, dass viele Menschen deswegen zu einer guten Bewertung kommen, weil sie einerseits nur klassische Medien konsumieren und dazu kommt noch, dass sie nicht in der Lage sind, zwischen den Zeilen zu lesen, bzw. zu ergänzen. Wir kennen das ja aus der DDR, es dauert einige Jahre bis diese Eigenschaften zum erblühen kommen. Erst dann bricht das System langsam ein. Langsam deshalb, weil wir Deutschen eben ausgeprägt obrigkeitshörig sind.

Lotus
3 Jahre her

https://www.aol.de/nachrichten/2020/05/08/22-jahriger-bei-massenschlagerei-schwer-verletzt/ 28. April, Hanau: Zwei Syrer stechen vier Männer „verschiedener Nationalitäten“ nieder 5. Mai, Nürnberg: Massenschlägerei mit 40 Jugendlichen zw. 14 und 17 Jahren 7. Mai, Darmstadt: Schießerei wg. Familienstreit 7. Mai, Hamburg-Billstedt: Massenschlägerei mit 15 bis 20 „Männern“, ein Schwerverletzter Das sind Fälle aus den letzten zwölf Tagen. Und nur die Fälle, von denen ich erfahren habe, meistens eher zufällig. Nichts davon in den Hauptnachrichtensendungen der MSM. Beispiel ZDF: Das berichtete am 29. April ausführlich in den 19:00 Uhr „heute“-Nachrichten (mit langem Filmbeitrag) – nicht über die Messerstecher in Hanau. Nein, sondern über die Anklageerhebung im Fall Lübcke. Der… Mehr

Hoffnungslos
3 Jahre her

Lieber Herr Wegner, wenn wir vom Streit zwischen zwei Familien lesen, wissen wir doch alle bescheid. Auch bei Berichten über Gruppen von Jugendlichen, die auf einander losgingen, „kleine Rangelei“, wissen alle bescheid. Nähere Informationen sind da gar nicht mehr nötig.

Winnetou
3 Jahre her

Immer wenn Einmann auftaucht, immer wenn von Männern und Familien die Rede ist, weiß man alles, was man wissen muss.

Johannes Fritz
3 Jahre her

Wegners Artikel sind oft ziemlich gut und ich mag sie. Dass jetzt aber wieder diese Marotte auftaucht, wegen der man den ersten Absatz getrost überspringen kann, ist unnötig.

Dieter Rose
3 Jahre her

weit haben wir’s gebracht.
nach 75 Jahren Umerziehung.
danke liebe Befreier für nichts!