Was heißt hier „Sieg“?

Militärisch gesehen kann die Ukraine nicht „siegen“ in dem Sinne, dass sie Russland ihren Willen aufzwingt. Das Ziel „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen!“ ist deshalb nicht erreichbar, wohl aber seine defensive Variante: „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren“.

IMAGO / ZUMA Wire
Demonstranten mit Banner "Sieg für die Ukraine", London, 25. Februar 2023

Im politischen Sprachgebrauch Deutschlands ist der Satz „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“ zur festen Diskursformel geworden  (12.100 Einträge bei Google, 20. 3. 2023). Weniger häufig, aber durchaus beachtlich (1.160 Einträge) kommt der Satz vor: „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren“. Es geht also um Krieg und Sieg (bzw. Niederlage). Aber was bedeutet hier „Sieg“? Eine sprachliche Analyse.

Sprachgeschichtlich geht „Sieg“ zurück auf althochdeutsch sigu, sig (8. bzw. 9. Jh.) und ist als Hochwertwort auch Bestandteil zahlreicher Vornamen altdeutsch-germanischer Herkunft: Si(e)g-bert (Ursprungsbedeutung: Sieg + glänzend), Si(e)g-mar (Sieg + berühmt), Si(e)g-run (Sieg + Zauber), Si(e)g-linde (Sieg + sanft), Sieg-fried (Sieg + Frieden) usw.

Ganz allgemein bedeutet „Sieg“ die Überwindung eines Gegners, sei es in einem sportlichen Wettkampf („Starke Bayern holen Sieg auf Sieg“, SZ 8. November 2022), bei Konkurrenz auf einem bestimmten Gebiet (Politik, Wirtschaft, Moral, Technologie) oder in einer kriegerischen Auseinandersetzung. Für die Verbindung von „Krieg“ und „Sieg“ gibt es im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert enorm viele Belege; die neuesten betreffen den am 24. Februar 2022 von Russland begonnenen Ukraine-Krieg. Zum Jahrestag des Kriegsausbruchs titelte T-online: „Die Mehrheit der Deutschen [laut Umfrage 62%] will einen Sieg der Ukraine“.

Vor einem Dauerkriegszustand?
Eine Ukraine, die nicht verlieren, aber auch nicht siegen darf
Unter „Sieg der Ukraine“ wird hier nicht der Erfolg in einer einzelnen Schlacht verstanden, sondern dass die Ukraine aus dem gesamten Krieg als „Sieger“ hervorgeht. Aber was bedeutet bei einem Krieg der „Sieg“? Der Militärtheoretiker Clausewitz (1780–1831) definierte Krieg als „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen: Das Ziel ist, den Feind wehrlos zu machen“ (Vom Kriege, Kap. 1).

In diesem – militärischen – Sinne kann die Ukraine Russland nicht besiegen – aus zwei Gründen: Erstens wäre Russland wegen seiner großen Ressourcen auch bei einer Niederlage auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz in der Lage, den Krieg fortzusetzen, und zweitens ist es Atommacht: Gegen eine Atommacht kann man grundsätzlich einen Krieg nicht „gewinnen“, weil sie über Waffen verfügt, um im Extremfall den Feind zu vernichten – allerdings, falls dieser ebenfalls Atomwaffen hat, mit dem Risiko der eigenen Vernichtung.

Der Ukraine-Krieg ist asymmetrisch: Für die Ukraine geht es um die Existenz als eigener Staat, für Russland handelt es sich nur um einen Interventionskrieg, eine massive Einmischung in einen anderen Staat, die – wider Erwarten – zum Krieg wurde, weil sich die Ukraine verteidigte. „Der Krieg ist mehr für den Verteidiger als für den Eroberer da“, konstatierte Clausewitz und fügte sarkastisch hinzu: „der Eroberer [damals Napoleon, heute Putin] ist immer friedliebend, er zöge ganz gern ruhig in unseren Staat ein“.

In einem Interventionskrieg steht die Existenz und Souveränität der Interventionsmacht nicht auf dem Spiel: Ihr Territorium ist nicht bedroht, und sie kann die Intervention auch ohne Sieg jederzeit beenden. So beendeten die USA ihre Interventionskriege in Vietnam (1955–1975) und Afghanistan (2001–2021) durch Rückzug und büßten damit keineswegs ihre Rolle als Weltmacht ein – ebenso wenig wie die Sowjetunion, als sie sich nach zehn Jahren Krieg (1979–1989) aus Afghanistan zurückzog.

Fazit: Militärisch gesehen kann die Ukraine nicht „siegen“ in dem Sinne, dass sie Russland ihren Willen aufzwingt. Das Ziel „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen!“ ist deshalb nicht erreichbar, wohl aber seine defensive Variante: „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren“. Solange die Ukraine den Krieg nicht verliert, bleibt sie „wehrhaft“, und Russland wird irgendwann die militärische Intervention mangels Erfolg beenden. Der „Sieg“ der Ukraine wäre dann moralisch und ein politischer Sieg der Demokratie.

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Kommentare ( 2 )

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Johann Thiel
1 Jahr her

Wo kommen bloß all die Aufkleber mit der Aufschrift „Demokratie“ her, die man auf allem und jedem findet, wie es gerade passt.

Wenn ich meine alte Kiste das nächste Mal über‘n TÜV bringe, rede ich auch nur noch vom Sieg der Demokratie.

Alrik
1 Jahr her

Die Ukraine ist ein durch und durch korruptes Land das mehrmals in den letzten 30 Jahren Aufstände gegen korrupte Politiker hatte bei denen dann die Regierung ausgestauscht wurde. Natürlich ist das eine Bedrohung für Russland, da durch solche Aktionen die Russen möglicherweise auf dumme Ideen kommen, immerhin gibt es viele verwandschaftliche Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern. Zudem ist die Industrie in der Ukraine extrem wichtig für den russischen Luft- und Raumfahrtsektor. Neben den zivilen Zenit & Dnepr Raketen wurden auch die sowjetischen R36M Interkontinentalraketen in der Ukraine entworfen und gebaut und bis 2014 von ukrainischen Firmen gewartet. Die Ukraine hat… Mehr