Die neue Normalität in Deutschland: Stadtfeste und Weihnachtsmärkte werden zu Festungen zur Terrorabwehr. Öffentliche Plätze und Straßen werden zu Waffenverbotszonen und werden videoüberwacht, um Bürger vor Gewalt und Kriminalität zu schützen. Aber wirken diese Maßnahmen? Verzweifelte Politik zwischen Schutzversprechen und Grundrechtseingriff.
picture alliance / Chris Emil Janßen | Chris Emil Janssen
Bürger fühlen sich in öffentlichen Räumen zunehmend unsicher. Kein Wunder: Kriminalität und Gewalt auf deutschen Straßen nehmen zu, die Terrorgefahr bei öffentlichen Veranstaltungen ist da. Erst vor ein paar Tagen wurden fünf Migranten festgenommen, die einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Bayern planten. Sogenannte Merkel-Poller sollen Weihnachtsmärkte schützen und machen sie zu Festungen, TE-Leser schickten Eindrücke davon:
Um Kriminalität und Gewalttaten zu verhindern, greift die Politik zu Maßnahmen wie Waffenverbotszonen, aber auch immer häufiger zu Videoüberwachung. So setzt etwa die Polizei in Nordrhein-Westfalen immer stärker auf Kameras im öffentlichen Raum – ohne dass eindeutig belegt ist, dass so Kriminalität verhindert würde. Landesweit stieg nach Recherchen des WDR die Zahl stationärer Polizeikameras von 12 im Jahr 2015 auf 220 im Oktober 2025. Betroffen sind fast ausschließlich Großstädte im Rheinland und Ruhrgebiet.
Ein drastisches Beispiel für die zunehmende Videoüberwachung ist Köln, wo es vor zehn Jahren noch keine einzige Kamera gab. Seitdem wurden 106 fest installierte Polizeikameras an sieben Standorten aufgebaut.
Die Polizei vermeidet offiziell den Begriff „Videoüberwachung“ und spricht von „Videobeobachtung“. Der semantische Trick ändert jedoch wenig an der Tatsache: Unbeteiligte Bürger geraten ins Visier staatlicher Dauerbeobachtung – oft ohne zu wissen, wann genau und wie lange ihre Bewegungen verfolgt werden. Das reine Aufzeichnen sei laut Polizei nicht erlaubt, stattdessen würden Mitarbeiter in einer Leitstelle das eingehende Material in Echtzeit sichten.
Nach § 15 des Polizeigesetzes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) dürfen „personenbezogene Daten von Teilnehmern erhoben werden (auch per Bild- und Tonaufnahmen), wenn Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zu erwarten sind, um diese zu verhindern oder zu verfolgen; die Daten müssen spätestens nach einem Monat gelöscht werden, sofern sie nicht für Strafverfolgung oder vorbeugende Maßnahmen benötigt werden“.
Aber: Schafft mehr Überwachung tatsächlich mehr Sicherheit? Belastbare Belege gibt es nicht. Die einst vorgeschriebene wissenschaftliche Evaluation des Erfolgs und der Wirksamkeit wurde 2018 abgeschafft – unter NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) mit den Stimmen von Schwarz-Gelb.
Der einzige verfügbare Evaluationsbericht des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen kam damals zu einem eher enttäuschenden Ergebnis: Es gebe keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass Videoüberwachung Kriminalität senkt oder die Aufklärungsquote systematisch verbessert. Reuls persönliche Einschätzung gegenüber dem WDR lautet dennoch: „Im Großen und Ganzen hat sich das bewährt. Videoüberwachung ist keine Zauberlösung, ist keine Lösung für alle Probleme, aber sie hilft. Nicht mehr und nicht weniger. Nichts tun hilft auf jeden Fall gar nicht.“
Offiziell wird mit Abschreckung argumentiert. Laut Marcus Kober vom Deutschen Forum für Kriminalprävention könne Videoüberwachung „bestimmte Straftäterinnen und Straftäter abschrecken“, „unter der Voraussetzung, dass vor Tatbegehung überlegt wird, wie hoch das Entdeckungs- und Strafverfolgungsrisiko ist.“ Geplante Taten können also durch Kameras beeinflusst werden, Kober räumt aber ein, dass spontane Gewalt kaum verhindert wird und sich Straftaten einfach in unbeobachtete Bereiche verlagern.
NRW-Städte erwarten Unterstützung bei Anti-Terror-Kosten
Videokameras auf Weihnachtsmärkten werden meist von privaten Sicherheitsfirmen betrieben. „Denn Weihnachtsmärkte gelten selten als Kriminalitätsschwerpunkt, können also nicht polizeilich videoüberwacht werden“, so der WDR.
Weihnachtsmärkte gelten vielleicht selten als Kriminalitätsschwerpunkt, dafür sind sie potenzielles Ziel von Terroranschlägen. Viele Weihnachtsmärkte haben in diesem Jahr erst gar nicht geöffnet, da sie die hohen Sicherheitsauflagen nicht mehr erfüllen konnten. So zum Beispiel im nordrhein-westfälischen Overath.
Der Städtetag NRW erwartet nun vom Land, die Kosten für Sicherheitsmaßnahmen gegen Terroranschläge zu übernehmen. „Der Aufwand für die Sicherheit auf Weihnachtsmärkten und auch für andere Stadtfeste und Jahrmärkte ist in den vergangenen Jahren enorm gestiegen – vor allem, weil deutlich höhere Anforderungen an die Sicherheitskonzepte gestellt werden“, so der Städtetags-Geschäftsführer Christian Schuchardt.
„Wir wollen Weihnachtsmärkte und andere Feste als Orte des Miteinanders bewahren“, führte er aus. „Derzeit springen aber die Städte faktisch für gestiegene Sicherheitskosten ein, während sich der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen finanziell nicht beteiligen.“ Weihnachtsmärkte würden damit zu finanziellen Risiken für Städte oder zu Verlustgeschäften für Veranstalter.
Der Städtetag kommt zu dem Schluss, dass weder Kommunen noch Veranstalter diese Belastungen tragen müssten. „Terrorabwehr ist keine Aufgabe der Städte“, sagte Schuchardt der „Rheinischen Post“. Er berief sich dabei auf ein Rechtsgutachten, das der Städtetag NRW in Auftrag gegeben hat. „Daraus geht klar hervor: Die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten liegt eindeutig bei den staatlichen Polizeibehörden. Aber auch der Bund ist mitverantwortlich, da er für die Abwehr von ‚Gefahren des internationalen Terrorismus‘ zuständig ist.“
Schuchardt forderte: „Wir erwarten jetzt vom Land eine ernsthafte und konstruktive Diskussion darüber, wie terrorbedingte Sicherungsmaßnahmen künftig gewährleistet werden und in welcher Form das Land die finanziellen Lasten übernimmt. Und auch der Bund muss sich der Verantwortung stellen und in Zukunft die Finanzierung der Sicherheitsmaßnahmen mitübernehmen, die Terroranschläge verhindern sollen.“
Maßnahmen zur Terrorabwehr, Videoüberwachung, Waffenverbotszonen werden in Deutschland auf öffentlichen Plätzen und Straßen zur neuen Normalität – ohne dass ihre Wirksamkeit beim Schutz gegen Gewalt und Kriminalität gesichert ist. Fraglich ist, ob potentielle Täter sich davon beeindrucken lassen. Ein Eingriff in die Freiheitsrechte aller Bürger ist dagegen sicher.




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