Kernenergie: Kommt Bewegung in die Ampel?

Außenministerin Baerbock schließt eine Fristverlängerung nicht mehr aus, und auch Kanzler Scholz lässt sich eine Hintertüre bei der Kernenergie offen. Ein Vorschlag aus Polen zeigt, dass man die deutsche Sturheit beim Atomausstieg als ein europäisches Risiko einschätzt.

IMAGO / Wolfgang Maria Weber
Das Atomkraftwerk Isar 2 ist eines der drei letzten aktiven Kernkraftwerke in Deutschland

In der Ampel nimmt der Streit über Laufzeitverlängerungen zu. In der FDP hatten sich in den letzten beiden Wochen schon häufiger Stimmen erhoben, die sich dafür einsetzten, die drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerke länger laufen zu lassen. FDP-Chef Christian Lindner sprach im Fernsehsender n-tv von einer „Reserve-Option“, die Kernkraft länger zu nutzen, eine „befristete Laufzeitverlängerung“ gehöre auf den Tisch. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nannte die Laufzeitverlängerung „alternativlos“.

Mittlerweile scheint sich selbst bei den eigentlichen Hütern des Atomausstiegs etwas zu bewegen. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, die bereits vor Volksaufständen bei ausbleibenden Gas-Lieferungen gewarnt hat, zeigt sich plötzlich offen dafür, zumindest ein erneutes Mal die Laufzeitverlängerung der Kernenergie in Deutschland zu prüfen. Am Freitagabend sagte sie in einem BILD-Interview: „Wir sind jetzt in einer Notsituation, wo wir alles noch einmal anschauen.“

Scholz und Baerbock stimmen ungewohnte Töne an

Zwar schränkte sie ein, dass man „nicht ohne Grund“ aus der Atomkraft ausgestiegen sei. Doch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck prüfe derzeit erneut die Situation. „Die Ergebnisse warten wir ab“, sagte die Außenministerin. Sie hielt sich dabei an die grüne Leitlinie, dass das Problem nicht die Stromversorgung, sondern die Gasversorgung sei. „Und deswegen ist Atomkraft nicht die Antwort“, so Baerbock.

Grüne Blockade aufheben
Die Laufzeiten der Atomkraftwerke müssen verlängert werden – jetzt!
Auch bei Kanzler Olaf Scholz sind die Dinge nicht mehr so klar wie vor einem Monat. Da hatte der Bundeskanzler dem Münchener Merkur gesagt: „Ich befürworte den Ausstieg aus der Atomenergie aus vollem Herzen.“ Doch schon damals ließ sich Scholz ein Hintertürchen offen. „Gleichwohl: Wenn es problemlos möglich wäre, die Laufzeit um ein oder zwei Jahre zu verlängern, würde sich jetzt wohl kaum jemand dagegen stellen.“ Der Kanzler sagte abschließend, dass dies „eben nicht der Fall“ sei. Doch offenbar hat sich in der Causa etwas geändert.

Am Freitagabend erklärte der Bundeskanzler, dass Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck eine „verschärfte Worst-Case-Szenario-Berechnung in Auftrag gegeben“ habe. Eine Laufzeitverlängerung ist damit nicht ausgeschlossen. Man müsse sich die Kalkulation anschauen. Habeck spricht von einem „Stresstest“. Ein Sprecher erklärte im Bezug auf die Atomkraft, man werde auf der Grundlage „klarer Fakten“ entscheiden.

Die Ampel verhinderte Laufzeitverlängerungen noch vor zwei Wochen

Die Volte ist nicht nur deswegen verwunderlich, weil das BMWK erst in den letzten Wochen in Anfragen immer wieder betonte, dass am Ausstieg nicht gerüttelt werde – keine Ausrede war dafür zu klein. Das galt für die Anfragen der AfD-Abgeordneten Leif-Erik Holm und Norbert Kleinwächter wie auch die offensichtliche Ablehnung von Brennstab-Lieferungen, obwohl diese möglich gewesen wären.

Sozialistische Ruine statt Wirtschaftspartei
FDP stimmt geschlossen gegen Fristverlängerung für Kernenergie
In der letzten Sitzungswoche des Bundestages hatte die Bundesregierung zudem über Notfallmaßnahmen bei Gasknappheit abgestimmt. Dabei sollten jedoch nur Kohlekraftwerke in die Bresche springen, von der Kernkraft war keine Rede. Ein Änderungsantrag, der zumindest die Möglichkeit eröffnen sollte, die drei verbliebenen Kernkraftwerke im Notfall zu berücksichtigen, wurde mit den Stimmen von SPD, Grünen und auch FDP abgelehnt.

Nur eine Woche danach fing die FDP plötzlich davon an, sich doch für die Atomkraft einzusetzen, obwohl alle Regierungsparteien eine Woche zuvor die Möglichkeit gehabt hätten, genau das zu tun. Womöglich hatte man darauf spekuliert, im sitzungsfreien Sommerloch nicht mit dem Thema behelligt zu werden und weiter die „Gasknappheit ist keine Stromknappheit“-Nummer zu spielen. Doch spätestens nach der Kabale um die Nord-Stream-1-Gasturbine und der steigenden Nervosität in Medien wie Bevölkerung sieht sich auch die Ampel unter Druck – oder hofft darauf, dass sich das Thema bis zum Herbst erledigt hat.

Will Polen deutsche Kernkraftwerke pachten?

Denn ohne Parlamentsbeschluss wäre eine Laufzeitverlängerung nicht möglich. Regulär tritt der Bundestag aber erst wieder in der Woche ab dem 5. September zusammen – damit steht der Oktober und die Heizsaison knapp vor der Türe. Sondersitzungen in der Sommerpause sind zwar möglich, aber unüblich. Aufgrund der Sommerplanungen der Abgeordneten dürfte in einem solchen Fall auch das Quorum nur schwer zu erfüllen zu sein – manch grüner und roter Abgeordneter könnte auch die Möglichkeit sehen, sich der Sommerpause wegen herauszureden, um nicht an der Abstimmung teilzunehmen.

EXKLUSIV
Die Bundesregierung trickst bei der Abschaltung der Kernkraft
Ein Vorschlag aus Polen sorgt derweil für Aufregung in den Medien. Die kleine sozialdemokratische Partei Lewica Razem (Linke Gemeinsam) brachte die Idee ins Spiel, die drei verbliebenen Kernkraftwerke in Deutschland zu pachten, bevor das Nachbarland diese abstelle. „Zum Wohle der Sicherheit Europas und des Klimas“ sollten die Kraftwerke weiterlaufen. Der Vorschlag wurde im Europa-Ausschuss des polnischen Parlaments debattiert. Die Zeitung „Gazeta Wyborcza“ sprach zwar davon, dass die Pacht „nicht die kleinste Chance“ hätte, betonte jedoch, derzeit sei „jedes Megawatt Gold wert“. Die Deutschen hielten dagegen unbeirrt an ihren Beschlüssen fest.

Belgien hat indes eine Entscheidung vom März umgesetzt und die Laufzeit der Atomkraftwerke in Tihange 3 und Doel 4 verlängert. Die belgische Regierung und der Energiekonzern Engie haben sich darüber geeinigt. Eigentlich hatte das westliche Nachbarland einen Atomausstieg im Jahr 2003 beschlossen, diesen aber immer wieder vertagt. Zuletzt hatte man einen Ausstieg bis 2025 geplant. Jetzt sollen die beiden Meiler aber sogar bis 2035 laufen.

Die EU-Staaten geben Habeck einen Korb

Robert Habeck
Die deutsche Regierung hat bei Atomkraft gelogen
Der letzte Strohhalm, nach dem die Anhänger der Energiewende fassten, entpuppt sich hingegen als Illusion. Über die EU wollte Deutschland sein Gasproblem auslagern und Brüssel die Möglichkeit geben, Einsparungen von bis zu 15 Prozent einzufordern. Griechenland, Portugal, Polen, Zypern, Ungarn und Spanien lehnten den Plan einer kollektiven Reduktion jedoch kategorisch ab. Die spanische Energieministerin Teresa Ribera sagt, ihr Land brauche nicht zu sparen, weil es nicht wie andere Länder „über seine Verhältnisse“ gelebt habe. Habeck forderte dagegen „Solidarität“ ein.

Doch warum sollten andere Staaten Gas einsparen wollen, wenn Deutschland mit dem Atomausstieg seit Jahren die Energiesicherheit in Europa in Gefahr bringt, und auch im äußersten Notfall nicht alle Hebel in Bewgeung setzt – und sich auch nicht in seine Energiewende reinreden ließ? Selbst in der Notsituation zieht man es vor, die Schuld auf andere Länder abzuschieben, bevor man in Berlin das Gesicht verlieren könnte. Dabei geht es mittlerweile um deutlich mehr als ideologische Befindlichkeiten.

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Kommentare ( 64 )

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Dr. Friedrich Walter
1 Jahr her

Immer mehr müssen die Grünen er- und bekennen, daß ihre gesamte „Energiewende“ eine illusionäre Seifenblase ist, in die die Realität gnadenlos hineinsticht und sie zum Platzen bringt. Die „Notsituation“, wie Annalena Baerbock das nennt, ist von den Grünen (mit Merkels Hilfe) ohne Notwendigkeit selbst herbeigeführt worden. Jetzt wird in Panik zurückgerudert. Der Rückwärtsgang hat sie schon wieder zur Kohle geführt, jetzt ist die Kernkraft dran. Mal sehen, wie es weitergeht. Wie kann die Realität auch so gemein sein…! Übrigens habe ich vorhin in den „Deutschen Wirtschaftsnachrichten“ gelesen, daß ausgerechnet „grüne Fonds“ vermehrt in fossile Brennstoffe investieren. Der Salto rückwärts soll… Mehr

herman32
1 Jahr her

Eines mus man der gelernten Küchenhilfin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) lassen, in den aktuell notwendigen Formulierungen, die das Gegenteil dessen bedeuten, was die Grünen geschworen haben, ist sie sehr variabel. Bar von jeglichem fachlichen Hintergrund erfindet sie einfach eine neue Vokabel, einen „Streckbetrieb“ über das Jahresende hinaus der verbliebenen deutschen Atomkraftwerke „schließt sie nicht mehr aus“.

Siggi
1 Jahr her

Wenn nicht, müssen die Bürger diese Bagage aus dem Amt jagen.

Niklot
1 Jahr her

Die Deutschen haben halt mehr Angst vorm Strahlentod als vor dem Erfrierungstod. Die Realität wird diese Ängste bald einholen. Es wird wohl wie immer zuerst die Armen treffen, nicht die grüne Neoaristokratie.

Niklot
1 Jahr her

Lustig, dass die Deutschen immer Solidarität der anderen einfordern. Solidarität ist eine abgedroschene sozialistische Phrase, die letztlich Zwang kaschiert. Klar, dass sich andere Völker nicht dem deutschen Zwang unterwerfen wollen. Sollten die Deutschen wirklich in Not sein, werden die anderen uns auch helfen (Nächstenliebe). Aber wir sind nicht in Not. Wir machen eine grottenschlechte und dumme Politik. Da liegt der Unterschied.

privilegierter Erpel
1 Jahr her

Was bin ich froh, dass die Grünen an der Macht sind. Jetzt müssen sie das ausbaden, was sie die letzten 24 Jahre mit ihrer kulturellen Vorherrschaft angerichtet haben. Nur die Grünen können die Atommeiler wieder anfahren.

Hueckfried69
1 Jahr her

Erstaunlich finde ich die Arbeitsteilung innerhalb der Regierung: Jemand, der mit den deutschen Verhältnissen nicht vertraut ist, würde vermutlich Habeck für den Kanzler halten. Im Moment scheint das Wahlvolk nicht zu wissen, wofür d e r eigentlich da ist. Energie-, Klima- und Aussenpolitik können es ja wohl nicht sein….

Alexis de Tocqueville
1 Jahr her
Antworten an  Hueckfried69

Der Kanzler kümmert sich natürlich um die wichtigen Themen. Bank- und Kapitalmarkt, Steuervermeidung… so was.

Karl Schmidt
1 Jahr her

Die Krisenerzeuger werden doch nicht auf halben Weg umkehren. Die Grünen wollen Demokratie und Rechtsstaat im Wesentlichen abschaffen, weil das eine Machtausübung durch die Bürger darstellt und einen Schutz vor der Privilegierung grüner Drückerkolonnen. Für letztere wird ein Denunziantenstaat errichtet unter Mithilfe auch der CDU. Wohlstand verleiht Bürger zu viel Einfluss. Nur wer knappe Ressourcen verteilen kann, Abhängigkeiten schafft, macht sich zum politischen Zentrum, das dann von oben nach unten bestimmt, was richtig ist und was nicht. Widerspruch kann dann auch wirksam bestraft werden, weil ein (weiterer) Verzicht nicht möglich ist. Es ist die Programmierung einer neuen Diktatur, die Waffengewalt… Mehr

Julius Schulze-Heggenbrecht
1 Jahr her

Es gibt bei der geforderten Laufzeitverlängerung der letzten drei deutschen KKW mehrere gravierende, durch dumme deutsche rotgrünschwarzgelbe Politclowns verursachte Probleme. Zwar könn(t)en die Betreiber – entgegen allen Behauptungen Habecks – wohl kurzfristig neue Brennstäbe beschaffen. Aber es fehlt inzwischen an fachkundigem Personal! Die KKW-Betreiber haben, da ja der Ausstieg politisch beschlossen und in Stein gemeißelt war, kein Personal (Anlagenfahrer, Schichtleiter) mehr ausgebildet. Studiengänge für KKW-Ingenieure gibt es an deutschen Unis schon seit etwa zehn Jahren nicht mehr. Der ehemalige KKW-Ingenieur Manfred Haferburg hatte vor einigen Monaten mal vorgerechnet, dass es etwa drei Jahre dauert, Anlagenfahrer für ein KKW auszubilden und… Mehr

Howard B.
1 Jahr her

Zum Thema Regierung und Energieversorgung: Seit wann bestimmt ein „Minister“ und nicht der Regierungschef, was Linie ist? Aber bei einer konsensualen Einheitspartei ist dies nicht erforderlich.

Es geht doch letztlich nur darum, die Bevölkerung zu verarmen, um Gefügigkeit zu erreichen. Nur so lässt sich eine Neue Normalität installieren. Egal, ob unter dem Deckmantel CORONA, Klimawandel, Freiheit für die Ukraine …

Das Spiel findet überall im Westen statt, wobei Deutschland den ideologischen Musterschüler zeigt.