Das Versorgungswerk der Berliner Zahnärztekammer hat bei windigen Anlagegeschäften mehr als eine Milliarde Euro versenkt. Knapp 11.000 Mediziner aus Berlin, Brandenburg und Bremen zittern jetzt um ihre Altersbezüge.
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„Wir dachten anfangs: Schauen wir mal, wie viel Geld weg ist. Inzwischen schauen wir, was überhaupt noch da ist.“
Es ist ein vernichtender Befund, den Holger Wassermann da nüchtern vorträgt. Der Berliner Professor für Betriebswirtschaftslehre ist Experte für Rechnungswesen. Zusammen mit anderen Finanzfachleuten wurde er engagiert, um eine Bestandsaufnahme beim Versorgungswerk der Berliner Zahnärztekammer durchzuführen.
Im Ergebnis durchforstet er jetzt den größten Skandal in der Geschichte deutscher Pensionskassen.
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Zahnärzte gehören zu den sogenannten freien Berufen. Die waren früher von der gesetzlichen Rentenversicherung ausgeschlossen. Deshalb gründeten sie – auch in anderen freien Berufen, bei den Apothekern zum Beispiel und bei den Rechtsanwälten – eigene Altersvorsorgeeinrichtungen: die Versorgungswerke.
Das Versorgungswerk der Zahnärztekammer Berlin ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Es wurde 1965 gegründet, ein Jahr später schlossen sich die Bremer Zahnärzte an und 1992 noch die aus Brandenburg. Für sie alle ist das Versorgungswerk die sogenannte Pflichtversorgungseinrichtung. Das heißt, jeder Zahnarzt in Berlin, Brandenburg und Bremen ist dort zwangsweise Mitglied und muss monatlich bis zu 1.529,50 Euro Pflichtbeitrag überweisen.
Das Versorgungswerk hat die gesetzliche Aufgabe, das Geld am Kapitalmarkt gewinnbringend anzulegen und von den Erträgen die Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenrenten seiner Mitglieder zu bezahlen. Das System funktioniert kapitalgedeckt – also anders als bei der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente.
Das Gesamtvermögen des Versorgungswerks liegt bei rund 2,2 Milliarden Euro. Oder besser: lag. Denn mindestens die Hälfte ist jetzt weg.
Weg ist damit ein Großteil des Geldes, von dem die 11.000 Mitglieder ihre Rente bekommen sollen. Wie genau die Kohle verschwand, wird im Detail noch ermittelt. Klar ist schon so viel: Sehr viel wurde mit absurd riskanten Investitionen verspielt.
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„Wie ein Risikokapitalfonds“ habe das Versorgungswerk investiert, sagt Gutachter Wassermann kopfschüttelnd. Mit den Pensionen wurde schlicht gezockt, „ein völlig wahnsinniger Weg“. Er und seine Kollegen sind sich in ihrem Urteil einig. Kein auch nur halbwegs vernünftiger Mensch würde jemals so investieren, um Geld zu verdienen:
„Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
Die Funktionäre, die das viele schöne Geld versenkt haben, hätten so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Investiert wurde in „lauter Murksbuden und Mittelständler“. Ohne jedes Konzept, ohne Strategie. Ohne Sinn und Verstand. Lächerliche 0,1 Prozent des Vermögens wurden in Aktien angelegt. Finanzprofis wissen: Das ist viel zu wenig.
Im Portfolio findet sich stattdessen ein „innovatives“ Recyclingwerk in den USA. Obwohl eine Analyse der Unternehmensberatung Ernst & Young schon 2013 warnte, dass der Einstieg hochriskant wäre, wurde dort investiert. Fast 200 Millionen Euro sollen seitdem in das mittlerweile geschlossene Recyclingwerk für Plastikbehälter in Los Angeles geflossen sein. Die Berliner Zeitung „Tagesspiegel“ hat das aufgedeckt und fragt mit einiger Berechtigung:
„Wieso investiert eine Rentenkasse für Zahnärzte in Berlin in eine 9.000 Kilometer entfernte Fabrik, deren Geschäftsmodell noch nicht erprobt ist?“
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Das dürfte maßgeblich daran liegen, dass die Zahnärzte ihre Pensionsgelder nicht von Finanzprofis verwalten ließen. Stattdessen legten sie die Aufgabe in die Hände von gewählten Standesvertretern – also von anderen Zahnärzten.
Die kennen sich im günstigsten Fall eben gut mit Zähnen aus, aber nicht zwangsläufig mit Finanzinvestitionen. Bei einer Sitzung des Versorgungswerks im vergangenen Oktober gab ein Rechnungsprüfer offen zu, dass er von der Materie überfordert ist: „Wenn ich als Zahnarzt den Wirtschaftsprüferbericht lese, der über 200 Seiten geht, kann ich nicht sagen, das ist richtig so.“
Erstaunlicherweise ist es bei den berufsständischen Pensionskassen absolut üblich, dass sie von ihren Mitgliedern selbst verwaltet werden. Auch beim Berliner Versorgungswerk waren nur der Direktor, eine Portfoliomanagerin und eine Syndikusrechtsanwältin als hauptamtliche Angestellte keine Zahnmediziner. Sie sollten die Zahnärzte beim Geldanlegen unterstützen.
Das funktionierte, siehe oben, wohl nur so mittelgut.
So gegen 2016, in der Niedrigzinsphase an den Kapitalmärkten, wurden den Verantwortlichen die normalen Renditen offenbar zu klein. Nach und nach stieg man aus sicheren festverzinslichen Wertpapieren aus – und setzte stattdessen auf risikoreiche Direktbeteiligungen.
Zum Beispiel auf das Versicherungs-Startup „Element“. Zum Schluss hielt die Versorgungskasse sogar 80 Prozent an der jungen Firma. Doch Anteile an Unternehmen, die nicht an der Börse gehandelt werden, sind extrem riskant – weil es naturgemäß keinen sichtbaren Marktwert des Unternehmens gibt.
Es kam, wie es kommen musste: „Element“ meldete Anfang 2025 Insolvenz an. Allein diese Pleite dürfte die Zahnärzte mehr als 60 Millionen Euro kosten. Kurze Zeit später gingen weitere Firmen, bei denen das Versorgungswerk sich mit großen Beträgen beteiligt hatte, in die Knie.
Erst da wachten die Zahnärzte auf. Im April 2025 wurde erst der damalige Vorsitzende gefeuert, wenig später dann weitere Führungskräfte.
Inzwischen steht auch der Verdacht im Raum, mindestens eine frühere Führungskraft könne nicht nur schlecht investiert, sondern auch sich selbst bereichert haben. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen wegen möglicher Korruptionsdelikte im Zusammenhang mit den Fehlinvestitionen aufgenommen.
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Versagt haben ganz offenkundig aber auch Prüfer und Aufsichtsbehörden. Das Versorgungswerk muss jährlich einen Jahresabschluss und einen Lagebericht vorlegen – und ein versicherungsmathematisches Gutachten, das berechnet, wie viel Geld nötig ist, um künftige Renten sicher zahlen zu können.
Das alles wird kontrolliert: von Wirtschaftsprüfern, von einem unabhängigen Sachverständigen und von der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft als Aufsichtsbehörde. Laut Geschäftsbericht lässt das Versorgungswerk zudem jährlich seine Anlage- und Liquiditätsrisiken von einer Bank einschätzen.
Warum hat niemand etwas gemerkt?
Viele Anlagen wurden offenbar gar nicht von einem unabhängigen Gutachter bewertet. Finanzprofessor Wassermann hat dazu eine klare Meinung: „Für mich ist nicht nachvollziehbar, wie ein Abschlussprüfer das nicht sehen kann. Ich habe da ein extremes Störgefühl.“
Die früheren Wirtschaftsprüfer der Pensionskasse machen sich einen recht schlanken Fuß. Forvis Mazars und Baker Tilly wollen sich zu Mandaten nicht äußern.
Die Apobank, die die Risiken analysiert haben soll, erklärt: Ein „externes Risikocontrolling-Berichtswesen“ gehöre nicht zu ihrem Leistungsspektrum. In den Jahresabschlüssen des Versorgungswerks steht allerdings genau diese Formulierung.
Wenig auskunftsfreudig zeigt sich auch die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, die als Versicherungsaufsicht die Kapitalanlagen überwacht – oder besser: überwachen müsste. Sie beruft sich, Überraschung, auf die Schweigepflicht.
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Das Versorgungswerk hat eine Vielzahl hochspekulativer Beteiligungen angehäuft. Bei vielen davon droht jetzt der Totalverlust. Wie hoch der Gesamtschaden ist, wird noch berechnet. Aber die künftigen Renten der Zahnärzte könnten sich wegen des Skandals im schlimmsten Fall halbieren.
Die Zeiten, da der Zahnarztberuf eine Art Lizenz zum Gelddrucken war, sind schon länger vorbei. Natürlich wird in der Branche teilweise immer noch sehr gut verdient. Aber eben nur teilweise. Nur die wenigsten Dentisten können es sich heutzutage leisten, im klassisch gemusterten Burberry-Hemd mit dem Ferrari nach Sylt zum Golfen zu fahren.
Heute erhalten pensionierte Zahnärzte im Schnitt 1.761,48 Euro vom Versorgungswerk. Das ist immer noch viel – doch allein für die private Krankenversicherung zahlen viele Zahnärzte im Ruhestand mehrere Hundert Euro im Monat.
Wenn die Renten nun halbiert werden sollten, wird es sogar für viele Zahnärzte eng.

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