Der Gegenwind für Nancy Faesers Pläne

Mit ihrem autoritären Gesetzesvorhaben, das an finsterste Zeiten erinnert, stößt die Innenministerin auf immer mehr Widerstand. Als Reaktion schlägt sie wild um sich, indem sie Kritiker in die Nähe von Terroristen rückt.

IMAGO

Der Norddeutsche Rundfunk berichtete über den Fall einer 16-jährigen Schülerin im vorpommerischen Ribnitz-Damgarten, gegen die der Schuldirektor die Polizei wegen Tiktok-Posts mobilisierte, auf seine ganz eigene Weise. Der Beitrag konzentrierte sich ganz auf die angeblichen Hassbotschaften, die jetzt über der Schule und ihrem Leiter niedergingen. Eher beiläufig hieß es bei der ARD-Anstalt über den eigentlichen Vorgang am Richard-Wossidlo-Gymnasium, dort habe es „den Verdacht“ gegeben, „eine Schülerin hätte staatsfeindliche Inhalte in sozialen Netzwerken verbreitet“. Abgesehen davon, dass es keinen strafrechtlichen Verdacht gegen die Teenagerin gab, sondern offenbar nur das Einschüchterungsbedürfnis des Direktors, abgesehen davon also wirkt die Wortwahl des Senders bemerkenswert.

Denn den Tatbestand der Staatsfeindlichkeit gibt es in der Bundesrepublik nicht. Bis jetzt jedenfalls. Es gab ihn in zwei anderen deutschen Staaten, zum einen in der DDR, Strafgesetzbuch-Paragraf 106, „Staatsfeindliche Hetze“:

„Wer mit dem Ziel, die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen oder gegen sie aufzuwiegeln“, hieß es dort, „Schriften, Gegenstände oder Symbole, die die staatlichen, politischen, ökonomischen oder anderen gesellschaftlichen Verhältnisse der Deutschen Demokratischen Republik diskriminieren, einführt, herstellt, verbreitet oder anbringt, Verbrechen gegen den Staat androht oder dazu auffordert, Widerstand gegen die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten; Repräsentanten oder andere Bürger der Deutschen Demokratischen Republik oder die Tätigkeit staatlicher oder gesellschaftlicher Organe und Einrichtungen diskriminiert; den Faschismus oder Militarismus verherrlicht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.“

Den Vorwurf der „Diskriminierung“ als Instrument zum Ausschalten von Kritikern gab es also schon vor ein paar Jahrzehnten.

Das nationalsozialistische Gesetz gegen „heimtückische Angriffe auf Staat und Partei“ von 1934 legte fest:

„Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft. (2) Den öffentlichen Äußerungen stehen nichtöffentliche böswillige Äußerungen gleich, wenn der Täter damit rechnet oder damit rechnen muß, daß die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde.“

Mit diesen beiden juristischen Texten muss sich die Gesetzesankündigung von Innenministerin Nancy Faeser und Familienministerin Lisa Paus vergleichen lassen. Daran tragen beide Ministerinnen die exklusive Schuld. Denn das, was sie vor kurzem in Berlin als sogenanntes Maßnahmenpaket vorstellten, atmet bei allen Unterschieden zu den beiden früheren deutschen Staaten den gleichen Geist: den Willen, bloße Meinungen, die den Regierenden als unerhört erscheinen, zu Straftaten zu erklären. Zweitens ähnelt der Faeser-Paus-Entwurf den historischen Gesetzen auch in seiner bewussten Unschärfe, mit der die Ministerinnen die Grenzen der Strafbarkeit offenbar so weit dehnen wollen, dass viele Bürger sich schon bei banalen Alltagsäußerungen über die Politik fragen, ob sie damit womöglich einen Polizeibesuch oder mehr riskieren.

Genau darin, in dem Einschüchterungseffekt scheint der Hauptzweck der Berliner Übung zu bestehen. In der Aufzählung von Maßnahmen, die demnächst Gesetz werden sollen, heißt es beispielsweise zur Zielgruppe der Restriktionen: „Die sogenannte Neue Rechte gilt als Scharnier zwischen nicht-extremistischen Kreisen und dem extremistischen (Parteien-)Spektrum. Ihr vermeintlich bürgerliches Auftreten lässt sie gegenüber Teilen der gesellschaftlichen Mitte als besonders anschlussfähig erscheinen.“ Schon auf Bürger, die nicht in die Rubrik „Extremist“ fallen, kann sich den Plänen zufolge also staatliche Repression erstrecken, auch im Zusammenspiel mit privaten Unternehmen. Etwa, wenn der Verfassungsschutz bei Banken darauf drängt, der verdächtigen Person das Konto zu kündigen.

„Extremisten stellen nicht nur die freiheitliche demokratische Grundordnung in Frage. Häufig verhöhnen sie den Staat und seine Institutionen und halten sie für schwach“, heißt es weiter auf der Webseite des Innenministeriums. Dass es straflos möglich ist, den Staat zu verhöhnen und ihn für schwach zu halten, gehörte bisher immer zu den Erkennungsmerkmalen eines liberalen Gemeinwesens. Das pflegt von seinen Bürgern keine Bekenntnisse zu verlangen. Schon gar keine Zustimmung zur herrschenden Politik. Es gibt übrigens gute Gründe, diesen Staat beispielsweise auf dem Gebiet der Abschiebung krimineller Migranten für schwach zu halten. Ändern könnte das der Staat selbst, vor allem Nancy Faeser.

Die Ministerin kündigte auch an: “Zudem sollen inkriminierte Inhalte aus dem Internet entfernt werden, um der Verrohung der Sprache im virtuellen Raum und potentiellen Nachahmungseffekten entgegenzuwirken.“ Wohlgemerkt: „inkriminiert“ – nicht kriminell.

Gerade wegen der speziellen deutschen Geschichte regt sich publizistischer und politischer Widerstand gegen den Faeser-Paus-Plan bis weit in die Mitte hinein.

„Ich unterstelle der Ministerinnen Faeser und Paus keineswegs, dass sie etwas mit dem Faschismus am Hut haben. Ich habe allerdings den Verdacht, dass sie nicht genau wissen, worin der Unterschied zwischen demokratischen und unfreien Gesellschaften besteht“, schreibt beispielsweise Harald Martenstein, Autor bei ZEIT und Welt.

„Es gibt zum Glück kein Gesetz, das den Staat entscheiden ließe, was ‚Hass‘ ist, denn damit würde er sich illegitimerweise zum Richter darüber aufschwingen, was als Meinung gelten darf“, meint ZEIT-Redakteur Jochen Bittner.

Mehrere Politiker des Koalitionspartners FDP erklärten, einem Gesetz nicht zuzustimmen, sollte es den Ankündigungen von Faeser und Paus entsprechen. Falls sie es doch täten, dann bräuchten die Freidemokraten zur nächsten Wahl gar nicht erst anzutreten.

In ihrer argumentativen Not holt die Innenministerin nun zum ultimativen Schlag aus, um ihr heilloses Vorhaben noch zu retten. Sie behauptet allen Ernstes, ihre Gummiparagrafen zur Einschüchterung und Meinungskontrolle wären notwendig, um politische Morde wie den an dem CDU-Mann Walter Lübcke zu verhindern: „Der Versuch, den Kampf gegen Rechtsextremismus als Eingriff in die Meinungsfreiheit zu diskreditieren, ist eine Verdrehung der Tatsachen. Wir bekämpfen Hasskriminalität, weil sie zu mörderischer Gewalt wie dem Attentat auf Dr. Walter Lübcke geführt hat.“

Der Staat verfügt schon über alle gesetzlichen Instrumente, um gegen Gewalttäter vorzugehen, egal, aus welchen politischen Motiven sie zuschlagen. Das Perfide an Faesers Versuch liegt darin, jeden, der ihren wahnhaften Gesetzesplan verhindern will, zum Komplizen von Attentätern zu stempeln. Die Unterstellung, der Staat müsste in harmlosen Tiktok-Accounts schnüffeln und Kritiker einschüchtern, um Kapitalverbrechen zu verhindern, ist grotesk, maßlos dumm und ein weiterer Grund für die sofortige Entlassung Faesers. Diese Ressortchefin verliert jedes Maß; sie betreibt genau das, was sie anderen vorwirft: Sie delegitimiert die Regierung, und mittelbar auch den Staat.

Bekanntlich gab es in Deutschland schon vor dem tödlichen Attentat auf Lübcke politische Morde, und das sogar schon vor der RAF-Gründung. Im Jahr 1981 erschossen nie gefasste Täter der „Revolutionären Zellen“ den damaligen hessischen Wirtschaftsminister und Freidemokraten Heinz-Herbert Karry. Zu den mutmaßlichen Unterstützern der Gruppe gehörte damals ein gewisser Joseph Martin Fischer. Mit Sicherheit hielt er sich in ihrem Umfeld auf. Man könnte in Faesers Worten von einer „Scharnierfunktion“ sprechen. Aber selbst in den Hochzeiten des RAF-Terrors gab es keinen Bundesminister und auch sonst keinen ernstzunehmenden Politiker, der gefordert hätte, jetzt müsse die Kritik am Kapitalismus staatlich unterbunden werden, denn man sehe ja, wohin sie führe.

Die RAF-Terroristen wollten den Kapitalismus tatsächlich abschaffen. Aber daraus folgte eben nicht, dass jeder oder auch nur ein nennenswerter Teil derjenigen, die das ebenfalls wollten, politische Morde gutgeheißen hätten. Es gibt keine allgemeine schiefe Bahn, auf der sich Kritik, auch heftige und zugespitzte, zu kriminellen Taten entwickeln würde. Bei politischen Morden handelt es sich um außerordentlich seltene Extremfälle, bei der Kritik an Politikern, auch bei polemischen, zugespitzten, höhnischen Attacken um den demokratischen Normalfall. Jeder kann die Migrationspolitik oder die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung rhetorisch in Grund und Boden stampfen, kann Faeser, Habeck und andere nach Strich und Faden verspotten, verhöhnen, verlachen, mit Polemik überkübeln, ohne es sich auch nur eine Sekunde lang gefallen lassen zu müssen, in die Nähe von politischen Kriminellen gerückt zu werden.

Vielleicht ergibt sich hier ein sinnvoller Ansatz, um das öffentliche Klima zu gesunden: Bekanntlich hilft es gegen eine allergische Reaktion, den Körper langsam an das Allergen zu gewöhnen. Der Begriff dafür lautet Desensibilisierung. Bei Faeser und Paus nützt es möglicherweise nichts mehr: Aber trotzdem sollte jeder mit der Regierung unzufriedene Bürger – und davon soll es einige geben – die Regierenden in Berlin mit einer täglichen Portion Hohn behandeln. Immer höflich und unterhalb der Strafbarkeitsschwelle. Am besten in Form von Spott. Vielleicht merken dann wenigstens andere Kabinettsmitglieder, dass nicht 16-jährige Schülerinnen und ominöse Neue Rechte das Problem darstellen. Sondern die Regierungspolitik. Mehr noch: ihr Stil.

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