„Der radikale Verlierer“ – Psychogramm terroristischer Attentäter

Wir befinden uns jedoch heute in einer so prekären Lage, dass wir die Analyse nicht den Politikern und den Massenmedien überlassen können, sondern uns anderweitig informieren müssen. Wozu haben wir beispielsweise Wissenschaft und Forschung, wenn sich die Politik ihrer nicht zur Beratung bedient.

Die Kanzlerin hat einen Plan, wie sie uns immer wieder erzählt, aber er bleibt verschwommen. Seit einem Jahr sehen wir anstatt Resultaten nur Zuspitzungen. Die Verantwortlichen dilettieren vor sich hin und benutzen Gewissensdruck und Moral, um die Bürger in der Spur zu halten. Wiederholungen bestimmter platter Botschaften ohne Schattierungen sind Taktiken, die das eigenständige Denken ausblenden sollen. Nur kein wissenschaftlicher Ballast!

Dilettierende Berichterstattung ohne Forschungsbasis

In diesen Kontext passt die undifferenzierte Berichterstattung über die terroristischen Attentäter der letzten Wochen und deren Reduzierung auf „Einzeltäter“ mit psychischen Problemen. Beim Nachdenken darüber kam mir  ein schon vor elf Jahren im Spiegel veröffentlichter Artikel von Hans Magnus Enzensberger in den Sinn: Unter dem Titel „Der radikale Verlierer“ erschien er später erweitert in einem Sonderdruck der „edition suhrkamp“. Schon damals hat mich der Text beeindruckt, und ich möchte ihn heute für mein Psychogramm der IS-Täter der vergangenen Terroranschläge hinzuziehen. Vor allem, weil er meiner Meinung nach viele Aspekte beleuchtet, die ich in den Meinungsführer-Medien so schmerzlich vermisse. Deren vereinfachte Berichterstattung entspricht in keiner Weise meiner Vorstellung von einem möglichst vollständigen Bild eines Phänomens, das derartig verheerende Folgen für unsere Gesellschaft hat. Ein „verwischtes“ Bild kann keine Lösung für gravierende Probleme sein.

Intellektuelle wie Enzensberger, die es in den 70er Jahren noch zahlreich gab, sind als kritische Begleiter und Mahner aus der Medienöffentlichkeit weitgehend verschwunden (ausgegrenzt worden), und eine neue Generation von Denkern scheint nicht nachzuwachsen. Wir befinden uns jedoch heute in einer so prekären Lage, dass wir die Analyse nicht den Politikern und den Massenmedien überlassen können, sondern uns anderweitig informieren müssen. Wozu haben wir beispielsweise Wissenschaft und Forschung, wenn sich die Politik ihrer nicht zur Beratung bedient. Schon in  einem früheren Artikel habe ich für einen öffentlichen Diskurs auf wissenschaftlicher Basis plädiert.

Gegen die Aufkündigung der Debatte
Einwanderung - Plädoyer für den öffentlichen Diskurs auf wissenschaftlicher Basis
Gunnar Heinsohn, emeritierter Professor der Universität Bremen  (Forschungsgebiete u. a. Genozidforschung, Bevölkerungspolitik, Konfliktforschung) ist zum Beispiel so ein Wissenschaftler, der sich damit beschäftigt, wie die Bevölkerungsexplosion und die Globalisierung die Welt verändert hat und weiter verändert. Beispiel Subsahara: Von 1950 bis heute ist die Bevölkerungszahl von 180 Millionen auf 960 Millionen Menschen angestiegen. In 35 Jahren werden es 2,1 Milliarden sein. Auf den Weltmärkten können diese Länder gegen die großen Player nicht konkurrieren. In den Ländern, aus denen die Flüchtlinge hierher kommen, fallen auf 100 alte Männer 500 junge im erwerbsfähigen Alter. Fünf kämpfen also um eine Position. Männer ohne Zukunft; Männer, die nichts zu verlieren haben. Wenn sie nach Europa kommen, sind sie Wirtschaftsflüchtlinge. Ist jedoch in einer solchen prekären und aufgeheizten Situation in ihrem Land ein Krieg ausgebrochen, sind sie asylberechtigt und haben auch ohne jegliche Qualifikationen Anspruch auf menschwürdige Unterhaltszahlungen. Die dritte Gruppe neben den Wirtschaftsflüchtlingen und Asylanten sind die sogenannten Versorgungsmigranten, die hier ihren Lebensunterhalt sichern wollen. Auch wenn z.B. Polen mehr Flüchtlinge aufnähme, würden diese schon bald darauf in Deutschland sein, meint Heinsohn.

Der Überschuss an Menschen ohne Perspektive führt in einer globalisierten Welt insgesamt zu immer mehr Konkurrenzdruck. Es wurden zudem in den vergangenen Jahrzehnten – auch durch die weltweit erreichbaren Medien – Erwartungen und Ansprüche geweckt, die in der Realität nicht erfüllt werden können und zu Enttäuschungen führen müssen. Die Menschen fühlen sich als Opfer, reagieren gekränkt und verbittert. Verärgerung und Wut stauen sich an. Der Verlierer, der die Dinge nicht hinnimmt, sondern sich empört, sucht nach Schuldigen, die dafür die Verantwortung tragen, seien es nun die Firma, Nachbarn, die Ehefrau, Kapitalismus, der Westen, Kommunisten, Juden, Ungläubige oder was auch immer. So kommt es bei diesem Typus des maßlos Enttäuschten – für viele Außenstehende oft völlig unerkennbar – eines Tages zu einer unerwarteten Explosion, zu einem Mord an Frau und Kindern, zu einer Geiselnahme, zu einem Amoklauf mit anschließender Selbstauslöschung.

Was macht den Verlierer heute zu einem Dschihadisten?

„Was aber geschieht, wenn der radikale Verlierer seine Isolation überwindet, wenn er sich vergesellschaftet, eine Verlierer-Heimat findet, von der er sich nicht nur Verständnis, sondern Anerkennung erwartet, ein Kollektiv von seinesgleichen, das ihn willkommen heißt, das ihn braucht“, fragt Enzensberger und beantwortet seine Frage gleich selber: „Dann potenziert sich die destruktive Energie, die in ihm steckt, zu letzter Skrupellosigkeit, es bildet sich ein Amalgam von Todeswunsch und Größenwahn, und aus seiner Ohnmacht erlöst ihn ein katastrophales Allmachtsgefühl – dazu wird allerdings eine Art ideologischer Zünder benötigt.“

Die Geschichte zeigt, dass es an solchen ideologischen Zündern nie gefehlt hat. Das können religiöse, nationalistische, kommunistische oder rassistische Ideologien sein – egal ob links oder rechts. Als Beispiel führt Enzensberger die „Weimarer Republik“ an, die narzisstische Kränkung durch die Niederlage von 1918 und den Versailler Vertrag. Die gleichzeitige Propaganda der Nationalsozialisten mit ihren größenwahnsinnigen Phantasien, die die Schmach  kompensierte, was letztendlich in einem beispiellosen Vernichtungskrieg und schließlich in der totalen Kapitulation endete. Es waren erniedrigte Verlierer, die sich einer Ideologie der Überlegenheit verschrieben, um auf fatale Weise ihre Selbstachtung zurückzugewinnen.

Heute gibt es nur noch eine global vorgehende gewaltbereite Bewegung dieser Art, schreibt Enzensberger: den Islamismus, – die Rückbesinnung auf die Zeiten des ersten Kalifats in Form eines seit 2003 aktiven und seit 2014 als „Kalifat“ deklarierten Staatsgebildes unter dem Gesetz der Scharia. Eine Terrororganisation, die sich auch einiges vom linksradikalen Terror der sechziger und siebziger Jahre abgeguckt hat. Alle seine technischen Mittel stammen aus dem Westen. Der Koran tritt an die Stelle der Lehren von Marx, Lenin und Mao. Gegner ist der dekadente Westen, die Ungläubigen sowie verschiedene abtrünnige Muslime wie Schiiten, Jesiden, Sufis usw.

Die immer sichtbarer werdende Misere der arabischen Welt und deren wissenschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Rückstand ist – auch wenn er verdrängt wird – im Unterbewusstsein präsenter denn je. Das eigene Versagen wird durch Benennung von Sündenböcken, durch Überlegenheitsgefühle und Größenwahnphantasien kompensiert.  Das neu gegründete „Kalifat“ will sich die Macht zurückerobern. Die Legitimation zum Töten bietet an vielen Stellen der Koran:

Sure 2/216: „Vorgeschrieben ist euch der Kampf, doch ist er euch ein Abscheu. Aber vielleicht verabscheut ihr ein Ding, das gut für euch ist, und vielleicht liebt ihr ein Ding, das schlecht für euch ist; und Allah weiß, ihr aber wisset nicht.“

Sure 8/17: „Nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah hat sie getötet. Und nicht du hast geworfen, als du geworfen hast, sondern Allah hat geworfen, und damit Er die Gläubigen einer schönen Prüfung von Ihm unterziehe. Gewiß, Allah ist Allhörend und Allwissend.“

Die großen Tötungsbewegungen waren immer die religiös-ideologisch begründeten. Man handelte stellvertretend im Auftrag einer höheren Macht, der es zu gehorchen galt. Die den Einzelnen in den Dienst einer großen Sache stellte, die wichtiger war als ihr kleines Leben: In den Dienst des „Vaterlandes”, des Marxismus-Leninismus, des Maoismus‘ und der RAF. Oder in den Dienst einer Kirche, die das wahre Leben auf das Jenseits verschob, wie es auch der Islam tut. Und immer war da ein Gegner und oft auch der Feind in den eigenen Reihen, dem man sich überlegen fühlte und der vernichtet werden musste.

Bewertungen von Psychologen   

Da, wo es zu differenzieren gilt, haben sich die dilettierenden Meinungsführer-Medien heute auf den psychisch kranken, traumatisierten „Einzeltäter“ als Erklärungsmuster des Terroristen festgelegt. Nur selten bekommt man fundiertere Ansichten zu lesen. Interessant z. B. der Leiter der Forensischen Psychiatrie an der Klinik der Münchner LMU, Norbert Nedopil, Er verweist auf Studien und Gutachten über Attentäter von 9/11. Von mehr als zwanzig Angeklagten sei nur einer wirklich an einer Psychose erkrankt gewesen. Bei zwei von ihnen habe man eine psychische Krankheit lediglich vermuten können. Die Psychiatrie unterscheide zwischen Wahn und Fanatismus. Fanatismus lasse sich dadurch klar von Wahn differenzieren, dass er kommunizierbar sei; also durch Propaganda weiter gegeben wird. (Man denke in diesem Zusammenhang an die öffentlichen „LIES!“-Aktionen der Salafisten. Nicht zu fassen, dass die immer noch nicht verboten sind.)

IS-Angehörige seien daher in aller Regel Fanatiker und  nicht krank. Genau so wenig, wie es die NSU-Täter waren, möchte ich hinzufügen. Ich habe jedenfalls noch nie gehört, dass jemand Angehörige einer rechtsextremen terroristischen Vereinigung wie dem NSU als psychisch krank bezeichnet hätte. Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni Leipzig lehnt Depression als Ursache für einen Anschlag ab. Depressive seien nicht aggressiv, sondern gäben im Gegenteil meist sich selber und nicht Anderen die Schuld und kämen daher nicht auf die Idee zu töten.

Fazit: Die vereinfachenden Beschreibungen der Angreifer führen in die Irre, denn nur auf einer klaren Erklärungsgrundlage können Maßnahmen zu unserem Schutz getroffen werden. Eine Verharmlosung wird die Konflikte nur noch mehr verschärfen. Die Wissenschaft zeigt dagegen klare Kante – ohne Rücksicht auf den Zeitgeist. Ihr Rat ist gefragt.

Enzensberger, Hans Magnus, Versuche über den Unfrieden – Vier Essays, Suhrkamp Verlag 2015

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