Corona: Fragile Gesellschaft

Die Folgen der Corona-Krise: Wie die Angst und der Ausnahmezustand unsere Gesellschaft verändern.

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Noch scheinen die Gesellschaften in Europa erstaunlich diszipliniert und rational. Hie und da Hamsterkäufe, überlastete Hotlines und Paniksymptome, aber keine Straßenschlachten, Plünderungen, Massenhysterien, keine Volksaufstände gegen immer tiefer in den Alltag eingreifende Verordnungen, keine Fluchtbewegungen. Noch scheinen die Europäer halbwegs krisenfest in dieser krisengeschüttelten Corona-Zeit. Wir fragten Experten unterschiedlicher Fachbereiche: Wie lange noch? Was passiert, wenn Quarantäne-Verordnungen und Ausnahmezustand immer weiter verlängert werden, wenn schmerzliche Kündigungswellen und Insolvenzen folgen, wenn erste Versorgungsengpässe spürbar werden?

Der Psychiater Michael Linden, Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Berliner Charité, gibt sich gegenüber der „Tagespost“ zurückhaltend: „Was auf jeden Fall gilt, ist, dass es bei Menschen mit Angststörungen, die auch sonst schon Probleme haben, die Nachrichten zu sehen, jetzt zu einer Beschwerdenzunahme kommt.“ Deutlicher wird sein Wiener Kollege Raphael Bonelli: „Die größte Gefahr ist die Panik vor der Krankheit. Im Angst-Modus denkt jeder nur noch an sich, allenfalls noch an die Seinen, aber nicht an ein größeres Ganzes.“ Es drohe eine „egoistische Dynamik“, so Bonelli.

Über Emotionalisierung sehr manipulierbar

Er glaube zwar, „dass viele Wohlstandsverwahrloste wieder neu orientiert werden“. Zugleich seien aktuell „die Umstände der Freiheitsberaubung für viele Menschen ein größeres Problem als der Virus“. Bonelli fürchtet, dass unsere Gesellschaft sich an den Entzug von Freiheit gewöhnen könnte: „Die Psychologie des heutigen Menschen ist auf Mitläufertum getrimmt. Wir sind eine sehr feige Gesellschaft, die sich viel gefallen lässt. Besonders dann, wenn es politisch korrekt ist.“ Der heutige Mensch sei über Emotionalisierung sehr manipulierbar.

Vieles deutet darauf hin, dass die Volksrepublik China die Pandemie dazu missbraucht, ihren totalitären Überwachungsstaat massiv auszubauen. Anders als in China, wo die Bürger durch eine kommunistische Diktatur seit Jahrzehnten an drastische Einschränkungen ihrer Freiheiten gewöhnt wurden, sind Europäer höchst sensibel, wenn ihre Menschen- und Grundrechte – von der Versammlungs- und Bewegungsfreiheit bis zur Religionsfreiheit – staatlich begrenzt werden.

Manfred Spieker, emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, meint mit Blick auf das uneinheitliche Vorgehen in Deutschland und Europa im Kampf gegen den Virus: „Die Balance zwischen den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und der Wahrung der bürgerlichen Freiheiten ist aus objektiven wie aus subjektiven Gründen nicht überall gleich. Die Kritik am unterschiedlichen Vorgehen und der allenthalben zu hörende Ruf nach einheitlichen Maßnahmen ist unangebracht.“ Folgen sind dennoch zu erwarten, nämlich „dass dieser Ruf den Föderalismus, ein wesentliches Element der Freiheit, schwächen wird. Der Ruf nach zentralen Steuerungsinstanzen gegen Pandemien wird auch bürgerliche Freiheiten über Gebühr einschränken.“ China könne im Kampf gegen die Pandemie jedenfalls kein Vorbild sein, sagt Spieker. Die Aufgabe der Kirchen in der gegenwärtigen Krise sieht der Sozialwissenschaftler darin, „den eigenen Auftrag wahrzunehmen“, nämlich „Seelsorge, Spendung der Sakramente und das öffentliche Gebet“. Es sei „der verkehrte Weg, die Gottesdienste zu suspendieren“.

Der Jurist und Politikwissenschaftler Karl Stöger, der an der Universität Graz lehrt, will nicht von Notstandsmaßnahmen sprechen, sondern noch immer von „sanitätspolizeilichen, seuchenrechtlichen Maßnahmen“. Begründung: „Notstand im Sinne der österreichischen Staatslehre liegt vor, wenn etwa das Parlament, die Regierung oder Teile der öffentlichen Verwaltung, zum Beispiel die Polizei, nicht mehr handlungsfähig wären. Das ist derzeit nicht der Fall.“

Angesichts der hohen Ansteckungsgefahr und einer erhöhten Gefährlichkeit für bestimmte Personengruppen seien die Maßnahmen der Regierungen nicht unverhältnismäßig. Die Europäische Menschenrechtskonvention würde sogar eine Suspendierung von Grundrechten im Fall eines „öffentlichen Notstands“ erlauben, erklärt der Rechtsgelehrte gegenüber der „Tagespost“. Diese Bestimmung werde jedoch „innerstaatlich für nicht anwendbar gehalten, weil unsere Bundesverfassung eine solche Suspendierung nicht kennt“.

Das Unvorstellbare ist ziemlich schnell vorstellbar geworden

Dass in Europa – so wie in China – die Grundfreiheiten systematisch und dauerhaft eingeschränkt werden könnten, glaubt Stöger nicht: „In Europa schützen uns zum einen die Europäische Menschenrechtskonvention, die Europäische Grundrechtecharta, unsere nationalen Grundrechte und die Gerichte, die ihre Wirksamkeit sicherstellen vor solchen Exzessen. Zum anderen die Zivilgesellschaft: Solange die nunmehrigen Maßnahmen dem Gesundheitsschutz dienen, wird Verständnis da sein. Wenn sie missbraucht werden, werden sich das mündige Europäerinnen und Europäer nicht gefallen lassen.“

Angesichts der hohen Akzeptanz der Regierungs-Maßnahmen in Österreich meint die ÖVP-Nationalratsabgeordnete Gudrun Kugler gegenüber dieser Zeitung: „Das Unvorstellbare ist ziemlich schnell vorstellbar geworden. Wir akzeptieren den Shutdown des Lebens wie wir es kennen und organisieren uns um.“ Das unbekümmerte Miteinander weiche der Angst vor Ansteckung. Kugler, selbst Mutter von vier Kindern, spricht von einer unfreiwilligen Entschleunigung des Lebens: „Eltern und Kinder haben plötzlich so richtig viel Zeit miteinander. Nützen wir diese einzigartige Situation!“ Doch nicht nur Entschleunigung will gelernt sein, sondern auch die Anerkennung der Grenzen des Machbaren.

Gudrun Kugler ist zuversichtlich: „Ein Korrektiv zur Multi-Options-Gesellschaft entsteht: Statt Spontanität und Unverbindlichkeit heißt es jetzt Planung und Abwägung. Wofür lohnt es sich, ein Risiko einzugehen? Was ist uns wirklich wichtig? Der Blick aufs Wesentliche wird klarer. Überflüssiges und Oberflächiges tritt in den Hintergrund.“ Viele würden spüren: „Es geht auch mit weniger. Vielleicht liegt in all dem Schlamassel eine Chance auf ein bewussteres und dankbareres Leben nach dem Neustart.“

Johannes Reinprecht, Direktor des in Wien ansässigen „Instituts für Ehe und Familie“ (IEF) erwartet positive wie auch negative Effekte auf Ehen und Familien. „Vielleicht führt die Angst, die man heute um liebe Menschen, Eltern, Großeltern, ältere Verwandte oder Freunde empfindet, zu einer größeren Dankbarkeit innerhalb der Familien.“ Die Umstellung auf häusliche Betreuung der Schulkinder und Teleworking, das Zurückschrauben der sozialen Kontakte und der außerfamiliären Aktivitäten könne eine Belastung darstellen und Krisen in Beziehungen bringen. Die Umgewöhnung auf eine Verlangsamung des Lebensrhythmus könnte aber auch positive Auswirkungen auf Beziehungen haben.

Die Pandemie habe ein „gemeinschaftszersetzendes Potenzial“, es könne zugleich eine neue Verbundenheit wachsen, ein Boom an Solidarität und der Wille, anderen zu helfen. „Sich selbst zu relativieren ist ein hervorragender Impfstoff gegen den Virus der Beziehungskrise“, so Reinprecht gegenüber dieser Zeitung.

Chance zu Besinnung und Umkehr

Diakon Markus Riccabona war viele Jahre Pressesprecher der Diözese St. Pölten und wirkt heute als Missionar im Osten Deutschlands. Dass die Pandemie in die Fastenzeit fällt, hält er für einen Anlass, tiefer zu fragen: „Wovor fürchten wir uns? Worauf oder auf wen vertrauen wir?“ Viele Menschen „und leider auch ein großer Teil der Kirche“ hätten die eschatologische Ausrichtung verloren, meint er gegenüber der „Tagespost“. Doch „ohne lebendige, täglich gelebte Hoffnung auf ein Leben in der Ewigkeit Gottes reduziert sich unser Horizont auf ein jämmerlich begrenztes Dasein, das allen möglichen Gefahren ausgeliefert ist, die wir spürbar nicht unter Kontrolle haben“. Vielleicht sind die nun sichtbaren Grenzen des Machbaren auch eine Chance zu Besinnung und Umkehr? Riccabona ist davon überzeugt: „Entweder verzweifeln wir in der Einsamkeit eines kalten Universums oder wir finden zurück in die liebende Umarmung des Vaters, zu dem wir in dieser Fastenzeit ja wieder umkehren sollten.“


Dieser Beitrag von Stefan Baier ist zuerst bei Die Tagespost erschienen.

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Kommentare ( 18 )

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Fulbert
4 Jahre her

Die größte Gefahr ist eine Weltwirtschaftskrise wie in den 1930er Jahren – mit allen negativen Konsequenzen, die damals bis zur Spaetfolge des 2. Weltkrieges reichten. Dazu bedarf es nicht des Gefasels irgendwelcher Experten, sondern lediglich eines kurzen Blicks in die Geschichtsbücher.

Sonny
4 Jahre her

Den Menschen wurde der Überlebensmechanismus doch regelrecht abtrainiert, selbst das Mitführen von Pfefferspray von Frauen in der Handtasche wurde kriminalisiert. Alles eitel Friede in Europa, keine Verteidigung mehr notwendig. Der Staat erklärte sich für alles zuständig und fuhr doch auf einer seltsamen Sorglosigkeitsstraße. Bundeswehr runter, Polizei runter, ärztliche Vor-Ort-Versorgung runter. Bei wirklichen Krisen- und Ausnahmesituationen zeigt sich dann aber (schon 2015), dass die Regierung weder wirklich kompetent noch angemessen handlungsbereit ist. Sie greift (verspätet) zu rigorosen Maßnahmen, die die Freiheit jedes Einzelnen enorm beschränken und die Wirtschaft zum Erliegen bringt -auch wenn das unter den gegebenen Umständen das letzte wirksame… Mehr

Unterfranken-Pommer aus Bayern
4 Jahre her

Grad bei Hart/Fair: Familienmitglieder dürfen sich weder von einem Verstorbenen verabschieden, noch sollen sie sich lt. dem interviewten Bestatter am Grab umarmen (dürfen)?!?

Birgit
4 Jahre her

Sehr geehrter Herr Baier + liebe Tichys, … dieser Artikel ist tröstlich, aber m. E. genau deswegen auch ‚gefährlich‘. Warum? Weil er ‚das Gute‘ im nicht zu akzeptierenden Schlechten sucht und findet. — Wir Bürger wurden ► gefangengesetzt… – so sieht die schmutzige Realität aus! Aber anders als im Knast, in dem erzwungene Entschleunigung tatsächlich pädagogischen Sinn zwecks innerer Einkehr, Reue und Umkehr machen kann, haben wir Bürger / Souverän / Steuerzahler … in der Regel NICHTS verbrochen. Jedenfalls nicht im strafrechtlichen Sinn. Unser ‚Vergehen‘ besteht wohl eher darin, dass wir zunehmend informiert (Internet / alternative Medien) sind und folglich… Mehr

Cabanero
4 Jahre her

Ah geh… gar nichts wird sich ändern. Im Sommer liegen alle wieder auf Malle am Strand, drei Wochen, nachdem der letzte Corona-Tote auf der Insel stillschweigend beerdigt wurde.
Und die Bundesliga macht acht Wochen lang englische Wochen, um die Saison zuende zu bekommen.
Wenn ich großes Glück habe, werden ein paar Lebara-Handyshops in der Einkaufsstraße im Viertel weniger da sein, und ein paar orientalische Friseure weniger.
Sonst? Alles vergeben und vergessen, die SPD wieder auf 14 und die CDU auf 30 Prozent. Die Grünen bei 20. Wollen wir wetten?

Harvey
4 Jahre her

„Vieles deutet darauf hin, dass die Volksrepublik China die Pandemie dazu missbraucht, ihren totalitären Überwachungsstaat massiv auszubauen.“
Ach, und in Europa ist das anders?

D. Harry
4 Jahre her

Es war wichtiger erstmal Donald Trump zu kritisieren.

Oblongfitzoblong
4 Jahre her
Antworten an  D. Harry

Ich kann mich sowieso des Eindrucks nicht erwehren, dass die deutschen MSM all das, was sie gerne an Merkel und ihrer Regierung kritisieren möchten, aber nicht dürfen, auf Trump und Johnson projektieren.

Marcel Seiler
4 Jahre her

Mir gehen die vielen guten Ratschläge, wie wir jetzt alle mit dieser „seelischen Belastung“ umgehen sollen, auf die Nerven. Als wären wir alle verweichlichte und verwöhnte Schneeflocken, die nichts aushalten, wenn man uns nicht unentwegt das Händchen hält.

Was ist aus „Zähne zusammenbeißen und durch“ geworden? Ja, wir müssen auf einige Luxusbedürfnisse (und einige, die nicht ganz so Luxus sind) verzichten. Na und? Andere Generationen haben ganz andere Sachen durchgemacht, ohne dass man ihnen unentwegt den Kopf streicheln musste.

The Angry Ossel
4 Jahre her
Antworten an  Marcel Seiler

„ Was ist aus „Zähne zusammenbeißen und durch“ geworden?“
A…backen zusammenkneifen!

StefanB
4 Jahre her

Gestern in einem kleinen Café im Berliner Südwesten, das nur noch ToGo bedienen darf: Der Verkaufsraum ist ca. 3,5 m mal 3,5 m; für die Kunden bleiben vielleicht 2 mal 3 m. Draußen ein Schild, dass man 1,5 m Abstand halten soll. Drinnen kurz nach der Tür eine abgeklebte Haltelinie und dann noch eine kurz vorm Bediendresen. Zwei Verkäufer. Es kommt der Ruf: „Die nächsten Drei“. Ein Herr, geschätzte 55 vor mir und meiner Tochter. Der Typ vor uns, wir dementsprechend an der zweiten Haltelinie kurz hinter der Tür. Im Gespräch sind wir leicht über die für uns maßgebliche Haltelinie… Mehr

rainer erich
4 Jahre her

Ein Artikel, der 2 Lager abbildet : Im ersten Abschnitt die psychologisch geschulten Realisten mit einem nüchternen Blick auf westliche Gesellschaften und Individuen, im zweiten den mehr von Hoffnung als von Wissen getragenen Optimismus, dass es doch irgendwie gut gehe, weil der Mensch (hoffentlich) doch ganz „anders“ sei. Wir werden es sehen, aber allzuviel Optimismus kontrastiert massiv mit der bereits bestehenden Realitaet einer psychisch und geistig weitgehend deformierten Gesellschaft. Ob sich die Masse den wenigen „Vernünftigen“ bzw. liberalen Demokraten, nicht zu verwechseln mit der FDP, anschließt, erscheint sehr zweifelhaft. Aber in diesen postdemokratischen und postwissenschaftlichen Zeiten wird ja nur noch… Mehr