Die Angst vor den Freien Wählern

In der Causa Aiwanger geht es um die Arithmetik der Macht: Die Freien Wähler könnten auch außerhalb Bayerns in die Parlamente einziehen und das Parteiensystem erschüttern. Daher hat man das Feuer auf sie eröffnet. Sie sind weniger für die AfD, denn für die Grünen eine Gefahr.

IMAGO / Panama Pictures
Wenn man die Flugblatt-Affäre als misslungene Demontage Hubert Aiwangers im Besonderen und der Freien Wähler im Allgemeinen betrachtet, kommt man der Wahrheit womöglich näher. Das ist aber vermutlich zu kurz gesprungen. In Bremen kann man derzeit beobachten, wie auch eine gemäßigtere Partei als die AfD in die Zange genommen wird. Die Vertreter des Bündnis Deutschland (ehemals „Bürger in Wut“) werden dort de facto als ebenso Ausgestoßene behandelt wie die AfD, obwohl man sich zuvor sogar von dieser distanziert hatte.

Der Verdacht liegt nahe, dass es in Deutschland nicht darum geht, vermeintliche Rechtsextremisten von der Macht abzuhalten, denn vielmehr jede politische Konkurrenz wegzubeißen; vornehmlich jene, die nicht genuin links ist und möglicherweise noch einige fehlende Prozente von Enttäuschten beisteuern könnte. Zu viele Parteien: Das ist immer ein Schritt vor Weimar. In Wirklichkeit täte es gut, würde sich in Deutschland parteitechnisch mehr Diversität durchsetzen, allerdings ist dies wohl der einzige Bereich, in dem das Vielfaltsmantra nicht gelten darf. Mehr Parteien: Das bedeutet weniger für die Eingesessenen. Um zu verstehen, wie stark die AfD trotz anderslautender Meinungen bereits „angekommen“ ist, sieht man daran, dass auch diese den gesamten Raum rechts der CDU als eigenes hochheiliges Territorium deklariert. In der politischen Theologie ist jeder sein eigener Messias.

Insofern war die Flugblatt-Kampagne der Süddeutschen Zeitung ein Bugschuss. Jede Kraft, die sich in Deutschland anschickt, den ihr zugeteilten Platz zu verlassen, muss sich ins Glied einreihen. Die AfD hat dies in den vergangenen Jahren genug zu spüren bekommen. Bei den Freien Wählern ist spätestens mit dem „Tag von Erding“, als sich Hubert Aiwanger anschickte, Robert Habeck anzugreifen, Olaf Scholz abzuwatschen und Markus Söder in den Schatten zu stellen, die Resttoleranz des juste milieu verflogen. Wir erinnern uns: Als die Freien Wähler die CSU dezimierten, flogen ihnen die Sympathien entgegen.

Zwischen CDU und AfD darf es keine bundesweit agierende Kraft geben

Nun könnten die Freien Wähler aber zu gefährlich werden. In Bayern, in Hessen – und darüber hinaus. Das heterogene Bündnis teilweise sich von Bundesland zu Bundesland unterscheidenden Landesparteien könnte unter Umständen auch auf Bundesebene einiges durcheinanderbringen, sollten sie es nach Jahren schaffen, in Landesparlamente oder gar den Bundestag einzuziehen. Die Möglichkeiten stehen angesichts einer zerstrittenen Ampel und einer unfähigen Union überraschend gut.

Die AfD kann in den Umfragen vor Kraft kaum laufen, doch die Frage stellt sich nach dem Maximalpotenzial: Ihr werden insbesondere in Westdeutschland einige Milieus selbst in Extremsituationen verschlossen bleiben. Und an dieser Stelle beginnt die Arithmetik der Macht, die die Linken durchschaut haben, im rechten Lager aber aus Eitelkeiten um Proporze noch übersehen werden. Die Freien Wähler werden einige Unentschiedene aus dem AfD-Milieu abziehen, jedoch nicht die Überzeugungswähler. Gefährlicher würde eine Partei wie die Freien Wähler – und das schließt auch andere Parteien aus dem Spektrum zwischen CDU und AfD ein – den etablierten Parteien werden.

Nur so ist die Panik bei SZ, SPD und Grünen zu verstehen. Sollte das Lager rechts der Mitte sich plötzlich aufblasen, weil in der Mitte die Wähler wandern, dann ist es vorbei mit der Dominanz. Deswegen muss auch mit den härtesten Bandagen gekämpft werden. Und das, obwohl bislang nicht bewiesen werden konnte, dass Aiwanger das Pamphlet tatsächlich verfasst hat und vieles auf den brüchigen Säulen anonymer Zeugen steht. Doch das ist zweitrangig. Es geht um die langfristige politische Hegemonie in Deutschland, nachdem bereits die kulturelle deutliche Risse bekommen hat.

Deshalb muss klar sein: Jede neue Partei, die gefährlich wird, steht erst einmal unter Nazi-Verdacht. Jede Partei, die mit den herrschenden Narrativen bricht, ist mindestens in der Tradition bei der NPD verortet. Jede Partei, die den Konsens der etablierten Parteienriege stört, ist ein Friedensstörer. Die Freien Wähler hat man gelitten, solange die Partei sich auf Bayern konzentrierte. Nun kommt die Rechnung Jahrzehnte später. Unglücklicherweise verläuft die Operation dieses Mal nicht nach Plan. Sie könnte sogar das Gegenteil zur Folge haben.

Die Freien Wähler sind für die AfD kein großes Problem – für die Grünen dagegen schon

Häufig ist aus AfD-freundlichen Kreisen zu hören: Die Freien Wähler würden der AfD Wähler abspenstig machen, dies würde die Oppositionsarbeit erschweren. Doch das würde bedeuten, dass die Zielgruppe der Freien Wähler und der AfD große Überschneidungen haben. Das stimmt nur bedingt. Die Freien Wähler haben beim Thema „Erneuerbare Energien“ eine diametrale Position gegenüber der AfD eingenommen. Zahlreiche Wähler gehören selbst zu den Profiteuren der Energiewende. Auch bei der Zuwanderung und vielen anderen Themen sind sie klassische Zentristen, die eher in der Mitte, denn politisch rechts davon einzuordnen sind.

Die Gefahr, die von den Freien Wählern oder einer anderen Partei rechts der Union, aber links der AfD ausgeht, ist eine ganz andere. Aufgrund ihrer bürgerlich-zentristischen Einstellung können sie in Milieus wuchern, die für die AfD unerreichbar sind. Während die Wählerwanderung zwischen den Grünen und der AfD inexistent ist, kann eine bürgerliche, klimapolitisch progressiv und gesellschaftlich gemäßigte Partei Grünen-Wähler abspenstig machen, die sich bereits länger nicht mehr mit der eigenen Partei identifizieren können.

Das gilt besonders für die Wählergruppe der jungen Familien, die von der Stadt aufs Land gezogen sind, aber die Union aufgrund von Filz und Dauerregierung für nicht mehr wählbar halten. Man will alternativ bleiben, aber nicht zugeben, im bürgerlichen Leben angekommen zu sein. Man sollte nicht vergessen, dass der Aufstieg der FW in Bayern nicht mit, sondern gegen die CSU erfolgt ist. Die Grünen wiederum bangen: Was passiert eigentlich, wenn es eine bürgerliche Partei mit grünen Ideen gibt, die aber bei LGBT, „Refugees Welcome“ und anderen Wolkenkuckucksthemen, die man gratis dazubekommt, den Weg nicht im Extrem weitergehen?

Es geht gar nicht um Schwarz-Grün in Bayern, sondern um Schwarz-Grün in Hessen – mit umgekehrten Vorzeichen

Kurz gesagt: Die FW stehen in Bayern nicht nur mit CSU und AfD, sondern auch mit Grünen in der Konkurrenz. Das ist die polit-strategische Wahrheit, die darüber hinausgeht, wie integer oder vertrauenswürdig Aiwanger ist. In Hessen steht das FW-Pendant bei 3 (INSA) bis 4 (Institut Wahlkreisprognose) Prozent und hätte Aussichten, in den Landtag einzuziehen. In Sachsen liegen sie bei 4,8 Prozent, in Brandenburg bei 7 Prozent. Eine AfD kann man in die Außenseiterrolle drängen, Brandmauern errichten und so die politische Hygiene pflegen. Bei den FW wiederum müsste sich die Union die Frage stellen: warum in Bayern und hier nicht?

Auch hier gilt: Die Frage brennt nicht der CDU, sondern den Linken unter den Nägeln. Sie weiß sehr genau, dass es eine strukturelle Mehrheit in Deutschland rechts der Mitte gibt. Die Bewegungsfreiheit erschließt sich den linken Parteien dadurch, dass sie nicht nur drei Parteien links des Präsidiums hat, sondern auch, weil sie mit zwei weiteren Parteien koalitionsfähig sind. Würden in Hessen neben der FDP auch die FW einziehen, dann gibt es eine rechnerische Option, dass Schwarz-Grün am Ende ist. Nota bene: Es geht gar nicht nur um Schwarz-Grün in Bayern, sondern auch um Schwarz-Grün in Hessen. Mit umgekehrten Vorzeichen.

Die mögliche Entthronung Aiwangers hätte bedeutet, dass auch in anderen Bundesländern das Gespenst der „rechten Manöverfähigkeit“ gebannt gewesen wäre. Außer Aiwanger gibt es außerhalb Bayerns keine bekannte Persönlichkeit in diesem Parteispektrum. Nun ist der Schuss nach hinten losgegangen. Die Freien Wähler haben eine Aufmerksamkeit bekommen, die sich eher positiv denn negativ auswirkt. Noch schlimmer: Eine Kleinpartei, die in hessischen Umfragen Einzugschancen hat, ist plötzlich auch für politisch Enttäuschte und Wechselwähler interessant, weil die Stimme nicht „verloren geht“.

Söder lenkt ein, weil er die Arithmetik der Macht verstanden hat

Der „Tag von Erding“ wirkt also weiter nach. Markus Söder, der offenbar zuerst die Gunst der Stunde nutzen wollte, um Aiwanger zu enthaupten, die FW zu domestizieren und die CSU wieder zur einzigen relevanten bayerischen Kraft zu machen, hat wie so oft einen opportunistischen Riecher bewiesen. Kurz verfiel die bayerische Unionsschwester in die Allüren des bundesdeutschen Pendants, das 2013 geglaubt hatte, die absolute Mehrheit zu gewinnen, wenn man erst genügend auf der FDP herumtrampele. Das Ende vom Lied war eine Union, die stark in den Ergebnissen, zu schwach zum Alleinregieren und zu unfähig für eine eigene politische Linie war.

Vielleicht hat sich Söder im letzten Moment daran erinnert, dass genau diese Konstellationen dazu geführt hatten, dass die CDU damals in die ausweglose linke Falle ging: für Konservative und Bürgerliche unglaubwürdig geworden, weil sie immer wieder linke Politik bediente und es auch keine realistischen Alternativen gab, musste sie immer weiter nach links rücken, in der Hoffnung, wenigstens ein paar progressive Bürgerliche den Grünen wegzuschnappen.

Söder will nicht aus ideologischen Gründen Schwarz-Grün verhindern, sondern weil er weiß, dass er dafür bei der nächsten Landtagswahl noch mehr abgestraft würde. Auch der Franke dürfte verstanden haben: Die Freien Wähler sind nicht nur dazu da, um die AfD rauszuhalten, sondern auch die eigentliche Konkurrenz – die Grünen – kleinzuhalten. Das ist in Deutschland übrigens jene Arithmetik der Macht, mit der so mancher Bundeskanzler geworden ist.


Die TE-Wahlwette

Ihre Wetten nehmen wir ab sofort entgegen. Unsere Buchmacher öffnen ihre Schalter. Wer über alle genannten Parteien hinweg am nächsten an den Ergebnissen landet, gewinnt.

Annahmeschluss ist der Wahlsonntag (08.10.2023) um 17:35 Uhr. Das Wettergebnis wird bis einschließlich Montag, den 09.10.2023, veröffentlicht. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Auf die Gewinner wartet:
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3. Platz: ein Buch aus dem Shop nach Wahl

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Kommentare ( 75 )

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Dunkelsachse
7 Monate her

Was gerne vergessen wird: Der Aiwanger ist ein Fan von Windmühlen und Freiheitsbeschränkungen.

TinaTobel
7 Monate her

Ein wichtiger Punkt, in dem sich Freien Wähler von konkurrierenden Parteien unterscheiden: Die Freien Wähler gehen vom Individuum aus, vom einzelnen Bürger und der einzelnen Bürgerin, während die anderen Parteien in Kollektiven denken. Folglich vertreten die Freien Wähler marktwirtschaftliche Ansätze, während ihre Konkurrenten auf Marktwirtschaft höchstens noch verbal setzen, dabei aber in allen Bereichen planwirtschaftliche oder staatliche Lösungen anstreben.

Katzenfreund
7 Monate her

Die Freien Wähler stellen für das von Merkel geformte Parteienkartell einer neuen SED ein ganz anderes Problem dar: wenn die AFD vor der nächsten Bundestagswahl verboten wird, stünde eine weiter, nicht zum Parteienkartell gehörende, bürgerliche Partei als Alternative zur Verfügung. Die kann man nicht gleichzeitig auch noch verbieten, ohne dass es selbst arglosen Bürgern auffallen würde, was hier mittlerweile nicht mehr stimmt.

Sidetrack
7 Monate her

„Nur so ist die Panik bei SZ, SPD und Grünen zu verstehen.“

Wer genau sind die Hintermänner und -frauen dieser Kampagne?

Milton Friedman
7 Monate her

Die Aiwanger-Affäre ist ein Skandal, da nichts anderes als der Versuch der Leitmedien die Wahl in Bayern zu beeinflussen.

Ich wäre dazu verleitet zu sagen, dass ich etwas enttäuscht bin, dass Aiwanger dieses „Watergate der Presse“ nicht mehr ausschlachtet, aber das ist ja genau das Problem: Er kann es ja gar nicht, in welchen Medien denn? Und was in Bayerischen Bierzelten passiert, wie viel Zuspruch Aiwanger dort erhält, wird das grün-schwarze Propagandaorgan BR sicherlich nie über den Äther lassen.

Nibelung
7 Monate her

Die Gelben müssen ganz aus der politischen Landschaft verschwinden und der Hauptangriff gilt den Roten und Grünen um darüber die Schwarzen zur Räson zu bringen, denn viel können sich die nicht mehr erlauben, wollen sie nicht in die gleiche prekäre Situation kommen wie die Roten, die nun Gefangene der anderen Regierungsparteien sind und man nur noch Kanzler bleiben will, denn das wird man danach nicht mehr so schnell werden. Wer der Logik folgt, kann doch so einem Haufen, der derzeit die Geschicke des Landes lenkt nicht mehr folgen, denn gegensätzlicher geht es nun wahrlich aus der Historie heraus betrachtet wirklich… Mehr

Dieter Rose
7 Monate her
Antworten an  Nibelung

Die AfD kann erst was „reißen“, wenn sie über 50% hat bzw. einen koalitonswilligen/-geeigneten Partner, mit dem sie darüber kommt.

Rainer Schweitzer
7 Monate her

„Jede neue Partei, die gefährlich wird, steht erst einmal unter Nazi-Verdacht.“ Sie steht nicht einfach so unter Verdacht. Es ist wie unter kleinen Kindern. Kann eines einem anderen kräftemäßig nicht beikommen, bewirft es dieses mit Dreck und sagt ihm ganz schlimme Wörter: „Sau“, „Arschloch“, „ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen“ u.s.w. Oder, je nach kulturellem Hintergrund, „schwule Sau“, „Opfer“, „Jude“. Am allerschlimmsten aber und für alle Hintergründe verwendbar: „Rassist“, „Antisemit“, „Nazi“. Was sich hier manifestiert ist der intellektuelle Niedergang der Politik. Der ist ja übrigens vielfach auch an ihren Dissertationen nachvollziehbar: Larifari Gefälligkeitsthemen und selbst die noch voller Plagiate.… Mehr

Last edited 7 Monate her by Rainer Schweitzer
Johann Thiel
7 Monate her

Herr Gallina gibt sich Wunschvorstellungen hinsichtlich der FW hin, und vergisst völlig, dass diese Blockpartei ist und bleibt. Die Arithmetik der Macht von der Herr Gallina hier spricht, bezieht sich lediglich auf die Machtverhältnisse innerhalb des Parteienblocks. Insofern ist es gleichgültig ob die FW den Grünen in Prozenten schadet, die Grüne Politik wird trotzdem weitergeführt. Gefährlich ist und bleibt es aber für die AfD als Opposition, weil mit stärkeren FW eine zweite scheinkonservative Partei neben der CDU entstehen kann, welche die AfD als einzige Opposition schwächen kann.

abel
7 Monate her

Ich denke bei diesem Skandal konnten die Verursacher nicht verlieren. Die Verursacher waren nicht die SPD, daß haben ganz andere durchgeplant.
Ziel 1) die Freien Wähler an die Leine zu nehmen — das wurde voll erreicht.
Ziel 2) die AfD kleiner im Westen zu halten — wurde damit ebenfalls erreicht.
Die AfD alleine bedroht das schön eingerichtete Leben der ÖRR und der Regierungssprecher und natürlich den wahren Hintermännern.