Tichys Einblick
Corona-"Expertenrat"

Wenn Protokolle weinen könnten – diese hier hätten allen Grund

Die Klage auf Herausgabe der Protokolle des Corona-Expertenrates war erfolgreich. Sie belegen: Der Expertenrat war eine Show. Nun ist die Maskerade zu Ende und die ungeschminkte Wahrheit tritt zu Tage. Eine Aufarbeitung ist nunmehr unabdingbar. Von Friedrich Pürner

Foto: Foto: Bundesregierung/Bergmann

Nun sind sie also (hier und hier) einsehbar – die Protokolle des Expertenrates. Jenes Gremium, das uns – um es mal höflich zu formulieren – sehr viel Ungemach eingebracht hat. Ein tapferer Allgemeinmediziner erreichte die Herausgabe der Protokolle aus dem Bundeskanzleramt auf dem Klagewege.

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Um Einblick nehmen zu können, weshalb der Expertenrat dieses oder jenes empfohlen hat, musste die Bundesrepublik Deutschland verklagt werden. Die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens ist in einer Demokratie bereits ein unglaublicher Vorgang. Ein Jahr dauerte der Kampf um die Protokolle. Es hat sich rentiert – auch wenn darin stellenweise geschwärzt wurde. Angeblich müsse man die Urheber einzelner Aussagen schützen. Was natürlich insofern schon wenig glaubhaft ist, da die Mitglieder des Rates allesamt namentlich bekannt sind. Nicht wenige offenbarten ihre Ansichten ganz freizügig in den sozialen Medien.

Seit der Veröffentlichung der Protokolle wird vor allem in den sozialen Medien und neben einem Artikel in der Welt in den neuen Medien darüber berichtet. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist dröhnendes Schweigen zu vernehmen. Keine Sondersendung. Kein Brennpunkt. Hitze ja. Aufarbeitung der Pandemie nein.

Seit Tagen wird über diese Protokolle berichtet. Manche berichten sehr ausführlich, andere wiederum kurz und pointiert. Es gibt in den Protokollen auch viel zu lesen. Dennoch kann man sich nur wundernd fragen: War es das tatsächlich? Gründen viele Maßnahmen und Empfehlungen tatsächlich auf diesen Sitzungen des Expertenrates? Man mag es kaum glauben. Denn mindestens so interessant wie das Protokollierte ist das, was nicht in den Protokollen zu lesen ist. Aber der Reihe nach.

Expertenrat nicht von Anfang an

Bundeskanzler Scholz hat auf Drängen von Wissenschaftlern diesen Expertenrat im Dezember 2021 ins Leben gerufen. Dass der Bundeskanzler erst diese Intervention brauchte, spricht bereits Bände. Keinesfalls positive. Die Frage, wie sich der Bundeskanzler das ohne Expertenrat vorgestellt hatte, muss erlaubt sein. Maßnahmen einfach aus dem Ärmel schütteln? „Wissenschaft“ durch bloßes Hörensagen? Es bleibt unbegreiflich, dass ein Expertenrat nicht von Anfang an die jeweilige Bundesregierung beraten hat.

Teil 1 von 2
Eine Aufarbeitung ist nicht in Sicht
16 Monate tagte das Gremium um Christian Drosten, Hendrik Streeck, dem Chef der Ständigen Impfkommission (STIKO) Thomas Mertens, dem RKI-Präsidenten Lothar Wieler und anderen Protagonisten. Diese berieten über die schlimmsten grundrechtseinschränkenden Maßnahmen aller Zeiten. Die Zusammensetzung mutet fragwürdig an. Kein Verfassungsrechtler und auch kein Epidemiologe gehörten diesem Gremium an. Allein die fachliche Besetzung lädt zum Haareraufen ein. Und die Frage, weshalb die beiden Fachdisziplinen fehlten, muss gestellt werden dürfen.

Besonders pikant ist, dass auch Karl Lauterbach als Bundesgesundheitsminister daran teilnahm. Das ist insofern pikant, weil eine politische Einflussnahme allein durch seine Präsenz nicht mehr auszuschließen ist. Aber auch, weil damit unbestreitbar klar ist, dass Lauterbach völlig im Bilde war, was die Experten in den Sitzungen von sich gaben.

Wer jemals ein Protokoll verfassen musste, der weiß um die Langweiligkeit dieser Tätigkeit. Ebenso lesen sich dann auch die meisten Protokolle. Deshalb ist es wichtig, in einem Protokoll zwischen den Zeilen lesen zu können und das Dargebrachte in einen vernünftigen Kontext zu setzen.

Keine Erkenntnisse, dass Kinder schwer erkranken

Gleich in der 4. Sitzung am 28.12.2021 ist im Protokoll völlig unscheinbar, aber dennoch nicht weniger explosiv Folgendes zu lesen: „Im Ergebnis bislang keine Erkenntnisse für besondere Schwere der Erkrankung bei Kindern.“ Vorausgegangen war ein Bericht eines Mitglieds, dessen Name geschwärzt wurde. Diese unbekannte Person berichtete zu aktuellen Daten aus Südafrika in Bezug auf Kinder und Jugendliche. In Großbritannien gäbe es ebenfalls keine Anzeichen für schwere Verläufe bei Kindern durch Omikron im Vergleich zu Delta.

Angst und Profit
Eine Aufarbeitung ist nicht in Sicht - Teil 2
Wenn man nun weiß, dass Omikron etwa ab der zweiten Kalenderwoche des Jahres 2022 in Deutschland die vorherrschende Variante war und dass die Kinderimpfung für fünf- bis elfjährige Kinder erst später, nämlich ab Ende Mai 2022 von der STIKO empfohlen wurde und bereits vorher durch Lauterbach, Politiker und Medien inbrünstig nahegelegt und beworben wurde, dann ist dies allein ein Grund, dass Lauterbach und alle Teilnehmer dieses Expertenrates in ihren derzeitigen Ämtern und Funktionen zurücktreten und die Bevölkerung – besonders aber die Kinder – um Verzeihung bitten müssen.

Es war bereits früh absehbar, dass Covid allgemein für gesunde Kinder und Jugendliche keine Gefahr darstellt und aus medizinischer Sicht für diese unproblematisch ist. Doch das wollte nicht gehört werden. Wenn dies nun der Expertenrat bereits Ende 2021 sah – dennoch aber zusieht, wie die Maschinerie des Grauens in Bezug auf die Kinderimpfungen angeworfen und vorangetrieben wird, dann ist das eine menschliche Katastrophe. Auch deshalb, weil der Chef der STIKO dem Gremium angehörte und trotz dieses Wissens die STIKO Ende Mai diese Impfempfehlung aussprach.

Und genau dieses Verhalten offenbart die eigentliche Tragödie dieser Protokolle. Hierüber wird bisher zu wenig berichtet. Es fehlen Berichte darüber, was nicht gesagt oder getan wurde. Weshalb hat keiner der Mitglieder die Impfung an Kindern fachlich kritisiert? Es wäre der Datenlage nach ein Leichtes gewesen. Vor allem dann, wenn selbst in der Sitzung am 28.12.2021 davon die Rede ist, dass Erkenntnisse für schwere Covid-Erkrankungen bei Kindern fehlen würden. Wo waren die kritischen Stimmen dazu?

Was ebenfalls nicht erwähnt wurde, war das Ende der Maßnahmen. Ein Ende wurde erst gar nicht definiert. Wollte man einfach so weitermachen? War der paniktreibende Lauterbach derjenige, der weitermachen wollte, und niemand hatte den Mut, sich ihm entgegenzustellen? Möglich wäre es.

Es fehlte an Weitblick und Kritik

Ebenfalls ist in den Protokollen über die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nichts zu lesen. Was ebenfalls fehlt, ist eine klare Aufgabenverteilung an die Mitglieder des Rates. Das ist sehr verwunderlich, da die Zuständigkeitsfrage bei staatlichem Handeln meist prioritär ist. Weiter ist nicht nachvollziehbar, weshalb keine Alternativen gesucht wurden. Warum wurden keine aussagekräftigen Daten gefordert und dann erhoben? Eine solide Datenbasis ist für die Tätigkeit dieses Rates als unabdingbar anzusehen.

Stattdessen lesen sich die Protokolle wie gemütliche, aber völlig unkoordinierte Kaffeefahrten. Statt Wolldecken und Socken gab es Impfung und Masken. Angesichts der einschneidenden Maßnahmen wären hitzige Debatten erwartbar gewesen. Das Expertengremium wurde zu einem Pseudo-Rat deklassiert. Schade, dass sich so viele Experten dafür hergegeben haben. Sie hofften wohl auf schnellen Ruhm und Ansehen – das Gegenteil ist nun nachhaltig passiert. Die Veröffentlichung der Protokolle zeichnet ein erbärmliches Bild der Arbeit der Mitglieder. Jeder Einzelne muss sich nun die Frage gefallen lassen, weshalb in den Protokollen keine kritischen Stimmen zu vernehmen sind.

Der Expertenrat war eine Show. Nun ist die Maskerade zu Ende und die ungeschminkte Wahrheit tritt zu Tage. Wenn so die Arbeit von Experten aussehen darf, hätte Olaf Scholz dieses Gremium tatsächlich nicht berufen brauchen. Eine Aufarbeitung ist unabdingbar.


Dr. med. Friedrich Pürner, MPH
Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe