Ziel des Kulturkampfs: die Neuerfindung des Menschen

Ein Stoff, aus dem Alpträume sind: Der Kampf um eine „Kreierung des neuen Menschen“ scheint entschieden zu sein. Von Stefan Luft

In den Medien, in Bildungseinrichtungen und Parlamenten werden unter den Stichworten „Transgender“, „LGBTQ-Rechte“ und „sexuelle Vielfalt“ seit vielen Jahren neue Menschen- und Weltbilder propagiert. Den meisten Menschen ist es nicht möglich, diese hinsichtlich ihrer Konsequenzen angemessen zu bewerten.

Das gilt auch für Christen, denen zwar das Bibelwort „als Mann und Frau schuf er sie“ in Erinnerung ist, die aber das Verhältnis dieser Ideologien zu den Grundlagen christlichen Glaubens oft nicht einschätzen können. Eine „anthropologische Desorientierung“ und ein „Bildungsnotstand“ sind deshalb von der „Kongregation für das katholische Bildungswesen“ bereits im Jahr 2019 in diesem Zusammenhang festgestellt worden.

Diese eklatante Orientierungslosigkeit geht auch auf das Verhalten der Kirchen zurück, die den Konflikt mit Weltanschauungen – hier des (Post-)Genderismus, Posthumanismus und Transhumanismus – teils scheuen und sogar Teile davon selbstverleugnend übernommen haben.

Vor diesem Hintergrund erscheint es dringender denn je, die Zusammenhänge, Folgen und Widersprüche der „Neuerfindung des Menschen“, wie sie hier im Gange ist, offenzulegen. Susanne Hartfiel – Diplom-Sozialwissenschaftlerin (Universität Bremen) und Diplom-Sozialpädagogin (Universität-Gesamthochschule Siegen) – hat sich außerordentlich verdienstvoll dieser großen Aufgabe angenommen.

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In ihrem Ansatz unterscheidet sie zwischen einem gottzentrierten und einem menschenzentrierten Welt- und Menschenbild. Beide haben die menschliche Freiheit zum Ziel. Ihre Prämissen und Folgen in der Lebenswirklichkeit könnten allerdings unterschiedlicher nicht sein: Die Mehrheit in Parteien, Parlamenten und Medien – nicht nur in Deutschland – sehen den menschlichen Körper und die menschliche Fortpflanzung als frei gestalt- und manipulierbar an.

Die „Existenz einer vorgegebenen menschlichen Natur“ wird geleugnet. Folgerichtig steht in dieser Perspektive einer Manipulation des menschlichen Lebens von Beginn an – und verstärkt während der Pubertät – als Ausdruck von Selbstverwirklichung und Optimierungswünschen nichts im Wege.

Für den autonomen Menschen ist das Kind kein Geschenk Gottes mit eigenen Menschenrechten, sondern ein „Produkt“, über dessen Herstellung (natürliche Zeugung oder künstliche Erzeugung im Labor), genetische Ausstattung und das menschliche Umfeld beim Aufwachsen (Anzahl und Geschlecht der Erziehungsberechtigten) jeweils entschieden wird. Dabei gibt es meist zahlreiche Varianten, die nicht nur technisch möglich sind, sondern auch in immer mehr Ländern legalisiert werden: „Mit Spermien- und/oder Eizelle der biologischen Eltern; mit Samen- und/oder Eizellspende Fremder und mit Samen- und/oder Eizellspende plus Austragung durch eine Leihmutter.“

Vor der Einsetzung in die Gebärmutter wird das Wunschkind oft mithilfe der Präimplementationsdiagnostik einer Qualitätsprüfung unterzogen, um Kinder mit unerwünschten Eigenschaften zu vermeiden und Kinder mit erwünschten Eigenschaften zum Leben zu verhelfen.

Wenn es zu Mehrlingsschwangerschaften mit zu vielen Kindern kommt, werden diese „reduziert“, also abgetrieben. Die Herstellung des „Produkts“ Kind löst sich zunehmend vom natürlichen Prozess, ausgelöst durch die sexuelle Begegnung von Mann und Frau und die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle.

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Was zusammengehört, wird getrennt: „Sexualität wird von der Liebe und von der Fruchtbarkeit getrennt, die Kinderzeugung von der Sexualität, die Sexualität von der Ehe, die Kinder von ihren biologischen Eltern, die Fortpflanzung wird unabhängig vom Geschlecht.“

Hier ist nicht die Rede von Horrorszenarien: Zwischen 1997 und 2016 wurden in Deutschland mehr als 275 000 künstlich erzeugte Kinder geboren – mit steigender Tendenz weltweit. Für Frauen und Kinder sind damit erhebliche Gesundheitsrisiken verbunden.

Hartfiel beschreibt eindrücklich die Leiden, die Leihmutterschaft verursacht, die sie als „moderne Form des Menschenhandels und der Sklaverei“ bezeichnet. Für sie gelten die proklamierten Werte Selbstbestimmung und Freiheit nicht.

Bis zu sechs Personen können dann die „Anerkennung der Elternschaft einfordern: die genetischen Eltern (Eizellspenderin und Samenspender), die biologische Mutter (Leihmutter) und nach fast allen Rechtsordnungen der Welt auch ihr Ehemann sowie die Bestelleltern, welche die rechtliche Elternschaft beanspruchen.

Letztere können eine Frau und/oder ein Mann oder auch zwei Frauen oder zwei Männer sein …“. Die Leitwerte von Autonomie und Freiheit gelten jedenfalls nicht für die Kinder. Ihre Interessen werden den Interessen der beteiligten Erwachsenen untergeordnet. Sie sind Verfügungsmasse.

Auf die Spitze treibt der „Transhumanismus“ die Versuche, einen perfektionierten, künstlichen Menschen zu schaffen, der alle Leiden, Begrenztheiten und den Tod hinter sich lassen und überwinden soll. Diese Ideologie der technologisch basierten Selbsterlösung bei gleichzeitiger Selbstabschaffung des Menschen beschreibt die Verfasserin als „den vielleicht größten, systematischsten und kohärentesten Gegenentwurf zum christlichen Menschen- und Weltbild … der je erdacht wurde.“

Ermutigung zum Selberdenken
Ein Warnruf an alle Menschen guten Willens und klaren Verstandes
Grenzenlose genetische Manipulation, Verschmelzung von Mensch und Maschine, Aufhebung der Menschenrechte – das ist der Stoff, aus dem Alpträume sind. Noch nie, das zeigt die Autorin durchgängig quellenbasiert, waren wir der Dystopie so nahe. Dennoch ist sie keine fatalistische Pessimistin: „Das Projekt der Neuerfindung des Menschen ist – noch bevor es vollendet werden kann – ebenso gescheitert, wie das Projekt der totalen technischen Beherrschung der Welt. Beides führt zu Leid und Tod in unzähligen Varianten, zur (Selbst-) Zerstörung von Mensch und Schöpfung. Humanökologie und Umweltökologie sind keine Widersprüche, sondern ergänzen sich wechselseitig.“

Es ist geboten, in die Untiefen, die ausgeleuchtet werden, zu schauen. Über die konkreten Folgen eines relativierten christlichen Tötungsverbotes, von Entmenschlichung und von massiver und struktureller Gewalt durch entgrenzte Sexualität – vorwiegend an Kindern und Frauen – dürfen Menschen guten Willens nicht hinwegsehen. Illusionen sind nicht angebracht. Der Kulturkampf scheint in Europa weitgehend entschieden – versprengte Individuen und einzelne Initiativen stemmen sich dagegen, sind aber nicht in der Lage, nennenswerten Einfluss zu nehmen und zumindest Kurskorrekturen zu erreichen.

Wer einmal angefangen hat, in diesem Werk zu lesen, der wird es nicht so schnell beiseitelegen. Susanne Hartfiel hat eine unbestechliche Analyse der Rebellion gegen Gott im 21. Jahrhundert und ein Plädoyer für ein kohärentes Denken und Handeln vorgelegt. Beides ist getragen von einem tiefen Glauben an den liebenden Gott und ein Mitgefühl für die gefallene Kreatur, für diejenigen, die den Preis zahlen für die durchgängige Missachtung des göttlichen Schöpfungsplans.

Das brisante und faszinierende Buch ist ein Warnruf sowie eine Ermutigung zum Selbstdenken. Es könnte aktueller nicht sein.

Diese Besprechung von Dr. Stefan Luft erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

Susanne Hartfiel, Die Neuerfindung des Menschen. Dominus-Verlag, Paperback, 280 Seiten, 19,95 €


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Kommentare ( 5 )

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mega2xbass
1 Jahr her

Für mich ist die Familie die kleinste und aus sich heraus funktionierende gesellschaftliche Zelle. Mit Familie ist sind auch die näheren Verwandten wie Onkel und Tanten gemeint. In so fern ist die Familie auch seit längerem in der Auflösung begriffen. Je schlechter die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen werden, desto enger wird diese Bindung wieder werden. Die größten Egoisten sind die, die eigene Kinder zeugen. Die Eltern der Kinder sind offensichtlich von sich selbst so überzeugt, dass sie entscheiden, dass sie in ihren Kindern weiterleben wollen. Ob sich jeder vor der Zeugung bewusst mit diesem Gedanken befasst, ist mindestens zweifelhaft. Wo… Mehr

Niklot
1 Jahr her

Der (neue) Sowjetmensch. So hieß es damals.

Deutscher
1 Jahr her

Nun, bei aller Zustimmung zu Hartfiels Kritik stört mich doch, dass sie das „christliche Welt- und Menschenbild“ offenbar als allgemeingültiges Korrektiv anpreist. Da entsteht eine religiöse Vereinnahmung, die mir sehr widerstrebt, die dem Thema nicht dient, die ethisch nicht plausibel und logisch nicht gerechtfertigt ist.

Last edited 1 Jahr her by Deutscher
Thorsten
1 Jahr her

Im globalen Maßstab gesehen, steht dieser „woke Westen“ in einem Konkurrenzkampf mit der „arabischen Welt“ (Islam), der „russischen Welt“ (Putin), der „chinesischen Welt“ und „indischen Welt“ sowie anderen kleineren (und deswegen nicht genannten) Kulturräumen.
Da kann man einfach den Taschenrechner nehmen und die Menschenzahlen, Migrationsströme und Gebärraten hochrechnen und kommt zu einem klaren Ergenbis. Diesen Westen wird in 20 Jahren es so ergehen wie den Neandertalern.

StefanB
1 Jahr her

Der Mensch neigt dazu, alle ihm möglichen Mittel auszuschöpfen, um seine Ziele zu erreichen. Das gilt umso mehr, als er mit diesen Zielen seinen Lebensunterhalt sichern und aufbessern kann. Das Paradabeispiel ist die linksgrüne Identitätspolitik, die ein Höchstmaß an intellektueller und infolge kultureller Verwahrlosung darstellt, sich aber bisher als prima Geschäftsmodell für deren Vertreter zeigt. Dies Dank der eklatante Orientierungslosigkeit der Gesellschaft im Ganzen, die sich in widerspruchsloser Beliebigkeit äußert.