Genau heute vor neun Jahren tötete der Terrorist Anis Amri mit einem LKW auf dem Weihnachtsmarkt der Hauptstadt insgesamt 13 Menschen und verletzte 67 weitere schwer. Es ist das bisher größte Versagen der deutschen Terrorabwehr.
picture alliance / ZUMAPRESS.com | Michael Kuenne
Niemand liest gerne eine Aufzählung am Beginn eines Textes. Trotzdem beginnt dieser Beitrag mit einer Aufzählung, und das hat einen guten Grund.
Berichte über Gewalttaten konzentrieren sich fast immer auf den oder die Täter. Terroristen können sich inzwischen fast sicher darauf verlassen, dass ihre Namen in den Geschichtsbüchern prominent zu finden sind. Die Erinnerung an die Opfer dagegen verblasst mit jedem Jahr mehr.
Diese Genugtuung sollten wir Mördern nicht gönnen.
Deshalb will TE ganz am Anfang an die Menschen erinnern, die am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz im westlichen Berliner Stadtzentrum, gleich neben der legendären Gedächtniskirche, von einem Islamisten umgebracht wurden.
• Anna Bagratuni
• Georgiy Bagratuni
• Sebastian Berlin
• Nada Cizmar
• Fabrizia Di Lorenzo
• Dalia Elyakim
• Christoph Herrlich
• Klaus Jacob
• Angelika Klösters
• Dorit Krebs
• Peter Völker.
Schon vor dem eigentlichen Anschlag hatte der Attentäter den polnischen Berufskraftfahrer Lukasz Urban erschossen, um dessen LKW stehlen und damit auf den Weihnachtsmarkt fahren zu können. Nach der Tat wollte der Berliner Sascha Hüsges Verletzten zu Hilfe eilen. Dabei wurde er vermutlich von einem Komplizen des Haupttäters mit einem Kantholz niedergeschlagen und so schwer verletzt, dass er ins Koma fiel. Hüsges verstarb knapp fünf Jahre später an den Folgen seiner Verletzungen.
Der Täter
Wer nach Beispielen dafür sucht, wo unser Staat versagt und wie er sein eigenes Versagen zu vertuschen versucht, der kommt am Berliner Weihnachtsmarkt-Attentat nicht vorbei.
Der Täter, Anis Ben Othman Amri, war ein mehrfach vorbestrafter tunesischer Gewaltverbrecher. Wegen Diebstählen und Drogendelikten drohte ihm in seiner Heimat Tunesien eine lange Haftstrafe. Mit finanzieller Unterstützung setzte er sich im April 2011 mit 19 Jahren nach Italien ab. Dort beantragte er Asyl, wobei er sein Geburtsdatum fälschte, um als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling zu gelten.
In Italien wurde er sofort wieder straffällig und kam für mehrere Jahre in verschiedene Gefängnisse. Dort radikalisierte er sich, wandte sich dem Islamismus zu und wurde fortan vom italienischen Geheimdienst beobachtet. Rom speiste Informationen über den als gefährlich eingestuften Mann auch in das internationale Schengener Informationssystem (SIS) ein.
Kurz vor seiner geplanten Abschiebung nach Tunesien im Jahr 2015 verloren die Italiener Amri durch eine Panne aus den Augen. Er flüchtete unerkannt in die Schweiz. Dort besorgte er sich in Salafistenkreisen offenbar eine Schusswaffe.
Noch im selben Jahr beantragte er in Deutschland Asyl. In Freiburg gab er „Anis Amir“ als Namen an. Dieser kleine Buchstabendreher im Nachnamen genügte, damit die deutschen Behörden die umfangreichen Informationen, die über Amri im SIS gespeichert waren, einfach übersahen. Wenig später stellte Amri offenbar noch unter mindestens 14 (!) weiteren falschen Namen überall in Deutschland Asylanträge.
Auch bei uns knüpfte Amri enge Kontakte zu bekannten gewaltbereiten islamistischen Kreisen. Das Polizeipräsidium Dortmund stufte ihn unter seinem richtigen Namen ab Februar 2016 als „Gefährder NRW“ ein. Trotzdem rechnete man ihn nicht zum engeren Kreis einschlägiger konspirativer Gruppen dazu.
Im April 2016 stellte Amri in Dortmund einen weiteren Asylantrag, wieder unter einem neuen falschen Namen. Da fiel dem Bundeskriminalamt BKA erstmals auf, dass von dem Mann bis dahin acht Alias-Personalien bekannt waren. Quasi zur Belohnung hatte er trotzdem Anspruch auf Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Im Mai 2016 wurde Amris Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Trotzdem gelang es nicht, den Mann in seine Heimat Tunesien abzuschieben. Am 30. Mai 2016 wurde Amri am Busbahnhof Friedrichshafen mit Drogen und mehreren gefälschten Reisepässen erwischt und festgenommen. Er wurde „zur Sicherung der Abschiebung“ nach Tunesien in der Justizvollzugsanstalt Ravensburg untergebracht.
Was dann passierte, war Gegenstand mehrerer Untersuchungsausschüsse. Es ist so unglaublich, dass wir hier die Zusammenfassung von Wikipedia zitieren:
„Ein Amtsrichter befristete seine vorläufige Inhaftierung bis Montag, 1. August 2016, 18.00 Uhr. Bis dahin sollte die für Amri zuständige Ausländerbehörde in Kleve entscheiden, wie mit ihm weiter zu verfahren sei.
Am Montag wurde der Fall in der Behörde besprochen. Man wandte sich an das Innenministerium NRW in Düsseldorf. Dort wurde der Fall der Sicherheitskonferenz (Siko) vorgelegt. Deren Mitglieder kamen zu dem Schluss, dass Amris Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate über die Bühne gehen könne: Da die tunesischen Behörden die für eine Ausweisung notwendigen Passersatzpapiere (PEP) wohl nicht in diesem Zeitraum liefern würden, könne man Amri nicht in Abschiebehaft nehmen.
Noch am selben Tag schickte die Ausländerbehörde Kleve eine E-Mail mit der Argumentation von Siko/Innenministerium NRW an die JVA Ravensburg: Amri sei sofort aus der Haft zu entlassen.“
Das war völlig unnötig. Amri hätte länger in Haft gehalten werden können, denn der Bundesgerichtshof hatte schon im Jahr 2010 entschieden, dass Verzögerungen durch fehlende Passersatzpapiere zu Lasten des Ausreisepflichtigen gehen.
Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 insgesamt 13 Menschen umbrachte, hätte da also schon längst nicht mehr in Deutschland sein dürfen.
Die Behörden
Und obwohl die deutschen Sicherheitsbehörden wussten, dass der Mann gefährlich war, ließen sie ihn gewähren.
Im März 2016 leitete das Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen gegen Amri ein Verfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat ein. Er wurde, wie schon erwähnt, als Gefährder eingestuft und verdeckt observiert. Auch seine Kommunikation wurde überwacht.
Weil sich der Mann überwiegend in Berlin aufhielt, übernahmen die Behörden der Hauptstadt seine Observierung. Ende Mai 2016 sprach Amri mit einer Vertrauensperson des LKA Düsseldorf und erzählte von Anschlagsplänen, die er habe. Trotzdem wurde Amris Observierung im September beendet, weil die Berliner Generalstaatsanwaltschaft „keine Grundlage für eine weitere Verlängerung der Anordnungen zu Überwachungsmaßnahmen“ mehr sah.
Wegen all dieser Zusammenhänge kam schon kurz nach dem Attentat der Verdacht auf, Amri sei ein V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes gewesen. Das hat die Landesregierung in Düsseldorf dementiert.
Die Tat
Am 19. Dezember 2016, kurz nach 15.00 Uhr, erschoss Amri den polnischen LKW-Fahrer und stahl dessen Sattelzug. An polizeibekannte Salafisten schickte er ein Selfie von sich am Steuer mit der Nachricht: „Mein Bruder, alles in Ordnung, so Gott will. Ich bin jetzt im Auto, bete für mich, mein Bruder, bete für mich.“
Um 20.02 Uhr fuhr Amri am Breitscheidplatz in den dort aufgebauten Weihnachtsmarkt und richtete ein Blutbad an. Zu Fuß floh er danach vom Tatort.
Im Führerhaus des LKW wurde eine auf Amri ausgestellte Duldungsbescheinigung des Landkreises Kleve gefunden sowie zwei seiner bekannten Mobiltelefone und sein Portemonnaie. Trotzdem erklärte der damalige NRW-Innenminister Ralf Jäger von der SPD noch am 21. Dezember 2016, daraus lasse sich „nicht schließen, dass Amri auch an der Tat beteiligt war“. Einen Tag später wurde dann bekannt, dass Amris Fingerabdrücke im LKW gefunden worden waren.
Der Attentäter war zwischenzeitlich weiter nach Mailand geflüchtet – was ohne Hilfe von Unterstützern in Deutschland und in Italien als unmöglich erscheint. Am 23. Dezember 2016 geriet er in der Vorstadt Sesto San Giovanni in eine Ausweiskontrolle. Amri zog sofort eine Waffe und feuerte auf zwei Polizisten, von denen er einen an der Schulter verletzte.
Vom anderen wurde er erschossen.
Der Komplize
Das Nachrichtenportal „Focus Online“ veröffentlichte im Jahr 2019 eine spektakuläre Recherche. Demnach halte die Polizei ein Überwachungsvideo unter Verschluss. Darauf sei zu sehen, wie eine „Person (…) einem Mann mit einem Kantholz seitlich an den Kopf schlage, um dem flüchtenden Amri den Weg freizumachen“.
Bei dem niedergeschlagenen Mann handelte es sich um den schon erwähnten Sascha Hüsges, der bis Oktober 2021 im Koma lag, bevor er verstarb.
Bei dem Schläger soll es sich um den Tunesier Bilel Ben Ammar handeln, einen polizeibekannten engen Vertrauten von Amir. Offenbar neun Tage nach dem Berliner Anschlag sei die politische Entscheidung getroffen worden, Ben Ammar schnell wie möglich abzuschieben.
Warum die Eile? Im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses vermutete der damalige FDP-Landtagsabgeordnete Marcel Luthe, Ben Ammar sei abgeschoben worden, damit er nicht als Zeuge vor den Ermittlern und vor dem U-Ausschuss aussagen müsse.
Die Folgen
Es gab zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse: einen im Deutschen Bundestag, einen im Abgeordnetenhaus von Berlin (so heißt das Landesparlament der Hauptstadt).
Die Ergebnisse sind ernüchternd. Die Kritik gipfelt in der Formulierung, „dass sowohl individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden verantwortlich waren“. Zur Verantwortung für das größte sicherheitspolitische Desaster der Bundesrepublik nach dem Krieg gezogen wurde:
Niemand.

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Danke. Auf ein Gedenken an die Opfer vom Breitscheidplatz habe ich gewartet.
„Es ist das bisher größte Versagen der deutschen Terrorabwehr.“
Das auch. Aber das „Terror“ überhaupt erst abgewehrt werden muss, ist ein pures politisches Versagen.
Ganz besonders intensiv ist das Versagen unseres Landes mit seinem Art. 16a GG, denn es bedeutet:
hätte die deutsche Politik ihre Minimalst(!)aufgaben erledigt, nämlich geltende Gesetze anzuwenden, wäre dieser Täter niemals nach Deutschland gelangt.
Manche würden an dieser Stelle ein „Danke, Merkel“ für angebracht halten. Aber auch das lenkt von den eigentlichen Schuldigen ab.
Daher formuliere ich es angemessener:
Danke, CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne, Linke, FW, BSW.
Die Namen des Kraftfahrers Lukasz Urban und des Berliners Sascha Hüsges gehören eigentlich auch offiziell geehrt, weil ihre Tode im Zusammenhang mit dem Anschlag stehen.
Um das treffend zu kommentieren genügt ein Wort. Bananenrepublik!
Der erfreulichste am Anis Amri ist, dass er von den Carabinieri in Sesto San Giovanni erschossen wurde.