Kinderschutz als Türöffner zur Massenüberwachung?

Eine Recherche mehrerer Medienhäuser offenbarte den Einfluss der Tech-Lobby auf die Gestaltung europäischer Gesetze, die viel Geld in die Hand nimmt um noch mehr Geld zu verdienen. Mit dabei: Ashton Kutchers KI-Firma Thorn, sowie alte Bekannte aus früheren TE-Recherchen.

IMAGO / Frank Ossenbrink
In einer gemeinsamen Recherche veröffentlichten europäische Medien, darunter Zeit Online, BalkanInsight, Le Monde, De Groene Amsterdammer, und andere eine ausführliche Recherche zu den Lobbynetzwerken, die über das Thema Kinderschutz die Schutzwälle der Privatsphäre durchbrechen und für die sogenannte Chatkontrolle der EU werben.

Die Spitze des Eisbergs formt dabei die US Firma Thorn und dessen Gründer, der Schauspieler Ashton Kutcher, der bis vor kurzem als Geschäftsführer die Geschicke der KI-Softwarefirma leitete und dabei Zugang zu höchsten Politkreisen erhielt. Bekannt wurde dabei unter anderem ein Foto aus dem Jahr 2020, das Ursula von der Leyen bei einer Videokonferenz mit Kutcher zeigte. Die Zusammenarbeit mit der EU reicht aber tiefer, denn vor allem die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson ist zentrale Anlaufstelle für KI- und Techfirmen aus den USA, die allesamt am Kuchen der Überwachung von Chats mitschneiden wollen.

Vordergründig steht dabei, wie so oft, eine gute Sache zentral: Der Kinderschutz. Der Fall Teichtmeister zeigte gerade erst wieder, wie viel Nachholbedarf es dabei gäbe. Nicht nur, dass das Strafmaß selbst für Großkonsumenten von Kinderpornographie wie Teichtmeister lächerlich niedrig ist, auch die Zahl der routinemäßig durchgewunkenen Straftäter liegt beängstigend hoch. Anstatt jedoch für eine Verschärfung der Gesetzgebung einzutreten, bzw. für eine konsequentere Nachverfolgung möglicher Kontakte straffällig Gewordener, setzt die EU mal wieder lieber auf umfassende Durchleuchtung privater Daten aller, um einen Präzedenzfall für eine zukünftige Ausweitung der Gesetzgebung zu schaffen.

WeProtect schützt vor allem die Interessen der Politik und von Silicon Valley

Hinter dem Deckmantel der Wohltätigkeit steckt aber auch hier zunächst einmal ein Geschäftsinteresse. Offiziell ist Thorn zwar eine gemeinnützige Organisation, ließ sich aber seine KI-gestützte Software „Safer“ zum Beispiel vom US-Heimatschutzministerium mit 4 Millionen Dollar vergüten. Wer so viel einnimmt, kann auch investieren, etwa in Lobbyarbeit. Alleine 2022 zahlte Thorn mehr als 600.000 Euro an FGS Global, eine Lobbyfirma die erst 2021 aus einer Fusion von Finsbury Glover Hering und Sard Verbannen & Co. hervorging. FGS Global wird auf einen Marktwert von ca. 1,4 Milliarden Dollar geschätzt und gehört mehrheitlich dem Werbegiganten WPP, der zu den „großen Vier“ der Werbeindustrie gehört. Die Verstrickungen von FGS Global in die politische Kampagnenführung haben eine lange Tradition. Bereits die Vorläufergruppe Glover Park Group wurde 2001 von ehemaligen Mitarbeitern des Weißen Hauses und demokratischen Kampagnenführern gegründet und half bereits früh Firmen mit Werbekampagnen „legislative Ziele“ zu erreichen.

Die bestens vernetzten Lobbyisten von FGS Global nahmen im Auftrag von Thorn an Expertensitzungen teil und pflegten einen ausführlichen Kontakt mit Vertretern der EU-Kommission, wie die Recherche ergab. So wurde es möglich, dass Thorn selbst bei wichtigen Entscheidungsterminen selbst mit Vertretern anwesend sein konnte.
Doch Thorn ist nicht die einzige Interessengruppe, die als vermeintliche NGO auf Entscheidungsprozesse einwirkte. Während bei Thorn direkte Geschäftsinteressen im Raum stehen, so stehen bei der WeProtect Global Alliance vor allem politische Interessen im Vordergrund. Dies beginnt schon bei der Gründungsgeschichte.

2013 ernannte der britische Premier David Cameron die damalige „britische Botschafterin für die Digitalindustrie“ Joanna Shields zur Anführerin einer US-Britischen Taskforce zur Bekämpfung kinderpornographischer Inhalte im Internet, aus der WeProtect hervorging. Shields ist sowohl in der Techindustrie, als auch in der Politik mittlerweile bestens vernetzt. Als ehemalige Direktorin von Google in Europa, dem Mittleren Osten und Afrika war sie federführend mitverantwortlich für die Entwicklung von Google AdSense. Weitere Stationen führten Shields unter anderem zu Facebook, wo sie ebenfalls als Vizepräsidentin und managende Direktorin die Geschäfte für Europa, den Mittleren Osten und Afrika leitete und den Social-Media Riesen zur weltgrößten Marketingplattform machte.

Shields politischer Aufstieg begann mit ihrer Ernennung durch Cameron zur Chefin von WeProtect. Nach ihrer Beratertätigkeit unter David Cameron für die digitale Ökonomie, wurde sie 2015 erst zur parlamentarischen Unterstaatssekretärin für Internetsicherheit unter David Cameron und später zur Ministerin für Internetsicherheit unter Theresa May ernannt, sowie zur Sonderbeauftragten der Premierministerin für Internetkriminalität. 2014 wurde Shields der Titel Baronesse verliehen und damit einhergehend ein Sitz im britischen Oberhaus.

Diese tiefe Verwurzelung in der britischen Politik wird bei WeProtect aber nach Möglichkeit verschleiert. Nach mehreren Fusionen ist aus der regierungsnahen Taskforce eine NGO mit Sitz in einer niederländischen Kleinstadt geworden. Das ändert aber nicht, welche einflussreichen Partner im Aufsichtsrat von WeProtect sitzen. Neben Baronesse Shields finden sich Direktoren des „United Kingdom Home Office“, des US Justizministeriums, sowie Antonio Labrador Jimenez, Mitglied der EU Kommission und zuständig für die Gesetzesinitiative der Überwachung der Chatprotokolle.

Alte Bekannte …

Neben diesen Granden aus Großbritannien, den USA und der EU findet sich auch noch ein Vertreter des Innenministeriums der Vereinigten Arabischen Emirate, sowie ein UNICEF Vertreter. Dann aber wird es interessant. Während Baronesse Shields beste Verbindungen zu Google und Facebook hat, rundet ein Vertreter von Microsoft die Gruppe der Techriesen ab. Julie Cordua, CEO von Thorn darf auch nicht fehlen, sowie Douglas Griffiths, Präsident der Oak Foundation, und Kate Hampton, CEO der Children’s Investment Fund Foundation.

Spätestens jetzt werden TE-Leser hellhörig. Sowohl die Oak Foundation, als auch Christopher Hohns Children’s Investment Fund Foundation (CIF) sind alte Bekannte aus der Agora-Affäre und tauchten unlängst wieder als Förderer des „World Resources Institute“ und des „Carbon Disclosure Project“, die hauptverantwortlich für das Greenwashing von Konzernen sind, auf.

Während die TE-Recherchen bereits ausführlich über Christopher Hohn berichteten, ist der Direktor der Oak Foundation, Douglas Griffiths, bislang eher unbekannt. Nach einer Karriere als Diplomat, die ihn unter anderem als Botschafter nach Mosambik führte, wechselte Griffiths 2016 in den Verwaltungsapparat. Am George C. Marshall Center in Garmisch-Partenkirchen war er zunächst „Associate Director“ für Internationale Beziehungen und nahm in dieser Position auch Lehrfunktionen ein. 2018 wechselte er kurzzeitig ins US-Außenministerium und war als Erster Assistent des Staatssekretärs für die Angelegenheiten internationaler Organisationen für die Verwaltung und Koordinierung von über 70 internationalen Organisationen, die mit einem Gesamtvolumen von über 10 Milliarden Dollar finanziert wurden, zuständig. Wenige Monate später wechselte er als Präsident zur Oak Foundation.

So weit, so wohltätig. Als Diplomat war Griffiths selbstverständlich mit der US-Außenpolitik verbunden, doch selbst darüber hinaus erwies sich Griffiths als rührig. Im Mai 2017 unterrichtete Griffiths an der Diplomatischen Akademie von Georgien über „Diplomatie als Werkzeug nationaler Sicherheit“ und – laut seinem LinkedIn Profil – seit Oktober 2017 unterrichtet er Kurse über „Inklusives ökonomisches Wachstum, Diplomatie und demokratische Staatsführung“ an der Diplomatischen Akademie der Ukraine. Die Facebookseite des Marshall Centers in Garmisch-Partenkirchen zeigte ihn bereits 2016 auf einem Gruppenfoto neben einer Chefspezialistin des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien der Ukraine sowie einer Vertreterin des Ukrainischen Verteidigungsministeriums. Wer sich aber für mögliche weiterführende Beziehungen des Chefs der Oak Foundation zur Ukraine interessiert, wird im Internet nicht so schnell fündig. Selbst moderne Chat-KIs wie Bing weichen entsprechenden Anfragen aus.

Und noch eine interessante Personalie sei am Rande erwähnt: Die Vizepräsidentin der Oak Foundation, Heather Graham, war früher Programmverantwortliche der Gates Foundation, sowie „Fellow“ des Weißen Hauses unter George W. Bush. Es ist also für jeden was dabei.

Millionenschwere Lobbyarbeit für die Beschneidung der Grundrechte

Unabhängig von etwaigen Beziehungen in den Osten Europas sind Douglas Griffiths und seine Oak Foundation jedenfalls ein finanzielles Schwergewicht bei der Lobbyarbeit für die Umsetzung des Chatprotokollgesetzes. Laut Recherche von BalkanInsight hat die Oak Foundation alleine seit 2019 mehr als 24 Millionen Dollar in verschiedene Organisationen wie Thorn investiert. Das Ziel ist dabei – wie die Oak Foundation in einer Stellungnahme selbst zugab – einen Präzedenzfall zu schaffen an dem andere Regierungen sich orientieren sollen. Während der Techindustrie das Geschäft ihres Lebens winkt, freuen sich die Brüsseler Bürokraten – und alle, die es noch werden wollen – auf einen Überwachungsapparat aus ihren kühnsten Träumen.

Wer aber noch immer glaubt, dass die selben Politiker und Philanthropen, die seit Jahrzehnten beim stillschweigend geduldeten Kindesmissbrauch in Hollywood wegsehen, die keinen Finger bewegen um im Fall Epstein oder Dutroux an die Hintermänner zu gelangen und die null Interesse daran haben, an überführten Pädophilen wie Florian Teichtmeister ein Exempel zu statuieren, nun mittels der massenhaften Überwachung von Chats tatsächlich das Wohl von Kindern im Auge haben, dem sei zur Erinnerung folgendes mitgegeben:

In technischen Besprechungen der Vorschläge, plädierten EU-Vertreter statt einer Lösung, bei der einzelne Individuen oder Gruppen untersucht werden, für eine gesamtheitliche Möglichkeit um Scans nach verdächtigem Material durchzuführen. Damit wäre ein grundlegendes Recht auf Privatsphäre gebrochen, doch wäre damit noch lange nicht die Bekämpfung von Menschenhandel sowie verbesserter Kinderschutz gewährleistet. Ein Vertreter der holländischen Regierung äußerte Bedenken gegenüber der vorgeschlagenen Technologie, die bislang eine hohe Zahl von „false positives“, also falschen Positivmeldungen aufweist. „Die resultierende Beschneidung der Grundrechte ist nicht proportional“, so die anonyme Stellungnahme des Regierungsvertreters.

Mit diesen Bedenken steht der Politiker aber nicht alleine. Der EU-Datenschutz Watchdog Wojciech Wiewiorowski warnte bereits 2020 vor der Einführung der Chatkontrolle und bezeichnete diesen Schritt als „Überschreitung des Rubikon“, die das Internet und die digitale Kommunikation wie wir sie kennen „fundamental verändern“ würde. Aber auch Kinderschützer selbst warnen vor der Einführung der Überwachung von Chatprotokollen, zumal diese auch Kinder gefährden könnte.

Kinderschützer warnen, Europol leckt sich die Finger

„Verschlüsselung ist auch wichtig um Kinder zu schützen: Täter hacken auf der Suche nach Bildern auch Accounts“, sagt Arda Gerkens, die ehemalige Leiterin von Offlimits, der europaweit größten Hotline zur Meldung von kinderpornographischem Material. Doch obwohl die ehemalige holländische Parlamentarierin sich seit Jahrzehnten mit der Problematik befasst, hatte sie kein Glück zu den entsprechenden Stellen der EU durchzudringen. „Ich habe Kommissarin Johansson eingeladen, aber sie kam nicht. Sie und ihre Mitarbeiter besuchten stattdessen das Silicon Valley und große nordamerikanische Firmen“, beklagt Gerkens. Die vorgeschlagene Gesetzgebung sei „beeinflußt von Firmen die vorgeben NGOs zu sein, die aber mehr wie Tech-Firmen agieren“, so die Holländerin. „Gruppen wie Thorn nutzen alle Möglichkeiten um diese Gesetzgebung voranzutreiben, nicht weil sie spüren, dass das der Weg ist um Kindesmissbrauch zu bekämpfen, sondern auch weil sie ein kommerzielles Interesse daran haben. Wer wird von diesem Gesetz profitieren?“, fragt Gerkens. „Nicht die Kinder.“

Diese Einschätzung teilen auch Bürgerrechtsorganisationen wie European Digital Rights. Deren Leiter Politik, Diego Naranjo, sagte gegenüber heise.de, die Ergebnisse der Recherche „bestätigen unsere schlimmsten Befürchtungen“. Das „am meisten kritisierte europäische Gesetz zum Thema Technologie im letzten Jahrzehnt“ sei das „Produkt der Lobby privater Unternehmen und der Strafverfolgungsbehörden.“ Ylva Johansson habe damit ein Gesetz vorgeschlagen um „Massenüberwachung zu legalisieren und Verschlüsselung zu brechen.“ Auch Konstantin Macher vom Datenschutzverein Digitalcourage stößt in dieses Horn: „Der Kinderschutz wird hier als Türöffner für eine Infrastruktur zur anlasslosen Massenüberwachung missbraucht. Damit ist auch die letzte Glaubwürdigkeit zu dem geplanten Überwachungsgesetz verspielt. Die Chatkontrolle muss jetzt sofort gestoppt werden“, so Macher.

Denn weiterführende Szenarien stehen bereits im Raum. Aus Europol wurden bereits Stimmen laut, dass die angedachte Technologie auch für die Verfolgung anderer Verbrechen eingesetzt werden könnte. Diesen „weiterführenden Wünschen“ wurde von Seiten der EU-Kommission offensichtlich „Verständnis entgegengebracht“, wobei die Erwartungshaltung erst einmal eingedämmt wurde, „angesichts der vielen Empfindlichkeiten rund um den Vorschlag“. Eine dezidierte Absage liest sich anders. Die wird aber wohl auch nicht allzu bald spruchreif werden, dafür sollte der Interpol-Vertreter im Aufsichtsrat von WeProtect sorgen können.

— Florian Gallwitz (@FlorianGallwitz) September 26, 2023

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