„Alles nicht so schlimm“ – Aufarbeitung im Filter der Weichzeichnung

„War doch alles nicht so schlimm“ – das ist die nachträgliche selbstverordnete Amnestie der Corona-Jahre. Man will die Entrechtung, die Ausgrenzung, den Druck bis zur Spritze, das Brechen von Kindern, das einsame Sterbenlassen der Alten und die mediale Hetze weichspülen, bis am Ende keiner mehr schuld ist. Nein: Es war schlimm. Und es bleibt nicht liegen.

picture alliance/dpa | Markus Scholz

„I’m still standing“. Ich stehe immer noch, singt Elton John. Sein Song haut rein wie eine mächtige Substanz. Dieses Lied ist ein Anker, meine Kraftquelle. Der Rhythmus, die Melodie, die Komposition. Es folgt ein unglaublicher Energieschub, wenn ich dieses Lied in voller Lautstärke genieße. Als ob jemand ein Tor zur Sonne für mich öffnen würde. In meinem Kopf wird es in vielen Abstufungen orange bis freundlich hell, die Wörter hüpfen bunt, fröhlich und voller Geschmack in meinem Mund herum. Es schmeckt und riecht nach Energie. Die Herznote des Geschmacks ist irgendetwas zwischen Orange und Bergamotte, sonnig, süß – nicht bitter, frisch, erfrischend, energetisierend. Während dieser Geschmacksexplosion und der ausgesprochen angenehmen optimistischen Farbenorgie, wird mein Körper von Energie durchflutet. „Ich stehe noch“ scheint jede Zelle meines Körpers zu singen und dabei mit dem Universum in absolutem Gleichklang zu tanzen.

Wenn ich trainiere, bis die Muskeln brennen, wenn ich gute Stimmung brauche oder wenn ich kreativ sein möchte, höre ich dieses Lied. So auch jetzt: Kopfhörer auf; Lautstärke nach oben reguliert. Die Finger schweben über der Tastatur. Meine Hände, der Laptop, ich und Elton Johns Song werden eins – der Tanz beginnt. Ich liebe es.

Sicher kennen Sie Ähnliches, liebe Leser: Es passiert etwas, eine Situation, ein Erlebnis, etwas, das einen trifft, emotional erwischt, wütend macht oder traurig oder schlicht fassungslos zurücklässt. Plötzlich ist da diese miese Stimmung, die nicht abzuschütteln ist, egal wie sehr man sich bemüht.

Man beginnt darüber zu sprechen, mit denjenigen, die beteiligt waren, oder mit völlig Unbeteiligten. Fast immer folgt derselbe Mechanismus: ein bisschen Verständnis, ein paar beschwichtigende Worte – und darunter dieses leise, hartnäckige infrage stellen. Dieses unausgesprochene „Bist du dir auch ganz sicher, dass es wirklich so war?“, das selten offen formuliert wird, aber zuverlässig im Raum steht.
Wer jemals emotional getroffen wurde, ganz egal aus welchem Grund, der weiß, wie existenziell es ist, dass einem zunächst geglaubt wird. Es geht zunächst nicht um Details oder um eine objektive Rekonstruktion, sondern darum, dass der eigene Zustand, das eigene Erleben überhaupt als real anerkannt wird.

Eine Geschichte dazu

Während meiner Tätigkeit als Gefängnisarzt habe ich vieles erlebt. Dinge, an die man sich nie wirklich gewöhnt, auch wenn der Alltag irgendwann abstumpft, und eines dieser Erlebnisse hat meinen Blick auf Wahrheit und Wirklichkeit nachhaltig verändert.

Eine Person war wegen Mordes verurteilt worden. Der Fall galt als eindeutig. Als ich meine Arbeit in der JVA begann, erzählte man mir nicht nur den Grund der Inhaftierung, sondern auch den brutalen Tathergang. Es folgte die Warnung: grausam, kalt, brutal, zu allem fähig.

Als ich diese Person das erste Mal traf, schien das Bild perfekt zu passen: abweisend, schroff, verbal angreifend, äußerlich ungepflegt, roh in ihren Bewegungen, hart im Auftreten, und ich verschwendete keine Sekunde an Zweifel – für mich war klar: Ja, so sieht eine Bestie aus.

Mit der Zeit wurde diese harsche Umgebung in der JVA normal, ebenso die Menschen darin. Auch die besagte Person. Durch regelmäßige Kontakte im Rahmen meiner Tätigkeit entstand ein vorsichtiges Vertrauen mir gegenüber.

Eines Tages jedoch war etwas anders, nicht dramatisch, aber spürbar, als hätte der Panzer einen Riss bekommen, durch den plötzlich etwas Zerbrechliches, etwas Warmes, aber auch tiefe Traurigkeit sichtbar wurde. Die besagte Person teilte mir mit, sie sei unschuldig, nichts von dem, was man ihr vorwerfe, stimme.

Nun ist das im Gefängnis keine Seltenheit. Viele Gefangene beginnen Gespräche mit dieser Aussage. Aus Angst, aus Hoffnung oder aus purer Verzweiflung. So ließ ich mir die Geschichte erzählen. Innerlich war ich davon überzeugt, am Ende eine erfundene Version zu hören. So trat es ein. Ich war sicher: gelogen. Zu kreativ, zu konstruiert. In meiner selbstzufriedenen Arroganz fragte ich diese Person, warum sie die Tat überhaupt gestanden habe – eine Frage, die ich für besonders schlau hielt. Tatsächlich allerdings hätte sich Sherlock-Holmes im Grabe umgedreht.

Die Antwort der Person war ernüchternd: Irgendwann sei es völlig egal gewesen, was sie sagte, man habe dem ohnehin keinen Glauben geschenkt. Irgendwann habe sie selbst begonnen, die Geschichte zu glauben, die man immer wieder vorgehalten habe, bis zur Erschöpfung und Leere. Die Person wollte nur ihre Ruhe haben, weshalb sie am Ende genau das sagte, was man hören wollte.

Jahre später stellte sich zufällig heraus, dass die Vorwürfe falsch waren. Unschuldig. Als ich davon hörte, weinte ich. Nicht vor Freude, sondern aus Scham.
Diese Geschichte macht sichtbar, wie Menschen in einem System, das ihnen dauerhaft nicht glaubt, irgendwann beginnen, an ihrer eigenen Wirklichkeit zu zweifeln.

Und genau darum geht es hier

Bis heute ärgert mich maßlos, wie leicht sich Geschichten drehen lassen und wie effektiv es ist, Menschen einzureden, dass etwas nicht so gewesen sei oder zumindest nicht so schlimm, bis sie selbst anfangen, an ihren Erinnerungen zu zweifeln.

Dieses Muster gibt es nicht nur im Einzelfall, sondern inzwischen im großen Stil. Es trägt einen harmlosen Namen: Corona-Aufarbeitung.

„War doch alles nicht so schlimm“

Allen Ernstes will man uns heute erklären, dass alles halb so wild gewesen sei; notwendig, aus Solidarität, man habe es eben nicht besser gewusst; und überhaupt: Was sei denn schon Schlimmes passiert. Wenn man das hört, möchte man brechen.
Es ist nicht weniger passiert, als dass Grundrechte ausgehebelt, Menschen gnadenlos ausgegrenzt, sozial geächtet und in medizinische Behandlungen gedrängt wurden, während Existenzen zerstört, Karrieren beendet, Beziehungen zerbrochen sind und Lebenspläne zermahlen wurden.

Kinder und Jugendliche hat man vor den Bus geworfen, psychisch misshandelt, in Schulen und Kindergärten. Orte, die eigentlich Schutz bieten sollten. Die Folgen sind heute offensichtlich.

Alte und Kranke ließ man durch irrsinnige, völlig unhaltbare Regelungen allein und oft in ihrer eigenen Ausscheidungen verrecken, weil eine völlig verfehlte Coronapolitik auf eine menschlich naive Bevölkerung traf und dort prächtig gedeihen konnte. Während Angehörige vor Kliniken und Heimen weinten und drinnen die Alten und Kranken allein starben, schrieben unsere großen Leitmedien gegen die Menschlichkeit an.

Sie schrieben fleißig im Geiste der unheilvollen Gleichschaltung, machten Kritiker zu Projektionsflächen des Hasses und übernahmen jede Parole und Propaganda aus den Ministerien, als wären sie eine göttliche Offenbarung. Von diesem Vorgehen war nichts, aber auch wirklich gar nichts, gut. Das muss unbedingt und auch in klaren Worten gesagt werden. Immer und immer wieder.

Deutschland hat sich mit seiner Coronapolitik, seinen Experten, Maßnahmen-Durchpeitschern und Beamten unter dem Deckmantel der sogenannten Wissenschaft in eine Richtung bewegt, in der Menschen massiv geschadet und Existenzen vernichtet wurden – das muss man so hart formulieren.

Und heute?

Heute laviert man, setzt Pseudokommissionen ein, schielt auf Redezeiten, unterbindet kritische Fragen, verhindert weitere Untersuchungen und tritt stattdessen Menschen mit kritischer Stimme die Türen ein – juristisch, medial, gesellschaftlich.
Ärzte durften auf sozialen Medien Sätze sagen, die jede Grenze sprengen. „Sex ist geil, aber ich habe heute Kinderimpfstoff bestellt …“ ist beispielsweise so ein Satz, der den unheilvollen Zeitgeist verdeutlicht. Patienten wurden als „enthirnt“ bezeichnet, weil sie sich nicht impfen lassen wollten. Dies alles blieb ohne Aufschrei, dafür begleitet von Applaus einer Öffentlichkeit, die offenbar nichts gelernt hat.

„Lass die Vergangenheit ruhen“

Immer öfter kommt dieser Satz, der so harmlos klingt, als käme er direkt von einem Zen-Meister, und doch so verlogen ist, dass ein Meister der Gedanken niemals auf die Idee käme, ihn in diesem Kontext so zu formulieren: Man solle die Vergangenheit ruhen lassen, es sei doch jetzt genug. Viele kennen ihn oder nutzen ihn. Ich höre diesen Satz selbst oft genug.

Doch was wie Gelassenheit klingt, ist nichts anderes als Angst – Angst vor echter Aufarbeitung, Angst vor dem eigenen Anteil, vor dem Wegsehen, dem Mitmachen, dem Schweigen.

Nein. Die Vergangenheit bleibt nicht ruhig. Nicht für mich.

Ich werde die Vergangenheit ans Licht zerren, jeden Winkel ausleuchten und mich diesem gewollten Vergessen entgegenstellen. Dem Einreden, dass all die Schweinereien irgendwie doch keine oder halt notwendig gewesen seien, trete ich entgegen.

Einen Scheiß werde ich ruhen lassen. Meine Kraft, meine finanziellen Möglichkeiten und meine Energie werde ich in diese Aufarbeitung stecken. Mit Hilfe von Elton John werde ich umhertanzen und aus vollem Halse singen: I’m still standing. Die Welt wird orange-hell in vielen Nuancen leuchten und nach irgendwas zwischen Orange und Bergamotte schmecken.

Einen guten Rutsch ins neue Jahr!

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Kommentare ( 17 )

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Johann P.
55 Minuten her

„Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Allerdings nicht auf die Impfgegner, wie es ein unsäglicher RTL-Journalist damals forderte, sondern auf die Täter des Corona-Verbrechens! In dem Buch mit dem gleichnamigen Titel (von Marcus Klöckner und Jens Wernicke) sind sie alle festgehalten mit ihren unglaublich hasserfüllten Aussagen zu „Coronaleugnern“ und Impfverweigerern. Ein absolut wichtiges und lesenswertes Nachschlagewerk, gerade auch heute noch!

Reinhard Schroeter
32 Minuten her

Die ersten 30 Jahre meines Lebens habe in der DDR genannten Zone Deutschlands gelebt mit Repressionen und Freiheitseinschräkungen gelebt.Niemals aber habe je eine so furchtbare Zeit durchleben müssen wie von 2020 bis 2023. Niemals wurde ich so erniedrigt und gedemütigt wie in dieser Zeit. Die allerschlimmsten Demütigungen, Erniedriegungen , Beleidigungen und Kränkungen wurden mir allesamt durch Westdeutsche zugefügt. Seien es die Politikhampelmänner, seien es die Zeitungsschmierer, seien es die Propagandafunker, seien es Leute gewesen , die sich als Wissenschafter oder Künstler oder was weiss ich noch so, ausgegeben haben. Leider haben auch unzählige wie Du und ich dazu gehört. Um… Mehr

Ohanse
47 Minuten her

Was die Angehörigen der einsam gestorbenen Alten angeht: Die überwiegende Mehrheit dieser Gruppe hat überhaupt nichts daraus gelernt. Die letzten Wahlergebnisse zeigen das überdeutlich: Es werden immer noch die gewählt, die den Schaden verursacht haben. So schwerwiegend kann der Verlust dann wohl nicht gewesen sein.

Ho.mann
1 Stunde her

Unfassbar bleibt auch, dass die haftungsbefreiten Gesundheits – und Lebensräuber ihr im Verbrecher-Kollektiv erbeutetes Geld auch noch behalten dürfen und für ihren angerichteten Schaden finanziell nicht belangt werden. Selbst in hohen politischen Ämtern finden sich noch immer etliche Gesellen, die, trotz ihrer unrühmlichen Rolle in der Coronazeit, noch immer unbehelligt in politischer Verantwortung stehen.

heinrich hein
1 Stunde her

wenn man sich anschaut, wie wenig m.E. die Aufarbeitung des Dritten Reiches und der DDR stattgefunden hat bleibt wenig Hoffnung, dass die verantwortlichen Schwerstverbrecher des Corona-Regimes je zur Rechenschaft gezogen werden. Hoffentlich versterben sie zumindest früh.

misa
1 Stunde her

Machen Sie weiter so Herr Pürner. Ich bin Kollege ( Pneumologe) und habe die Zeit überstanden ohne z.B. zu impfen ( es war mir von Anfang klar, daß ich keine jungen Menschen impfen sollte) und ohne meine Behandlungen zahlenmäßig oder qualitativ einzuschränken. Die Gesetze habe ich formal eingehalten. Ich habe mich durchlaviert. Ich war allerdings nicht an der Öffentlichkeit und nur im kleinen Kreis kritisch und wurde dort als Coronaleugner ( ich, der ich 2021 und 2022 täglich COVID- Peumonien nachversorgte) bezeichnet. Allerdings habe ich mir nicht, wie andere Kollegen durch „Wochendspritztouren“ den Gegenwert eines Kleinwagens „erspritzt“. Vergessen werde ich… Mehr

HDieckmann
2 Stunden her

„I’m still standing“ – und immer mehr Menschen wachen auf und stehen auf!

Micci
2 Stunden her

Lieber Herr Pürner, das muss ich jetzt kommentieren. Vorab eines: bei dieser Formulierung hier ist mir etwas Übles aufgefallen: „Deutschland hat sich mit seiner Coronapolitik, seinen Experten, Maßnahmen-Durchpeitschern und Beamten unter dem Deckmantel der sogenannten Wissenschaft in eine Richtung bewegt, in der Menschen massiv geschadet und Existenzen vernichtet wurden“ Die Passage lässt sich minimal verändern – und passt immer noch: „Deutschland hat sich mit seiner Politik ab ’33, seinen Experten, Maßnahmen-Durchpeitschern und Beamten unter dem Deckmantel der sogenannten Wissenschaft in eine Richtung bewegt, in der Menschen massiv geschadet und Existenzen vernichtet wurden“ Und das bedeutet: Menschen lernen nicht aus der… Mehr

humerd
2 Stunden her

“ auf eine menschlich naive Bevölkerung traf“ DAS glaube ich nicht. Das Narrativ von Fürsorge „wir müssen die Alten schützen“ trug die Mehrheit wie eine Monstranz vor sich her und genau diese gab ihnen die Berechtigung zu unbarmherzigen Verhalten. Erst wurden die Ü60er entmündigt, sie mussten zwar noch arbeiten und Steuern, Abgaben etc. zahlen, waren aber zu blöde, auf sich selbst zu achten. Dann wurden zuerst die Pflegeheimbewohner und dann die Ü80er zu Versuchskaninchen des Impfstoffes, alles nur aus purer Fürsorge. Nach den Ü80ern, waren die Ü70er und dann die Ü60er dran. Dazwischen gabs einen kurzen, hässlichen, lauten medialen Aufschrei des… Mehr

Last edited 2 Stunden her by humerd
Hutschnur
2 Stunden her

Danke an Sie Herr Pürner und die vielen anderen die die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Allen ein gutes, gesundes und standhaftes neues Jahr.

AlNamrood
2 Stunden her

In der gesamten Geschichte der Moderne wurde in Deutschland noch nie jemand tatsächlich zur Rechenschaft gezogen. Das wäre korrekte Aufarbeitung: Ein Zeichen, dass auch vergangene Handlungen zukünftige Konsequenzen tragen statt unter dem Teppich gekehrt zu werden. Das Dritte Reich wurde nicht aufgearbeitet, die DDR wurde nicht aufgearbeitet und Corona wird nicht aufgearbeitet werden.