Die Republik der geschliffenen Zungen

Ein Sprichwort reicht – und das Land soll strammstehen zur moralischen Selbstkontrolle. In der Republik der geschliffenen Zungen zählt nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Was bei Grünen immer wieder als Versehen durchgeht, wäre bei der AfD Grund für das Aufheben der politischen Immunität und den Verfassungsschutz.

picture alliance / Geisler-Fotopress

Neuerdings genügt ein Satz – und das Land steht stramm zur moralischen Inspektion. Ein unbedachtes Wort, ein altes Sprichwort, ein Stück Alltagssprache – und schon heulen die Sirenen der Tugendwächter. Die Republik hat sich in eine selbsternannte Sprachpolizei verwandelt, deren Einsatzkommandos X, Talkshows und Empörungsspalten sind.

Die eigene Sprachpolizei im Kopf

Der jüngste Fall: Katharina Dröge, Fraktionschefin der Grünen, sagte bei Maischberger beiläufig einen der ältesten deutschen Sinnsprüche: „Jedem das Seine.“ Ein Satz, der seine Wurzeln in der antiken römischen Rechtsphilosophie hat und als Ausdruck von Gerechtigkeit galt – bis ihn die Nazis zynisch an das Eingangstor des KZ Buchenwald schweißten. Seither ist der Satz historisch „belastet“, wie es heute so schön heißt.

Ganz ehrlich, ich musste etwas grinsen, als ihr der Satz über die Lippen kam. Denn mir kam nur ein alter und hochintelligenter Philologe in den Sinn, der regelmäßig diesen Spruch, wahlweise, je nach Gesprächspartner, auch auf Latein zitierte. Keinen Moment dachte ich dabei an Nazis oder ein KZ.

Recherchiert man zu dem lateinischen Ausspruch, so landet man bei Cicero. Ihm wird der Ausspruch zugeschrieben. Später wurde „Suum Cuique” zum Wahlspruch in Preußen. Danach verwendeten ihn die Nazis. Heute ist er wohl bei den Feldjägern der Bundeswehr noch gebräuchlich oder eben ganz aktuell in Talkshows.

Der Zeitgeist verlangt nach Entschuldigung

Was nach dem „Fauxpas“ von Frau Dröge passierte, ist typisch in unserer Zeit und sagt sehr viel über unsere momentane Stimmung in der Gesellschaft aus. Anstatt die Sache in Ruhe einzuordnen, ironisch zu brechen oder schlicht als unbedachten Lapsus zu belassen, folgte prompt das Ritual: Entschuldigung. Dröge erklärte, man dürfe diesen Satz nicht verwenden und es tue ihr sehr leid. Punkt. Abmoderiert. Weiter geht’s.

Das Verhalten von Frau Dröge ist auf den ersten Blick tadellos. Doch weshalb dieser Tanz? Ist es tatsächlich das schlechte Gewissen, das sie da drückt? Wurde sie möglicherweise von anderen erst darauf aufmerksam gemacht? Wenn ja, weshalb dann dieses beschämte Getue? Sie hätte auch erklären können, dass sie von dieser negativen Konnotation noch nie gehört hat. Wäre glaubwürdiger und ist sehr vielen Zuschauern ebenso gegangen.

Oder ist Frau Dröge eingefallen, wie sie und ihre Partei mit anderen umgegangen wären, wäre dort dieser Satz gefallen?

Ausnahmezustand und Doppelmoral

Was wäre eigentlich passiert, hätte Tino Chrupalla diesen Satz gesagt? Man kann es sich lebhaft vorstellen: ARD-Sondersendungen, „Faktenchecks“ in Endlosschleife, Rücktrittsforderungen aus der dritten Reihe der SPD, Rücktrittsforderungen aus der ersten Reihe der Grünen, Demos gegen Rechts, empörte Kolumnen über die „Sprachverrohung von rechts“, Chorgesänge für ein AfD-Verbot. Zudem würde es Anzeigen hageln. Ein halber Satz – und die Bundesrepublik manövriert sich in den Ausnahmezustand.

Das eigentliche Problem ist nicht der Satz, sondern der Absender. Dröge? Gut gemeint. Chrupalla? Verdächtig. Bei den einen ein Versehen, bei den anderen ein „dog whistle“. Doppelmoral in Reinform. Der Maßstab ist längst nicht mehr, was gesagt wird – sondern wer es sagt.

So wird Sprache zur Waffe. Schlimmer noch: zum Minenfeld. Niemand kann alle Ausdrücke kennen, die irgendwo zwischen 1933 und 1945 eine zweifelhafte Karriere gemacht haben. Wer weiß schon, welche Redewendung in welcher Goebbels-Rede fiel? Muss jetzt jeder Politiker Germanistik mit Nebenfach NS-Rhetorik studieren, um sich nicht verdächtig zu machen?

In einem halbwegs normalen Land würde man differenzieren: Hat jemand einen historisch belasteten Satz bewusst benutzt, um zu provozieren – wie es möglicherweise Björn Höcke, ehemaliger Geschichtslehrer, bei „Alles für Deutschland“ tat? Oder war es eine gedankenlose Floskel ohne ideologische Absicht – wie bei Dröge? Der Unterschied wäre klar. Doch nicht in Deutschland 2025.

Hier zählen keine Absichten mehr, keine Kontexte, keine Grautöne. Hier zählt nur noch die Reaktion der Masse – und die richtet sich nach Parteilogo, nicht nach Inhalt.

Wehe, die „Falschen“ sagen was

Man kennt das bereits von der Causa #allesdichtmachen. Damals wurden Künstler, die auf ironische Weise Corona-Maßnahmen kritisierten, öffentlich hingerichtet. Von der gleichen Blase, die sich heute in der Opferrolle gefällt, sobald Kritik an ihren Ansichten geäußert wird. Bei den einen ist es „Satire mit Menschenverachtung“, bei den anderen „mutiger Widerstand gegen Rechts“. Es ist, mit Verlaub, lächerlich.

Das Ergebnis? Eine wachsende sprachliche Schockstarre. Niemand sagt mehr etwas, was nicht vorher von Pressereferenten, Sprachhygienikern und Genderkommissaren gegengeprüft wurde. Das ist gefährlich, denn Demokratie lebt nicht von gefilterten Sätzen, sondern von klarer Rede – auch dann, wenn sie aneckt.

Wir verlieren unseren Mut, unsere Wurzeln und unsere Kultur

Man kann Sprache nicht säubern wie einen Altbau. Wer jeden alten Satz mit der Lupe der historischen Schuld betrachtet, bekommt am Ende einen Wortschatz, der nur noch aus Betroffenheitsvokabeln besteht. Zudem werden langsam aber zunehmend die Wurzeln unserer Sprache und damit auch die Wurzeln unserer Kultur ausgerissen. Die Wurzeln liegen natürlich auch bei den Dichtern, Denkern und Rednern im alten Rom.

Vermutlich ist diese Entwurzelung und permanente sprachliche Überprüfung das eigentliche Ziel: ein Klima, in dem sich jeder zweimal überlegt, ob er überhaupt noch sprechen will. Denn wer spricht, riskiert – und wer schweigt, bleibt unangreifbar.

Willkommen in der Republik der geschliffenen Zungen.

Wo nicht das Sagbare zählt – sondern das Erlaubte.

Wer das merkt, hat das eigentliche Problem längst erkannt. Wer das nicht erkennt, der soll das bekommen, was er verdient hat. Oder wie Cicero sagen würde: „Justitia in suo cuique tribuento cernitur”.

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Kommentare ( 50 )

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BKF
2 Monate her

Die sogenannten Grünen scheinen in Vielem die Erben der NSDAP zu sein, nicht bei diversen Familienabstammungen und bei Reichskrafttürmen und Wasserstoffwirtschaft, sondern bis hinein in die Außenpolitik und da insbesondere die Ostpolitik.

Karl Schmidt
2 Monate her

Ein Artikel mit ein paar stark verstimmten Saiten. Hier sind z. B. keine „Tugendwächter“ am Werk: Wächter ja, aber nicht über Tugenden – ganz im Gegenteil. Zensur der Gedanken, der Argumente, der Sachverhalte oder Vokabeln ist keine Tugend und wird es auch nicht werden, was jedem klar ist, der nicht in den Dunstkreis stalinistischer Organisationen geraten ist. Der Meinungsaustausch unter Gutwilligen kommt ohne bösartige Unterstellung aus. Deshalb ist die Kritik an Höckes Zitat übrigens unlauter, denn es wurde von praktisch allen politischen Strömungen seinerzeit benutzt und weist ihn nicht automatisch als Menschenfeind ohne demokratischen Anspruch aus. Das ändert sich auch… Mehr

stebu
2 Monate her

Die ad infinitum geführte Diskussion um „historische Zitate“ ist allmählich nicht mehr zu verstehen. Was soll an „Alles für Deutschland“ falsch sein? Davon abgesehen, daß diese Sentenz von extrem rechts bis extrem links seit deutlich über hundert Jahre gebraucht wurde. Oder das falsch verstandene Trump’sche „America First“. Was denn sonst? Der Bürger und Wähler darf erwarten, daß der gewählte Präsident sich in erster Linie um seine Bürger kümmert und sich für sie den Kittel zerreißt, statt in Peru Fahrradwege zu bauen, obwohl die eigenen Verkehrswege marode sind!

BKF
2 Monate her
Antworten an  stebu

Was soll an „Alles für Deutschland“ falsch sein?“ Die SPD möchte nicht mehr an diese Losung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold erinnert werden (den Reichsbanner gibt es übrigens noch immer https://www.reichsbanner.de/reichsbanner-heute)

Juergen Semmler
2 Monate her

Vor allem den ….

..stramm Links-Orientierten…

müsste der weise lateinische
Spruch als LOSUNG nicht nur ins PARTEIBUCH gedruckt , sondern auch hinter deren Ohren geschrieben und an die Stirn geklebt werden:

„Honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“ ….

…[„Ehrlich leben, den anderen nicht verletzen, jedem das Seine]

ABER versuchen Sie mal, BILDUNGSFERNE MILIEUS zu erreichen ….

…SIE WERDEN KLÄGLICH SCHEITERN.

Juergen P. Schneider
2 Monate her

Lächerlich machen sich diejenigen, die vor dem Internetmob bzw. den Asozialen Medien und ihren Shitstorms einknicken. Dass man von einer Grünen wie Dröge in Bezug auf Bildung nicht viel erwarten kann, war ja wohl klar. Es macht auch nichts, wenn die grünen Brunnenvergifter einmal ihr eigenes Gift saufen müssen. Wohl bekomm’s! Die Äußerung von Höcke, war und ist nie eine reine SA-Parole gewesen, sondern wurde von fast allen Parteien der Weimarer republik benutzt. In unserem Bildungsnotstandsland wissen dies nicht einmal mehr die Richter am Bundesgerichtshof, oder sie weigern sich einfach, sich kundig zu machen. Die links-grüne Gesinnungsjustiz hat Höcke verurteilt,… Mehr

Hueckfried69
2 Monate her

Die Franzosen übersetzen „Suum cuique“ anders als wir. Zumindest die Pariser: Jedem die Seine.

Last edited 2 Monate her by Hueckfried69
jwe
2 Monate her

„jedem das seine“ aus links-grünem Mund ist natürlich tadellos. Der gleiche Satz aus Höckes Mund bringt Politik und Presse zum kochen. Im übrigen stehen die gleichen Worte außen am Landgericht Halle, ohne das es jemanden stört. Es ist wie Hasselmann schon mal sagte: „Es kommt nicht darauf an, was man sagt, sondern wer es sagt!“. So kann man aus jeder Aussage Höcke einen Strick drehen. Ja, so ist das heute in Deutschland.

Zum alten Fritz
2 Monate her

Der missbrauchte Ausspruch erhielt noch eine Erweiterung, wahrscheinlich aus des Volkes Mund „Jedem das Seine, mir das Meiste“. Zu wem das passt kann jeder selbst bestimmen.

humerd
2 Monate her

die Macht der Worte: Boomer / Rentner = Schimpfwort.

Deutsche
2 Monate her

Mich wundert es doch leicht, dass im Zusammenhang mit dem Rentner-„Pflichtjahr“- (ausgebeutet werden bis ins Grab) für diese gierige Abgreifmaschine „links invadierter Staat“ nicht Motivationssprüche kamen wie Ehrenamt macht frei, oder man denke an das „frieren für den „Frieden“ “ (wurde aktuell umbenannt in Krieg vom Zaun brechen für den Friedrich und die Konzernkassen). Junge Männer marsch, marsch.