Überhangmandate und Ausgleichsmandate: Die zu erwartende Zahl der Sitze im Landtag und Bundestag

Über die vergleichbare Übergröße des Baden-Württembergischen Landtages im Gegensatz zur Übergröße des Bundestages wird kaum gesprochen.

https://www.landtagswahl-bw.de/wahlablauf

Der augenblickliche Landtag in Baden Württemberg hat 143 anstatt der gesetzlich vorgesehenen 120 Sitze. Auslöser dafür waren acht Überhangmandate von Bündnis 90/Grüne, die 15 Ausgleichsmandate für die anderen Parteien zur Folge hatten. Über diese Übergröße wird viel weniger gesprochen und geschrieben als über die Bundestags-Übergröße.

Ob diese Übergrößen – ähnlich wie beim menschlichen Körper – auf überflüssigem Fett oder nützlichem Muskelfleisch beruhen, soll hier nicht erörtert werden.
Vielmehr geht es um die erstaunliche Tatsache, dass bei dieser vergleichbaren Übergröße des Baden-Württembergischen Landtages im Gegensatz zur Übergröße des Bundestages darüber kaum gesprochen wird. Das, obwohl für beide Parlamente die vom Bundesverfassungsgericht erzwungene Regelung für Ausgleichsmandate bei entstehenden Überhangmandaten maßgeblich ist.

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Dabei gibt es in einem wichtigen Detail einen interessanten Unterschied: Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg gibt es das sonst bei Bundestagswahlen und Landtagswahlen übliche Zweistimmen-Wahlrecht nicht. Jeder Wähler hat nur eine Stimme, die er nur an eine Kandidatin oder einen Kandidaten vergeben kann und keine sogenannte „Listenstimme“ als zweite Stimme. Das ist insoweit interessant, weil von nicht wenigen Gegnern des sonst üblichen Zweitstimmen-Wahlsystems behauptet wird, dass es Mitschuld an der Übergröße der Parlamente in Deutschland trage und deshalb abgeschafft werden sollte. Die Übergröße des Baden-Württembergischen Landtags mit Einstimmen-Wahlrecht beweist, dass es nicht so ist. Auch mit nur einer Stimme, die Wähler haben, können Überhangmandate und Ausgleichsmandate in ähnlicher Höhe entstehen.

Das Entstehen von Überhangmandaten und Ausgleichsmandaten ist allein von der Relation der Wahlkreisgewinne zum Parteien-Ergebnis abhängig. Dazu sind nur zwei Prognosegrößen erforderlich.

Erstens das zu erwartenden Gesamtergebnis der Parteien bei der anstehenden Wahl und zweitens die Zahl der Wahlkreisgewinne. Genaugenommen sind diese Zahlen für die vier Regierungsbezirke in Baden-Württemberg, hier vereinfacht nur für das gesamte Bundesland Baden-Württemberg zusammengefasst, weil es nur dafür brauchbare Meinungsumfragen gibt.

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Nach solchen Umfragen bekommen die Grünen am 14. März fast 35 Prozent der Stimmen. Bei 10%-Punkten noch hinzuzurechnender Stimmen, die wegen der 5%-Klausel von den „Verlierern“ den „Gewinnern“ zusätzlich „über dem Tisch“ zugeschoben werden, wären es bei den Grünen rund 38,5 Prozent mandatswirksame Stimmen. Bei einer gesetzlich vorgesehenen Landtagsgröße von 120 Sitzen errechnen sich daraus 46 Sitze für die Grünen.

Für die Zahl der möglichen Wahlkreisgewinne gibt es keine einigermaßen repräsentative Prognosen. Bei der Landtagswahl 2016 hatten die Grünen 46 der 70 Wahlkreise gewonnen. Da sich die Stimmgewinne der Grünen bei gleichzeitigen Stimmverlusten der CDU fast automatisch in zusätzlichen Wahlkreisgewinnen niederschlagen werden, ist damit zu rechnen, dass die Grünen noch mehr Wahlkreisgewinne als 2016 verbuchen könnten.

Rein mathematisch bedeutet das bei drei beispielhaften Ergebnissen:
Würden die Grünen wieder 46 Wahlkreise gewinnen und Anspruch auf 46 Sitze auf Grund ihres Parteiergebnisses haben, gäbe es keine Überhangmandate und folglich auch keine Ausgleichsmandate für die anderen Parten. Der Landtag hätte genau die gesetzlich vorgesehene Größe.
Gewönnen die Grünen aber z. B. 54 von 70 Wahlkreisen, würde dies genau wie 2016 acht Überhangmandate auslösen, was im Landtag wieder zu einer deutlichen Übergröße mit etwa 143 Sitzen führen würde.
Gewönnen die Grünen noch mehr Wahlkreise als 54, dann würde der Landtag noch größer als bisher. Grob gerechnet: Jeder zusätzlich gewonnene Wahlkreis führt dann zu drei weiteren Sitzen im Landtag.

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Eine Einschränkung muss bei dieser groben Rechnung gemacht werden: Der Landeswahlleiter rechnet nicht auf Landesebene die Zahl der Parlamentssitze aus, sondern getrennt jeweils für die vier Regierungsbezirke. Das ist ein bisschen wie Schafbeine zu zählen und dann durch die Zahl Vier zu teilen, um die Zahl der Schafe zu ermitteln. Dadurch ist für den Wahlbürger am Wahlabend nicht genau nachvollziehbar, wie sich auf Grund der Stimmengewinne und Wahlkreisgewinne der Grünen die Größe des Baden-Württembergischen Landtages ergibt. Die letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Hessen haben gezeigt, dass es nicht selten auf ein einziges Mandat für eine bestimmte Regierungsbildung ankommt.

Wenn dann am Wahlabend herauskommen sollte, dass der Landtag wieder zu groß ist, gibt es zunächst großes Geschrei mit Ruf nach Wahlrechtsänderung und dann ist schnell wieder Ruhe. Das klappt im Interesse der Parteien deshalb so gut, weil weder die öffentliche Meinung noch die veröffentlichte Meinung das jeweilige Wahlsystem richtig verstehen (können).

Das Interessante ist, dass das spezielle Wahlsystem für den Landtag in Baden-Württemberg, dem Wahlbürger keine Chance lässt, mit seiner Stimmabgabe Einfluss auf die Größe des Landtages zu nehmen.

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Bei der Bundestagswahl im Herbst ist es wie überall in Deutschland auch in Baden-Württemberg ganz anders. Durch das Zweistimmenwahlrecht, können die Wähler mit ihren Erststimmen erheblich Einfluss auf die Zahl der Sitze im Landtag nehmen. So hat z. B. in Thüringen bei der letzten Landtagswahl die CDU deutlich an Zweitstimmen verloren, aber trotzdem mit einem deutlich besseren Erststimmenergebnis die meisten Wahlkreise gewonnen.

Das kann der CDU auch bei der Bundestagswahl im Herbst in Baden-Württemberg passieren, wo sie bei der letzen Bundestagswahl trotz hoher Stimmverluste alle Wahlkreise gewonnen und durch 11 Überhangmandate insgesamt über 40 mehr Sitze für alle Parteien im Bundestag ausgelöst hatte.

Von dem Wahlergebnis (Zweitstimmen-Ergebnis und Wahlkreisgewinne) in Baden-Württemberg für die CDU wird bei der Bundestagswahl in sechs Monaten entscheidend die Größe des nächsten Bundestages abhängen.

Wenn jetzt bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 14. März durch mehr Überhangmandate der Grünen der Landtag noch größer wird, wäre das ein Hinweis, dass der Bundestag durch wahrscheinliche Wahlkreisverluste der CDU bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 kleiner ausfällt.


Diplom-Kaufmann Dieter Schneider ist als praktizierender Wahlbeobachter ein Wahlforscher besonderer Art.

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Kommentare ( 7 )

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Tizian
3 Jahre her

Es ist letztlich egal, ob man in diesem Land von ein paar mehr oder weniger Parteisoldaten-und Karrieristen ausgebeutet und abgezockt wird, die sich schmarotzend bestens selbstbedienen und sich um die heißbegehrten Privilegien, Posten und Pöstchen rangeln. Das ganze Parteienherrschaftssystem gehört abgeschafft und reformiert, denn es ist korrupt, ungerecht und selbstherrlich. Der Bürger muß dazu allerdings mit den Füßen abstimmen und nicht mit dem ihm von den Herrschenden huldvoll gereichten Wahlzettel, der nur zur Legitimation dieses Herrschaftssystems dient und nicht zur demokratischen Mitbestimmung.

Last edited 3 Jahre her by Tizian
von Kullmann
3 Jahre her

Jeder der zusätzlichen (eigentlich nicht gewählten) Abgeordneten, kann seine teure persönliche Sau durch das Dorf treiben. Mehr Apanagen, mehr „Ideen“, mehr Anträge, mehr Öffentlichkeit. Der Real-Steuerzahler muss zahlen.

Querdenker_Techn
3 Jahre her

Bei der BTW gibt es nur eine einfache Lösung für uns Wähler: Erst- und Zweitstimme für die gleiche Partei. Das ist keine „verschenkte Stimme“, weil letztendlich für die Verteilung auf die Parteien nur die Zweitstimme zählt.
Wer schon einmal seinen Bundestagsabgeordneten angeschrieben hat, weil er etwas von ihm wollte, der kann nur Unterstützung erwarten, wenn es zu der Parteilinie passt.

Iso
3 Jahre her

Keine Angst, die montierten Sitze im Sitzungssaal reichen völlig aus. So oft lassen sich die Abgeordneten schließlich doch nicht sehen, und haben mit ihren Nebenjobs alle Hände voll zu tun.

Tesla
3 Jahre her

Wahrscheinlich wird man nach der Wahl die Mandatssitze im Bundestag zweigeschossig aufbauen müssen – ähnlich wie in einem Theater mit Parkett und Rang (im Grunde ist der Bundestag ja auch nichts anderes als ein Theater).

Lars Baecker
3 Jahre her

Ist Sache der Baden-Württemberger. Die müssen das schließlich finanzieren.

Nihil Nemo
3 Jahre her

Und jetzt? Macht es so einen großen Unterscheid, wie viele dieser „Volxvertreter“ von den Steuerzahlenden mitgeschleppt werden? Parteienfeudalismus eben.