Theater um Refugees-Welcome-Zentrum im Thalia-Theater

Ob die SPD sich auf dem kommenden Bundesparteitag lieber um eine Neudefinition des Trans*menschen kümmert oder um eine Analyse der Befindlichkeiten der europäischen Nachbarn - vielleicht sogar der eigenen Wähler?

Kennen Sie Alvis Hermanis? Macht nichts, denn um ihn zu kennen, muss man ein theateraffiner Mensch sein. Dann wüsste man von dem Letten, dass er zu den bedeutendsten aktiven Theaterregisseuren Europas gezählt wird. Über seine Arbeit heißt es, sie würde sich „durch eine intellektuelle Nonkonformität und die Suche nach einer autonomen, spirituell bereichernden Sprache der Kunst auszeichnen“ (wikipedia). Was immer der Quatsch nun genau bedeuten mag.

Liest sich wie Quatsch, aber der Mann ist gut

Wenig mit Spiritualität zu tun hat seine Absage einer Inszenierung am Hamburger Thalia Theater, die aktuell für Empörung in den sozialen Medien und der deutschen Presse sorgt. Die Süddeutsche spricht gar von einem „Empörungs-Orkan“. Der Grund dafür liegt in der Begründung seiner Absage, die für viele der Aufgeregten unverkennbar rechten Stallgeruch hat.

Für Hermanis ist das Thalia Theater neuerdings ein „Refugees-Welcome-Zentrum“. Und er möchte nicht mit dem „humanitären Engagement für Flüchtlinge“ des Theaters in Verbindung gebracht werden. Er sei sich sogar sicher, dass seine Haltung nicht „radikaler ist, als diejenige einer Mehrheit von Europäern.“ Man teile einfach „den Enthusiasmus hinsichtlich offener EU-Grenzen und unkontrollierter Einwanderung nicht.“ Explizit in der Rolle des lettischen Staatsbürgers führt er weiter aus, dass man vor allem im Osten Europas diese Euphorie rund um die Refugees schlecht verstehen würde. Für ihn sind die Zeiten einer Political Correctness vorbei, begründet Hermanis sein politisches Coming-Out – eines, das ihn jetzt weit abseits des kulturellen europäischen Mainstreams stellt.

Man darf übrigens annehmen, dass ihm, hätte er seine Kritik geäußert, ohne gleichzeitig das Engagement aufzukündigen, das Hamburger Thalia Theater selbst mit einer einseitigen Auflösung des Vertrages zuvorgekommen wäre.

Nun ist der Lette an sich in Europa immer noch ein Exot. Wenig mehr als zwei Millionen Menschen leben dort am Rande der Brüsseler Gemeinschaft. Noch dazu mit einer großen russischen Minderheit, und also einer Menge etablierter ethnischer Probleme. Um nun zu verstehen, was den Regisseur umtreibt, macht es Sinn zunächst einmal nach Riga zu schauen, seinen Geburts- und Arbeitsort. Dort, in der europäischen Kulturhauptstadt von 2014 ist er schon seit 1993 für das Neue Theater Riga tätig.

Ein Anruf in der lettischen Hauptstadt bei einer der damaligen Kulturhauptstadt-Verantwortlichen zeigt zunächst, dass die Absage Hermanis‘ an das deutsche Theater samt folgendem Shitstorm auch in Riga bereits für Schlagzeilen sorgte. Unsere Gesprächspartnerin hat auch die vielen Kommentare unter den Artikeln in der deutschen Presse gelesen. Sie bemerkt gleich zu Beginn des Gesprächs, ihr sei aufgefallen, dass die Leser erstaunlicherweise „zu 99 Prozent die Haltung des Regisseurs teilen würden“ und fügt süffisant an, es gäbe da wohl in Deutschland „eine Differenz zwischen Presse und Volk“. In Riga wüsste übrigens fast jeder, wer der Regisseur sei, erklärt sie, aber nur wenige dieser Leute hätten schon eines seiner Theaterstücke gesehen. Das Neue Theater wäre zwar fast immer ausverkauft, aber einfach viel zu klein.

Der Lette macht nicht, was der Deutsche will. Gemein.

Unsere Gesprächspartnerin weiß über Hermanis, dass dieser überhaupt nicht die Neigung hätte, ständig seine politische Meinung zu äußern. Aber wenn er es täte, dann dürfe man sicher ein, dass eine tiefe emotionale Bewegtheit dahinter stecke. Man kenne ihn in Riga als Menschen, der sich wenn, dann „immer klar, deutlich und gradlinig“ äußern würde. So sei beispielsweise seine negative Haltung gegenüber dem früheren lettischen Präsidenten ein Grund dafür, dass er wohl den wichtigsten Staatsorden Lettlands nicht angenommen hätte. Erwähnenswert sei außerdem, das Hermanis nach der Krimkrise alle seine Theater-Engagements in Russland abgesagt hätte.

Befürchtet Hermanis, dass zum lettisch-russischen Konfliktpotenzial nun mit der Einwanderung ein noch Unkontrollierbareres hinzukommen könnte? Das also zwei Fronten entstehen würden, zwischen denen sich die lettische Ethnie aufreiben könnte? Ist der Weg von der ethnischen Selbstbestimmtheit zur rassistischen doch kein so großer dort oben am Rande der europäischen Welt, so nah dran am knurrenden russischen Bären? Nein, denn wenn es ein Volk über die Jahrzehnte der Unterdrückung gelernt hat, seine Identität so sensibel wie möglich feinzujustieren, dann wohl das lettische, erklärt die Dame von der Kulturhauptstadt-Riga-2014.

Die Abgrenzung zum russischen Teil der Bevölkerung mag zwar vorhanden sein. Und man spürt es besonders dann, wenn man mit dem Flugzeug in Riga landet und zunächst mit dem russischstämmigen Taxifahrer ein paar Kilometer eine Ostblock-Plattenbau-Ödnis entlang fahren muss, bevor man an der neuen Bibliothek – diesem stahlglänzenden Monolithen – vorbei über die Düna, dem lettischen Schicksalsfluss fährt. Aber dann leuchtet am anderen Ufer schon das alte herausgeputzte Riga. Eine Hauptstadt, die sich, was ihre Attraktivität betrifft, heute mühelos neben beispielsweise eine Elbstadt Dresden aufstellen könnte.

Ja, die Heimat von Alvis Hermanis ist tatsächlich ein polierter Diamant am Rande einer kulturellen Steppe. Und wer seine empörte Haltung gegenüber einer deutschen Flüchtlingspolitik verstehen will, die wohl aus seiner Sicht die Theaterspielpläne penetriert, der muss erst einmal dieses Europa selbst begreifen. Der muss verstehen, was die Menschen vor allem an den Außengrenzen der Gemeinschaft umtreibt. Der sollte sich einmal von der deutschen Selbstzentriertheit befreien und zum echten Europäer emporwachsen. Wer das aber unterlässt, der darf sich auch nicht über eine so scharfe Unterlassungsklage wundern, wie sie nun Alvis Hermanis geäußert hat.

Man darf also gespannt sein, ob sich die Thalia-SPD auf dem kommenden Bundesparteitag lieber um eine Neudefinition des Trans*menschen kümmern möchte, oder so nebenbei auch um eine Analyse der Befindlichkeiten der europäischen Nachbarn. Wie man dann allerdings mit der Erkenntnis umgeht, das Europa nicht überall in Europa als neues Refugees-Welcome-Zentrum betrachtet wird, ist eine ganze andere Frage.

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