Große Worte, große Ziele – aber jetzt müssen Taten folgen

Radikaler Richtungswechsel in der Energieversorgung, massive Aufrüstung der Bundeswehr: Regierung und CDU/CSU im Konsens, die Linkspartei verurteilt Russlands Angriff auf die Ukraine, zieht aber keine Konsequenzen und die AfD gibt der Bundesregierung eine Mitschuld.

IMAGO/Future Image

Wer die Sondersitzung des Bundestages zur Gesamtlage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verfolgt hat, musste tatsächlich daran zweifeln, ob er wirklich das richtige TV-Programm eingeschaltet hat. War das wirklich der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz? Waren das wirklich die Vertreter der Grünen, die sich da einhellig für die Stärkung der Bundeswehr und die sofortige Umsetzung des 2%-Zieles des Bruttosozialprodukts für die Verteidigung aussprachen? Ebenso wie aus einer anderen Welt klangen die Töne zur Energiepolitik. So gut wie alles schien mit einmal wieder möglich zu werden.

Da soll nicht nur eine Kohlereserve angelegt, sondern auch die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen durch eine breite Diversifizierung der Energieversorgung beendet werden, einschließlich des Exports großer Mengen an Flüssiggas. Ja, sogar von einer völlig neuen Energiepolitik ist die Rede. Die Deutschen erlebten eine Situation, als ob eine Gruppe von Ärzten einem Patienten, dem sie bisher etwas von einem Sonnenbrand erzählt haben, eröffnen müssen, dass es sich um schwarzen Hautkrebs handelt. Überraschend auch die Einigkeit der staatstragenden Parteien in Regierung und Opposition – was war da geschehen?

Recht und Freiheit verspielt
Nach Putin und dem Schaden durch zwei Bundeskanzler: Wohin, Deutschland?
Quasi über Nacht wurde die deutsche Politik aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Die eisige Kälte der Realität ist über uns alle hereingebrochen. In den letzten Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde mehr und mehr der Wunsch nach Harmonie und friedfertigem Handel mit der ganzen Welt zur Triebfeder deutscher Politik. Die Wahrheit war zu unangenehm, als dass man sie zur Kenntnis nehmen wollte. Die Entwicklung eines aggressiven und militanten Nationalismus im Denken des 19. Jahrhunderts wurde schlicht ignoriert. Mehr noch – immer wieder fanden sich genügend Stimmen, die Verständnis für das Verhalten des Kremls zeigten und die Schuld für dessen Eskapaden im Westen selbst suchten. Daran konnten weder die gewaltsamen Landnahmen in Georgien noch in der Ukraine etwas ändern. Besorgte Hinweise der noch jungen Demokratien in Osteuropa wurden mit einem noch bestehenden Trauma aus deren Geschichte begründet, welches heute aber die Beziehungen zu Russland gefährde. Insbesondere Deutschland unternahm alles, die Integration der neuen NATO-Mitglieder in die Strukturen des Bündnisses zu verlangsamen. Die Folge davon waren Überlegungen in den USA, entsprechende Sonderabkommen mit Polen, Ungarn und vor allem mit den Baltischen Staaten abzuschließen. Erst dann lenkte die Regierung Merkel ein. Und wieder war es Berlin, dass 2008 die Aufnahme der Ukraine in die NATO auf dem NATO-Gipfel in Bukarest verhinderte.

Doch auch die Erkenntnisse der eigenen Nachrichtendienste wurden einfach ignoriert. Nachweisbar informierte der Bundesnachrichtendienst in bestimmten Zeitabständen das Bundeskanzleramt immer wieder über die massive Aufrüstung der russischen Armee und entsprechende Umstrukturierungen, die die Angriffsmöglichkeiten aller Waffengattungen extrem ausbauten. Das Gleiche gilt für das Bundesamt für Verfassungsschutz, das nicht nur einmal auf die intensive Zunahme der russischen Spionagetätigkeit gegen die Bundesrepublik aufmerksam machte. All diese Studien verschwanden auf Anweisung der Kanzlerin und veranlasst durch die jeweiligen Chefs des Kanzleramts unbeachtet in den Panzerschränken des Hauses. Es ist davon auszugehen, dass nach so einem radikalen Kurswechsel wie jetzt eine Diskussion über die Versäumnisse der Vergangenheit beginnen muss. Dazu müssten dann auch Fragen zur Arbeit der Nachrichtendienste gehören. Unangenehme Überraschungen sind schon jetzt so gut wie sicher!

Land der Parolen
Die Rationalität des Westens verschwindet in einem schwarzen Loch
Ganz zu schweigen vom Zustand der Bundeswehr. Offen musste in diesen Tagen von oberster Stelle der Bundeswehr eingeräumt werden, dass die Armee des Landes zurzeit nicht in der Lage ist, ihren Auftrag des Grundgesetzes zur Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland wahrzunehmen. Wie hohl muss da im Nachhinein das Gerede von mehr Souveränität und Mitsprache in der Welt von einem Land klingen, dass sich nicht einmal selbst gegen Dritte zu wehren vermag. Die Abschaffung der Wehrpflicht gehört ebenso zu den Ursachen, wie die allgemeine Nachlässigkeit im Umgang mit der Truppe. In der Öffentlichkeit versteckt man sie am liebsten, von Auslandseinsätzen zurückkehrende Einheiten sind nicht einmal der Begrüßung wert und die von unseren Partnern in aller Welt hochgeschätzten KSK-Spezialeinheiten kommen nicht wegen ihrer tapferen Einsätze im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus ins Rampenlicht, sondern höchstens bei dem Verdacht rechtsradikaler Umtriebe in der Truppe. Hinzu kommt, dass 2011 die Anweisung der Bundesregierung an das Verteidigungsministerium kam, die Streitkräfte nur noch auf Auslandseinsätze vorzubereiten. Auf die Möglichkeit, dass auch das deutsche Kernland einmal einer militärischen Bedrohung ausgesetzt werden konnte, kam gar niemand. Und wenn es mal so käme, so mag man gedacht haben, werden die Verbündeten, also die USA, das schon richten.

Darüber hinaus muss nüchtern und wertfrei festgestellt werden, dass eine Gesellschaft, die sich die Feminisierung aller Bereiche auf ihre Fahnen geschrieben hat und Attribute soldatischer Tugenden betonter Männlichkeit als „toxisch“ diffamiert, zur bewaffneten Landesverteidigung eine im besten Fall distanzierte Beziehung haben kann. Das gilt nicht nur für die Funktionärsschicht der SPD und der Grünen, sondern auch für die nicht wenigen verbliebenen Merkel-Erben in der CDU. So dominieren bei der einstigen Kaderschmiede der Union, der Konrad-Adenauer-Stiftung heute Schwerpunkte wie Umweltschutz, Klimakatastrophe, ökologische-nachhaltige Marktwirtschaft und Genderpolitik. Die Auseinandersetzung mit autoritären und totalitären Lehren und Staaten fristet – wenn überhaupt – ein Nischendasein. Wenn dies schon bei einer vermeintlich konservativ-liberal-christlichen Organisation der Elitenbildung der Fall ist, muss man nach anderen Einrichtungen gar nicht mehr suchen. Das radikale Umsteuern, erzwungen durch einen brutalen Angriffskrieg der russischen Oligarchie, steht in direktem Gegensatz zum gesellschaftlichen Bewusstsein in großen Teilen der Bevölkerung und auch der Medien. Es kommt einem so vor, als gäbe die politische Führung einen erlebten Schock ungefiltert an die Bevölkerung weiter.

Der Westen muss zu sich selbst finden
Zeit für Ernsthaftigkeit: Was zu tun ist
So löblich die Beschlüsse auch sind, wobei die Einigkeit zwischen Regierung und der größten Oppositionspartei CDU/CSU hervorzuheben ist, so muss sich diese in den nächsten Wochen und Monaten erst noch beweisen. Eine erste Nagelprobe könnte die angekündigte Verankerung eines Bundeswehr-Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro im Grundgesetz sein. Dazu ist nämlich eine 2/3 Mehrheit im Parlament erforderlich.

Nichts Neues kam gestern von den Parteien Die Linke und AfD. Die SED, die sich zurzeit Die Linke nennt, verurteilte zwar mit drastischen Worten Putins Angriffskrieg, zog aber daraus keinerlei Konsequenzen für das Verhalten der Bundesrepublik. Die AfD ging noch einen Schritt weiter, indem sie die Bundesregierung für mitverantwortlich für die Massaker am ukrainischen Volk erklärte. Auch sie habe die Sicherheitsbedürfnisse Russlands (ehrlicherweise müsste es der feudalen Oberschicht heißen) nicht ausreichend berücksichtigt. Diese Argumentation wirkt umso absurder, als Deutschland erst jetzt dazu bereit ist, der bedrängten Ukraine Defensivwaffen zur Verfügung zu stellen. Bisher genügte man sich durch 5.000 Helme und Verbandspäckchen als Zeichen der Solidarität.

Auf jeden Fall erlebte der Bundestag eine der in seiner Geschichte im Sinne des Wortes „historischen Debatten“, die es seit denen zur Westintegration und Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und den Ostverträgen in den 50er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr gab. Der Wegweiser für die nahe Zukunft wurde aufgestellt. Der Weg selbst muss jetzt allerdings erst noch tatsächlich beschritten werden.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 86 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

86 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Innere Unruhe
2 Jahre her

Liebe TE-Redaktion, ich würde gerne wissen, wie die aktuelle Politik mit den Wahlprogrammen der Parteien übreinstimmt. Haben wir für die Aufrüstung der BW gestimmt? – Nicht dass ich das schlecht finde, aber welche Parteien wollten das? Haben wir für die Verlängerung des KKW-Betriebs gestimmt? – Welche Parteien wollten das? Welche Optionen in der Migrationspolitik standen im Herbst zur Wahl? – Stimmt die aktuelle Migrationspolitik mit den Wahlprogrammen überein? Mich beschleicht ein Gefühl der Beliebigkeit in der Politik. Beständigkeit und Schwurtreue sind Werte, die unabhängig von der politischen Überzeugung Bestand haben. Die Parteien sind es ihren Wählern schuldig, die Politik zu… Mehr

Return
2 Jahre her

Dieser Kommentar ist einfach ein Zeugnis für analytische Schwäche des Autors. Einerseits kritisiert er einige Verfallserscheinungen und linksgrüne Transformationen der Gesellschaften (Feminisierung aller Bereiche und Dämosierung von Männlichkeit) anderseits beklagt er auf Seiten Russland, die „die Entwicklung eines aggressiven und militanten Nationalismus im Denken des 19. Jahrhunderts“ und übernimmt damit wieder linke Narrative – „Nationalismus“ ist böse. Die Wahrheit ist, dass genau das Verschwinden und Kriminalisierung dieses vermeintlich rückständigen „Nationalismus“ in Deutschland ein Grund dafür ist, warum Deutschland sich im Prozess der nationalen Selbstabschaffung befindet. Gleichzeitig sieht er den Feind bei der einzig verbliebenen konservativen Großmacht Europas – nämlich Russland,… Mehr

christin
2 Jahre her

In den 70ger Jahren des letzten Jahrhunderts, habe ich meine Söhne zu Wehrdienst Verweigerern erzogen, somit das Beste was ich tun konnte und in weiser Voraussicht das Wertvollste was ich zustande gebracht habe nicht für die Verteidigung einer fragwürdige Freiheit am Hindukusch zu opfern. Damals war ich im Meinungsspektrum auf der Höhe der Zeit.

Mausi
2 Jahre her

Es wird nichts geschehen in D. Die Ukraine ist nicht das Ende der Fahnenstange. Irgendwann könnte D sich als Spielball wiederfinden, nicht nur auf der Ersatzbank, sondern im Fokus auf dem Spielfeld, wo der Ball rabiate Tritte einstecken muss.

eschenbach
2 Jahre her

Lassen Sie sich nicht täuschen! Für die Grünen samt Anhang liefert der Ukrainekonflikt einen willkommenen Vorwand zum Ausbau der „Erneuerbaren“ und zur moralischen Diskriminierung aller, die dagegen sind. In der Realität des Absahnens sind die Grünen und ihre Wähler längst angekommen; und um eine andere geht es nicht!

Manfred_Hbg
2 Jahre her

Nun ja, die 100 Mrd Euro für die Modernisierung der BW ist richtig und war schon längst überfällig.! DOCH bevor man nun ans Überlegen und Geld ausgeben herangeht, sollte zuvor aber erst einmal ein Verteidigungsminister gesucht werden, der im Gegensatz zum Frau Lambrecht(SPD) über Erfahrung und Wissen von dem Job verfügt.

Britsch
2 Jahre her
Antworten an  Manfred_Hbg

Bevor man großzügig Geld verspricht und ausgibt sollte man zuerst einmal überlegen wo es her kommt und wie Diejenigen die es aufbringen müssen das schaffen. Das aber was interessiert Diejenigen, die es ausgeben schon wie es Denen geht, die es aufbringen müssen. Bevor man einen „Haufen“ geld in Bestehendes pumpt und erweitert, sollte man auch erst einmal das Bestehende überhaupt in der Griff bekommen und auf Fordermann bringen. Geld z.B. für Schwangerengerechten Aufbau / Ausstattung von Panzern, oder Manöver mit Besenstielen statt Gewehren, da man nicht genug Gewehre hat ist ja wohl einn Witz. Genauso wenn man Bundeswehrangehörige, die noch… Mehr

Gunda49
2 Jahre her
Antworten an  Manfred_Hbg

Ich bin ganz Ihrer Meinung! Hintereinander 3 unbedarfte Frauen als Verteidigungsminister halte ich schon lange für absurd. Kein Wunder, dass die Bundeswehr in einem desolaten Zustand angekommen ist. Eine Ostfrau mit Funktionärsausbildung in der FDJ zur Bundeskanzlerin zu wählen, war gleichfalls gelinde gesagt naiv.

Innere Unruhe
2 Jahre her
Antworten an  Manfred_Hbg

Man sollte sich auch überlegen, an welcher Stelle das Geld eingespart werden soll.
Bei der Migrantenaufnahmen hieß es, niemandem werde etwas weggenommen. DA muss sich die Politik auch heute noch daran halten.

Manfred_Hbg
2 Jahre her

Wenn man in diesem Fall von „Kriegswaffen“ spricht, dann sollte man aber auch schon unterscheiden zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen.
Denn läßt man einen bewaffneten Aggressor schalten und walten wie er will, braucht es nun mal eine Verteidigungswaffe um ihn damit zu stoppen weil es sonst weitaus mehr Tote geben könnte.

Monostatos
2 Jahre her

Solche Sätze wie „Die Entwicklung eines aggressiven und militanten Nationalismus im Denken des 19. Jahrhunderts wurde schlicht ignoriert.“, sehe ich als unreflektiert an. Was ist mit dem Expansionismus der zutiefst undemokratischen EU, die die demokratischen Mitgliedsstaaten und ihre Bürger mittels bürokratischer Winkelzüge entmündigen will? Was ist mit dem offensichtlichen Expansionismus der NATO? Warum wurde Trump, der die kriegerischen Aktivitäten der USA reduzierte, derart unsachlich in Misskredit gebracht? Kaum war Biden da, ging das Zündeln und Säbelrasseln wieder los. Wenn man derart eindeutig NATO-Versteher ist, sollte man nicht Andere als Putin-Versteher bezeichnen, die nur wünschen, das Zustandekommen einer derart gefährlichen Lage… Mehr

Biskaborn
2 Jahre her

Interessanter Abriss der BT Debatte. Allerdings kann ich dem Autor nicht in allen Punkten folgen. Lindner hat verdeutlicht wohin die neue Energiepolitik gehen soll, noch schnellerer Ausbau der alternativen Energiequellen. Damit will man Putin in die Knie zwingen! Daran ändert auch eine Kohlereserve nichts. Die Bundeswehr soll 100 Mrd. Euro bekommen. Was sie bekommen müsste, wäre erst einmal einen kompetenten Verteidigungsminister! VS und BND sollen auf den Prüfstand, ja, vermutlich aber im verstärkten Kampf gegen Rechts. Zuletzt, natürlich hat der Westen massiv Mitschuld am jetzigen Einmarsch der Russen in der Ukraine. Das wegzudiskutieren ist vermessen!

Sonny
2 Jahre her

„Und wieder war es Berlin, dass 2008 die Aufnahme der Ukraine in die NATO auf dem NATO-Gipfel in Bukarest verhinderte.“
Sehr geehrter Herr Gafron, bedeutet dieser Satz für Sie also, dass es richtig ist, die Vereinbarungen und Pakte nach dem zweiten Weltkrieg einfach so mißachten zu dürfen?
Ich finde es ehrlich gesagt nicht überraschend, dass eine der Großmächte von damals stinksauer darüber ist, wenn diese Pakte dauernd von anderer Seite gebrochen werden.