Wenn der Staat Leben sortiert

Einem rechtsstaatlich versierten Menschen muss Angst und Bange werden: Schon in der Corona-Zeit fiel Markus Söder durch autokratische Reflexe und teils rechtswidrige Maßnahmen auf. Nun setzt er auf dem Parteitag einen Satz ab, den er in sozialen Medien ohne Kontext verbreitet – mit unheilvollem Subtext und erneut fragwürdigem Rechtsstaatsverständnis.

picture alliance / SvenSimon | Frank Hoermann

„Im Zweifel ist das Leben eines Polizisten wichtiger als das eines Schwerverbrechers.“ Markus Söder sagte diesen Satz auf dem CSU-Parteitag – und hielt es für eine gute Idee, ihn anschließend ohne jeden Kontext in den sozialen Medien zu verbreiten. Kein erklärender Zusatz, kein rechtlicher Rahmen, keine Einordnung. Nur dieser eine Satz. Nackt. Roh. Wirksam.

In der Sache ist der von ihm gepostete Satz banal. Natürlich darf sich ein Polizist verteidigen. Natürlich darf der Staat tödliche Gewalt einsetzen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, eine akute Gefahr abzuwehren. Das ist gesetzlich geregelt – und dafür braucht es keinen Parteitag, keinen Applaus und erst recht keine Social-Media-Inszenierung.

— Markus Söder (@Markus_Soeder) December 12, 2025

Warum also diese Formulierung?

Weil es hier nicht um Recht geht. Sondern um Sprache. Und um Macht.

Der Satz funktioniert nicht juristisch, sondern emotional. Er teilt die Welt in zwei Rollen: hier der Polizist, dort der Schwerverbrecher. Der eine Ordnung, der andere Bedrohung. Und dazwischen kein Graubereich, kein rechtsstaatlicher Rahmen, kein Nachdenken. Das Wort „wichtiger“ erledigt die Arbeit. Es setzt eine Rangordnung, ohne sie begründen zu müssen.

Genau das macht die Aussage problematisch. Denn der Rechtsstaat lebt davon, dass er gerade keine Wertigkeit von Leben kennt. Das ist kein sentimentales Ideal, sondern sein Fundament. Der Staat darf Gewalt anwenden, um Gefahren abzuwehren – aber er darf nicht entscheiden, wessen Leben mehr zählt. Wer diesen Unterschied verwischt, mag Beifall bekommen, verlässt aber das Terrain der Verfassung. Dass ein Ministerpräsident das tut, ist kein Ausrutscher. Es ist eine bewusste Entscheidung.

Wie dieser Satz funktioniert – Dogwhistle und Social-Media-Waffe

Der Satz von Markus Söder funktioniert wie ein Dogwhistle – er wird also je nach Publikum unterschiedlich verstanden.

Juristisch ausgebildete Personen werden auslegen, dass dieser Satz so nicht gemeint sein kann. Emotional Angesprochene hören eher, dass endlich mal einer sagt, was Sache ist. Das ist keine Aufklärung, die Söder hier betreibt, das ist astreines Affektmanagement. Das ist furchtbare Polemik. Das ist Spaltung.

Rohe Sprache ist im politischen Betrieb kein Unfall, sondern ein Werkzeug. Hier funktioniert sie als moralischer Schlagstock. Sie signalisiert Härte, Entschlossenheit, Nähe zum vermeintlichen „gesunden Menschenverstand“. Sie ist anschlussfähig an Wut, Angst und das Bedürfnis nach klaren Fronten. Gerade in Zeiten, in denen Politik zunehmend als moralisches Theater funktioniert, sind solche Sätze ideal: kurz, emotional, teilbar – Social-Media-geeignet.

Dass Markus Söder diesen Satz ohne Kontext postet, ist zentral und zeigt auf, wie er Social Media einsetzt: als Waffe. Seine Aussage ist für diese Medien perfekt gebaut. Besonders wichtig: Sollte dennoch Kritik an seiner Aussage kommen, dann werden viele emotionalisierte Empfänger dagegenhalten, weil er ja mit seiner Aussage völlig recht habe.

Selbst juristisch Gebildete könnten Kritiker abwehren, indem sie auf die völlig klare Rechtslage verweisen und auch darauf, dass Söder nichts anderes damit gemeint haben könne. Dass Söder diesen Satz als Werkzeug für seine politische Inszenierung nutzt und wie tief dieser Satz mit seiner Rohheit in die Gesellschaft wirken wird, werden viele nicht thematisieren.

Der „Schwerverbrecher“ als Projektionsfläche

Der „Schwerverbrecher“ ist dabei keine reale Person. Er ist eine Projektionsfläche. Ein Symbol für alles, was draußen gehalten werden soll. Ihm Würde abzusprechen, kostet nichts – im Gegenteil, es bringt Applaus. Und genau hier liegt der Kern des Problems: Die Entmenschlichung geschieht nicht offen, sondern suggestiv. Nicht durch Gesetzesänderungen, sondern durch die Worte eines Ministerpräsidenten.

Ein Ministerpräsident müsste erklären, dass der Rechtsstaat stark ist, gerade weil er nicht unterscheidet. Dass Polizisten geschützt werden, nicht weil ihr Leben mehr wert ist, sondern weil sie im Auftrag des Staates Gefahren begegnen. Dass Rechtssicherheit nicht aus Härte entsteht, sondern aus Klarheit.

Stattdessen bekommen wir den Gestus des starken Mannes. „Ich sage, was Sache ist.“ Das mag auf Parteitagen funktionieren. Es mag in sozialen Netzwerken Reichweite erzeugen. Staatsmännisch ist es nicht. Denn wer so spricht, verabschiedet sich von der Idee, dass Sprache Verantwortung trägt. Er ersetzt Präzision durch Pose. Und er gewöhnt sein Publikum daran, Menschen nicht mehr als Träger von Rechten zu sehen, sondern als Rollen mit unterschiedlichem Wert. Und hier zeigt Söder bedenkliche Parallelen zu seinem Verhalten während der Pandemie.

Was er macht, ist keine neue Technik. Law-and-Order-Rhetorik funktioniert seit Jahrzehnten nach demselben Muster. Erst wird vereinfacht, dann polarisiert, dann moralisch aufgerüstet. Der Staat erscheint stark, weil er nicht mehr erklärt, sondern urteilt. Und wer widerspricht, steht schnell auf der falschen Seite.

Beunruhigend ist weniger der Satz selbst als seine Normalisierung. Wenn politische Führung beginnt, Würde rhetorisch zu relativieren, verschiebt sich der Maßstab. Was gestern noch als Tabubruch galt, gilt heute als „klarer Kurs“. Rechtsstaatliche Zurückhaltung wird als Schwäche verkauft, Differenzierung als Zaudern. So verliert der Staat nicht auf einen Schlag seine Prinzipien. Er redet sie kaputt.

Dass Markus Söder diesen Satz ohne Kontext postet, ist deshalb kein Kommunikationsfehler. Es ist die Botschaft. Der Kontext würde stören. Er würde zeigen, dass der Satz juristisch überflüssig und politisch unerquicklich ist. Also lässt man ihn weg.

Was am Ende bleibt

Am Ende bleibt eine unbequeme Frage: Was sagt es über einen Ministerpräsidenten aus, wenn er glaubt, mit der Hierarchisierung von Leben punkten zu müssen? Vielleicht dies: dass er dem Rechtsstaat nicht mehr zutraut, aus sich selbst heraus zu überzeugen. Und dass er lieber mit Emotionen arbeitet als mit Argumenten.

Das ist kein Zeichen von Stärke. Es ist ein Armutszeugnis für politische Führung. Die CSU-Delegierten wissen um diese Schwäche, weshalb Söder mit seinem bisher schlechtesten Ergebnis von 83,6 Prozent zum Vorsitzenden wiedergewählt wurde.

Anzeige

Unterstützung
oder