„Hau ab!“-Rufe für Merz und Haseloff in Magdeburg

Ein Jahr nach dem schweren Terroranschlag in Magdeburg. Merz und Haseloff wollen für die Kameras routiniert das politisch hohle Betroffenheitsprogramm abspulen. Begleitet werden sie dabei von lauten „Hau ab“, „Pfui“ und „Lauf weiter“ Rufen der Magdeburger. Die Menschen haben genug von dieser politischen Selbstinszenierung.

picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Magdeburg hat dem Kanzler gestern nicht den roten Teppich ausgerollt, sondern den Spiegel hingestellt. Als Friedrich Merz zum Gedenken an den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auftauchte, kam aus der Menge das, was man in Berlin sonst nur als „Stimmung“ abtut: „Hau ab“, „Pfui“ und der Satz, der jede Inszenierung zerlegt: „Lauf weiter, wir wollen dich hier nicht.“

Der Anlass ist nicht irgendein Termin im Kalender, sondern ein Massaker, das sich eingebrannt hat. Am 20. Dezember 2024 raste Taleb al Abdulmohsen mit einem gemieteten BMW über den Weihnachtsmarkt. Ein neunjähriger Junge und fünf Frauen zwischen 45 und 75 Jahren starben. 309 Menschen wurden verletzt, teilweise lebensgefährlich.

Was die Bild über den Prozess berichtet, die kaum erträglichen Zeugenaussagen, die erschütternden Schilderungen aller Folgen ein Jahr nach dem Anschlag, für Betroffene, für Hinterbliebene, sollte sich jeder einmal ganz genau durchlesen, um das Leid, um den Zorn, um das Befinden der Magdeburger zu begreifen. Ein nicht enden wollender Alptraum, der sich an jedem Tag fortsetzt. Aller Wut, aller Zorn, verbreitet sich allerspätestens hiernach weit über die Grenzen der Stadt hinaus.

Und dann läuft das wieder bewährte Programm an, das in Deutschland nach jeder solchen Terrortat zuverlässig abgespult wird. Politiker reisen an, die den Menschen im Land diese Zustände zuhauf eingebrockt haben und die einen Teufel tun, diese Zustände wieder zum Besseren zu verändern, sondern sie im Gegenteil immer weiter verschärfen, Jahr um Jahr. Sie reisen in gepanzerten Limousinen an, nicht alleine in einer S-Bahn oder per Bus. Sie sind umgeben von einem Tross an Securities – anders trauen sie sich nicht mehr unter ihr Volk – den sich kein normaler Mensch für seine täglichen Gänge von A nach B leisten kann. Sie schweben herein, umgeben von Kameras der Öffentlich Rechtlichen und der gewogenen Begleitpresse, erzählen etwas von Betroffenheit und schweben wieder raus. So wiederholt sich dieses unwürdige Schauspiel seit vielen Jahren immer und immer wieder. Und die Menschen sind es müde. Sie sind dem überdrüssig. Ihresgleichen wird in Momenten ausgelassener Heiterkeit auf Weihnachtsmärkten umgemäht oder auf Festen der Vielfalt wie in Solingen und anderen Volksfesten regelrecht abgeschlachtet. Von einem ganzen Haufen Securities und schützenden Berliner Mitte Blasen himmelweit entfernt.

In der Johanniskirche spricht Merz dann davon, dass die Tat selbst Weihnachten 2025 überschattet. Die Bundesregierung stehe an der Seite der Betroffenen, heute und in Zukunft. Trost, Zuspruch, die großen Worte. Als rhetorische Zugabe dann der Satz, der wie Verständnis klingen soll: Auch Wut und Zorn müssten ihren Platz haben.

Ja. Wut und Zorn sind da. Nur nicht als Dekoration für Reden. Sie sind das Ergebnis davon, dass nach jedem „Nie wieder“ wieder nichts passiert, was die Dinge wirklich dreht. Dass die Politik das Entsetzen verwaltet wie einen Tagesordnungspunkt. Betroffenheit rein, Konsequenz raus. Haseloff setzt die zweite Schicht Lack darüber: Man kapituliere nicht vor dem Terror, man lebe das eigene Leben und die Traditionen weiter. Der Weihnachtsmarkt finde auch dieses Jahr statt, als wichtiges Zeichen. Das klingt standhaft. Es ist aber auch die bequemste Botschaft der Welt: weitergehen, weiterreden, weitermachen.

Nur: „Weiter so“ ist längst nicht mehr nur ein Gefühl, es ist messbar. Laut BAMF wurden von Januar bis November 2025 106.298 Asylerstanträge gestellt. Sechsstellig, wieder. Und laut Auswärtigem Amt wurden 2025 bis Ende November 101.756 Visa zum Familiennachzug erteilt. Ebenfalls sechsstellig. Während Abschiebungen in großem Umfang ausbleiben, Gefährder auch weiterhin im Land verbleiben, in Moscheen zu Anschlägen aufgerufen werden kann, die nur anhand Hinweisen von ausländischen Nachrichtendiensten noch verhindert werden können. Denn der deutsche Verfassungsschutz schützt schon lange nicht mehr die Bürger vor externen Bedrohungen, sondern die Regierung vor aufmüpfigen Regierungskritikern.

Das ist der Kern der Bitterkeit, die in „Hau ab“ steckt: Oben nicht enden wollende Sonntagsreden über Schutz, Würde, Zusammenhalt. Hohles Gewäsch. Unten laufen die Prozesse, Strukturen und Entscheidungen, als hätte es Magdeburg nie gegeben. Das Land soll einen Moment trauern, aber bitte nicht folgern. Und selbst das „Wir lassen uns das Leben nicht nehmen“ ist inzwischen eine Phrase mit Betonrand. Weihnachtsmärkte finden vielerorts nur noch unter massiven Sicherheitsauflagen statt, wenn man sich die Maßnahmen überhaupt noch leisten kann: Zufahrtssperren, Poller, Beton, mehr Polizei, mehr Kameras, mehr Regeln. Städte und Veranstalter berichten über explodierende Anti Terror Kosten, mancherorts werden Märkte sogar abgesagt, weil die Schutzmaßnahmen finanziell nicht mehr zu stemmen sind.

So sieht „Tradition weiterleben“ 2025 aus: Weihnachtsstimmung hinter Barrieren. Und Politik hinter Textbausteinen. Und die Menschen, gerade im Osten, haben davon genug und genug.

Magdeburg hat gestern etwas ausgesprochen, was in den offiziellen Reden sorgfältig umschifft wird. Dass Worte billig geworden sind. Dass Trost, der nichts ändert, nur ein weiterer Teil des Problems ist. Und dass „Wut und Zorn“ nicht um Erlaubnis fragen müssen, wenn die Politik ihnen seit Jahren jeden Grund liefert.

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