Die „Financial Times“ zerlegt den deutschen Sozialstaat

Während Merz fordert, nicht „so larmoyant und wehleidig zu sein“ und alles übermäßig zu kritisieren, greift die Auslandspresse den ausufernden deutschen Sozialstaat auf. Die Financial Times wundert sich über den hohen Anteil erwerbsfähiger und ausländischer Bürgergeld-Bezieher. Beim Rentensystem schreibt sie von „Zeitbombe“.

picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) beim 17. Bundesmittelstandstag der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), Köln, 26.09.2025

Es ist nicht nur eine rhetorische Frage, die die Londoner „Financial Times“ (FT) soeben in ihrer Ausgabe vom 27. September 2025 stellt: „Can Germany afford its €1.35tn welfare state?” Gemeint sind die 1,35 Billionen Euro, also die 1.350.000 Millionen Euro, die Deutschland in den Sozialstaat („welfare state“) pumpt: in Sozialleistungen, zum Beispiel Bürgergeld, Krankenkassen, Renten, Pensionen, usw.

„Die Kosten für Gesundheit und Altenpflege steigen schneller als die Inflation, während die Wirtschaft seit mehr als drei Jahren stagniert“, fasst die FT zusammen. Der deutsche Sozialstaat sei zu einem der größten der Welt angewachsen. Er mache 31,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus – FT dazu: „ein Rekordwert“! (Ergänzung: Es ist kein ganz neuer Rekordwert, denn die 30-Prozent-Grenze wurde erstmals 2020 mit 32,5 Prozent überschritten).

Dilemma der Bundesregierung
Bürgergeld ist der Mühlstein am Hals der schwarz-roten Koalition
Verwundert schreibt die FT über das Bürgergeld: „5,5 Millionen Menschen beziehen es, drei Viertel gelten als arbeitsfähig!“ Fast die Hälfte der 47 Milliarden Euro jährlich gingen an Ausländer. Dann rechnet die FT vor: „Ein nicht erwerbstätiges Paar mit zwei Kindern (5 und 14 Jahre) erhält 2754 Euro im Monat – nur 660 Euro weniger, als ein Elternteil in Vollzeit mit Mindestlohn verdienen würde.“

Wie schief inzwischen die Finanzierung ist, zeigt ein weiteres Beispiel aus dem FT-Artikel: Während Arbeitgeber und Arbeitnehmer bereits hunderte Milliarden ins Rentensystem zahlen, „musste der Staat 2024 weitere 118 Milliarden zuschießen“. Die FT schreibt ferner von der „Zeitbombe“ der alternden Gesellschaft: „Bis 2036 gehen 16,5 Millionen Babyboomer (Jahrgänge 1954–1969) in Rente, während nur 12,5 Millionen junge Arbeitnehmer nachrücken.“ Eine „Zeitbombe“!

Ist all das eine neue Erkenntnis?

Es ist gar nicht so lange her, da hat der britische Politologe Anthony Glees Deutschland attestiert, es präsentiere sich – es war Herbst 2015 – als „Hippie-Staat, der nur von Gefühlen geleitet werde“. Glees sagte das damals mit Blick auf die ausgeuferte „Willkommenskultur“, die von Millionen Deutschen, nahezu allen Parteien, Kirchenfürsten, Sozial-, Asyl- und Migrationsverbänden, NGOs und dergleichen euphorisch begrüßt wurde. Deutschland kommt seither nicht mehr aus dem Krisenmodus heraus, feiert sich aber im Mainstream mit Hochämtern zum 10. Jahrestag der autistischen Grenzöffnung der damaligen Kanzlerin Merkel.

„Leiche Deutschland“
Der einstige Wirtschaftsmotor im Abschwung – Bloomberg: „Scholz scheitert“
„Hippie-Staat“? In die gleiche Richtung geht der US-Branchendienst Bloomberg. Er zeichnet im Februar 2024 in einem Beitrag unter dem Titel „Germany’s Days as an Industrial Superpower Are Coming to an End“ ein düsteres Bild über die Lage der deutschen Wirtschaft. So schreiben die Autoren, dass die Produktionsleistung in Europas größter Volkswirtschaft seit 2017 rückläufig sei, sich der Rückgang beschleunige, die Wettbewerbsfähigkeit nachlasse.

Folgende Probleme nennt Bloomberg konkret: marode Infrastruktur; alternde Erwerbsbevölkerung; Überbürokratisierung; defizitäres Bildungssystem. Noch nicht eingegangen ist Bloomberg allerdings auf das hausgemachte Energiedesaster, das viel mit der Abschaltung der Kernkraftwerke zu tun hat. Eine Maßnahme, die kaum ein anderes Land der Welt exekutierte. Im Gegenteil: Weltweit werden zig neue Reaktoren gebaut.

Folge: Die deutschen Strompreise lagen 2024 mit 39,4 Cent pro Kilowattstunde 37 Prozent über dem europäischen Durchschnitt von 28,7 Cent. Strom war hierzulande fast doppelt so teuer wie in den Niederlanden [21,6 ct]. Laut europäischer Statistik zahlten deutsche Stromkunden auch 59 Prozent mehr als ihre Nachbarn in Polen mit 24,8 Cent und 34 Prozent mehr als die privaten Stromkunden in Frankreich mit 29,3 Cent.

Ernst & Young (EY): Over 100.000 jobs lost

Nachfolgend geben wir im Original die Analyse von „Ernst & Young“ vom 20. August 2025 wieder. EY gehört zu den vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Welt („Big Four“). Wörtlich liest man dort:

„In 2024 alone, over 100,000 jobs have been lost in its industrial sector. Since 2019, a total of 217,000 jobs have disappeared. EY’s Managing Partner Jan Brorhilker warns that another 70,000 jobs could be lost by the end of 2025 … But it’s not just about jobs: Germany’s reputation has long been built on world-class precision engineering — from cars to complex machinery. But global dynamics are shifting fast. Countries like the US and China are leapfrogging ahead in: Technological innovation. Clean energy transition … While Germany did not! Germany is grappling with a declining work ethic. Average working hours: ~34 hours/week — Yes, Germany has among the lowest average work hours in the OECD. It also has high sick leave and generous vacation policies.“

Macht Deutschland auf „Morgenthau 2.0“?

Deutschland scheint auf „Morgenthau“ zu machen. US-Finanzminister Henry Morgenthau? Dessen Plan war im August 1944, ein Dreivierteljahr vor dem absehbaren Ende des Krieges, das Deutsche Reich nach dem Sieg der Alliierten in einen Agrarstaat ohne militärische Potenz umzuwandeln. Es sollte alle Industrie demontiert werden; wo das nicht möglich war, wollte Morgenthau sie zerstören lassen. Es war ein Programm, das weit über die Auflagen des Versailler Vertrages von 1919 hinausging. US-Präsident Franklin D. Roosevelt verwarf den Entwurf.

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Boshaft könnte man sagen: Deutschland braucht für eine solche Entwicklung keinen Plan von außen. Das erledigen wir selbst, allen voran taten das die Merkel- und Scholz-Kabinette. Das Merz-Kabinett fügt sich offenbar hier nahtlos an.

Während das Ausland über Deutschland besorgt ist und den Sozialstaat kritisiert, fordert Merz in einer Rede vor der Mittelstandsunion (MIT) am Freitagabend, wo er sich laut Bild in Rage redet, nicht von innen heraus alles im Übermaß zu kritisieren. Er sagte dort: „Hören wir doch mal auf, so larmoyant und so wehleidig zu sein in diesem Land.“ Das Glas sei nicht halb leer, das Glas sei halb voll.

Gerade in der Mittelstandsunion sind viele verärgert über die schleppenden Verhandlungen über Reformen des Sozialstaats, vor allem beim Bürgergeld. „Es wirkte fast so, als habe er von den Kritikern in den eigenen Reihen, die eine härtere Gangart im Umgang mit der SPD fordern, in gewisser Hinsicht die Nase voll“, so Bild.

Doch kritisiert Kanzler Merz einmal in einem Anfall von Restmut den ausufernden Sozialstaat, wird er sofort von der SPD-Co-Vorsitzenden und Sozialministerin Bärbel Bas abgekanzelt: Merz’ Kritik sei „bullshit“. Wenige Stunden später ist wieder Friede, Freude, Eierkuchen. Man setzt sich auf ein Bier zusammen und duzt sich jetzt.


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Kommentare ( 56 )

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hansgunther
2 Monate her

Jeder Tag, an dem die Irrsinnspolitik Preiserhöhungen, höhere Steuern und Abgaben sowie Leistungskürzungen jeder Art propagiert, macht alles sichtbar und spürbar. Diese Tage werden uns voranbringen. Denn ein Blick ins leere Portemonnaie ist wirksamer als jede Propaganda oder Wahlrede. Das Loch im Portemonnaie wurde von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP aufgerissen, wider besseres Wissen. Aus Dummheit und Ideologie gespeist! Der tumbe Wähler braucht hier Nachhilfe, die bekommt er jetzt. Zur Krönung ist es ausgerechnet ein ungelernter Finanzminister der SPD, Klingbeil, der als Zauberlehrling jetzt mit Zahlen jonglieren soll, die leere Staatskassen wiederbeleben sollen. Denn die unselige Schuldenaufnahme kann die ganze… Mehr

Manfred_Hbg
2 Monate her

Zitat: „Wenige Stunden später ist wieder Friede, Freude, Eierkuchen. Man setzt sich auf ein Bier zusammen und duzt sich jetzt.“

> Tja, eine Krähe hackt der anderen Krähe eben kein…..!

Memphrite
2 Monate her

Überall im Westen sieht es doch ungefähr genauso aus, oder? GB hat sogar noch höhere Strompreise, ist vollkommen deindustrialisiert, hat eine Schuldenquote von 100% stark steigend, hat Arbeitslosigkeit, Migrationsprobleme und ein ausufernden Sozialstaat. Außerhalb von London ist es eine 3. Welt Wirtschaft. Frankreich: Siehe oben nur mit noch mehr Schulden, Migration und Sozialstaat, dafür niedrigere Strompreise und etwas mehr Industrie. Italien, Spanien etc sehen etwas besser aus, da sie ca. über 200 Mrd durch die EU-Coronahilfen geschenkt erhalten haben. Aber das wird auch bald weg sein, ansonsten die selben Probleme wie oben USA eine exorbitante Verschuldung und stark steigend, dazu… Mehr

ceterum censeo
2 Monate her

2754€ mit zwei Kinder wären 660€ weniger als ein Elternteil mit Mindestlohn in Vollzeit? Da dürfte die FT sich irren: ein Elternteil Vollzeit (154h im Monat) mit 12,82€ Mindestlohn macht 1975€ (plus Kindergeld, abzüglich Sozialabgaben). Warum dann noch arbeiten gehen?
Er sagte dort: „Hören wir doch mal auf, so larmoyant und so wehleidig zu sein in diesem Land.“ Das Glas sei nicht halb leer, das Glas sei halb voll. Ihnen, Herr Merz, sei es ins Gebetbuch geschrieben: Optimismus ist ein Mangel an Fakten. SIE haben offensichtlich jede Menge Optimismus…

Last edited 2 Monate her by ceterum censeo
Mikmi
2 Monate her

Da überlegen Politiker, die erste Pflegestufe abzuschaffen, oder Rentner mit 10% mehr Steuern zu belegen? Warum gibt es keinen Bürgerrat, die könnten dann die letzte Diätenerhöhung rückgängig machen, dann würden die Pensionäre auch gleich ein wenig entlastet werden? Oder die Ukrainehilfe auf dem Prüfstand kommen, oder Krankenkassen geben nur noch eine Grundversorgung für Leute, die dort nie eingezahlt haben? Warum meinen Politiker über unsere Kassen zu entscheiden?

Juergen P. Schneider
2 Monate her

Der Lügenbaron aus dem Sauerland interessiert sich nicht für Politik, er will nur Kanzler sein und die Welt bereisen. Darin ist er der Dorfkommunistin aus der Uckermark sehr ähnlich. Die desaströsen Zustände im Land sind nicht allein den inkompetenten Pseudoeliten des links-grünen Altparteienkartells zu verdanken, sondern vor allem auch ihrer naiven und denkfaulen Wählerschaft. Stand heute ist die Mehrheit ausweislich ihrer Wahlabsichten sehr zufrieden mit dem allgemeinen Niedergang. Dieses Land ist nicht mehr zu retten, weil eine große Mehrheit seiner Bürger offenkundig gar nicht gerettet werden will.

Fritz Mueller
2 Monate her

Merz vor der Mittelstandsunion: „Wir brauchen in diesem Land Menschen, die anpacken und dieses anpacken auch mit Zuversicht verbinden und diese Zuversicht auch nach draußen tragen, hören wir doch mal auf, so larmoyant und so wehleidig zu sein“.
Er wünscht sich mehr US-amerikanischen Spirit, was ihn an Amerika immer begeistert habe.
Dabei vergisst er offensichtlich, dass die Amerikaner einen Trump und einen Vance haben, wir in Deutschland aber mit Merz und Klingbeil geschlagen sind.

Hutschnur
2 Monate her

…..Dann rechnet die FT vor: „Ein nicht erwerbstätiges Paar mit zwei Kindern (5 und 14 Jahre) erhält 2754 Euro im Monat – nur 660 Euro weniger, als ein Elternteil in Vollzeit mit Mindestlohn verdienen würde.“…. Aktuell liegt der Mindestlohn bei knapp 13 Euro. Hiermit ist ein maximaler Bruttolohn von 2200 Euro zu erreichen. Kindergeld für 2 Kinder rund 500 Euro. Können die bei der FT nicht rechnen?

Britsch
2 Monate her

Als erstes müßte mal richtig gestellt werden, daß so genannte Sozialversixcherungen, wie der Name Versicherung sagt Geld der Versicherrten sprich Geld Derer ist die auch etwas einbezahlt habenn z.B. Rentenversuicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung.. Dieses Geld nur für Dioejenigen verwendet die auch etwas einbezahlt haben und es wäre gleich ganz anderst und es würde auch hervortreten wer die Kosten verursacht Überhaupt sollte es wieder so sein, daß Einnahmen der eigentliche Bestimmung gemäß verwendet werden, z,B. KFZ und Mineralölsteuer für den Bau und Unterhalt von Straßen, und nicht für Anderes. Auch nicbt für Radwege, nicht im Inland und vor Allem nicht im Ausland,… Mehr

gmccar
2 Monate her
Antworten an  Britsch

Hier geht es doch um Geldwäsche. Weiterleiten zu irgendwelchen Offshore-Konten.

Biskaborn
2 Monate her

Auch der Mittelstand ist doch viel näher an Merz und seinen Freunden bei den Linken und Grünen, als an der Wirklichkeit und Realität. Ein klein wenig kritisieren, das war es dann, ansonsten, Klima, Energiewende, Kampf gegen Rechts, Vielfalt, Rassismus usw. sind denen unterwürfig wichtiger als ihre Unternehmen, ansonsten würden die anders auftreten!