Deutsches Gasproblem, italienisches Gasproblem: Die Geschichte zweier Länder

Italien ist nach Deutschland der zweitgrößte Gasimporteur der EU. Traditionell ist Erdgas einer der wichtigsten Energieträger. Ein Gasnotstand besteht dennoch nicht. Was hat Rom anders gemacht als Berlin?

IMAGO / Milestone Media
Das Flüssigerdgas-Terminal LNG Adriatic vor der norditalienischen Küste von Porto Viro

Deutschland ist nicht das einzige Land, das von Gas abhängig ist. Italien war schon vor der deutschen Energiewende ein EU-Land mit hohem Gasverbrauch. Die Gasabhängigkeit von Russland betrug vor dem Ukraine-Krieg knapp 40 Prozent. Doch aus Rom hört man derzeit wenig von Panik und Gasnotfallplänen. Im Gegenteil: Schon Ende Juni sagte die Regierung, dass die Gefahr einer Energiekrise „fast vorbei“ sei. Denn anders als Deutschland hat Italien seine Gasabhängigkeit als das realisiert, was sie ist, und sie nicht als „Brücke“ verkauft. Schwächen durften in der deutschen Energiewende, die Windräder und Solaranlagen in den Vordergrund stellte, nicht vorkommen.

Das führte dazu, dass man in Deutschland das Gasproblem immer als eine überbrückbare „Übergangsphase“ ansah und nie als mittel- oder gar langfristiges Problem. Auch für das Markenzeichen Energiewende wäre es weniger von Vorteil gewesen, ausgerechnet Erdgas, das eine imminente Rolle spielt, als Ausweis grüner Energiesicherheit zu verkaufen. Mit der Vertröstung auf eine ferne, ungewisse Zukunft, in der Gaskraftwerke auf Wasserstoff umgebaut und das „Netz als Speicher“ dienen sollte, entledigte man sich der Kritik. Unvergessen die Antwort von Staatssekretär Jochen Flasbarth auf die Frage nach der Grundlast: Man werde eben „moderner“ und „smarter“ werden, als man sich das heute (2019) vorstellen könnte.

Das ressourcenarme Italien musste sich früh mit seiner Gasabhängigkeit auseinandersetzen

Deutschland sieht sich gerne als ressourcenarmes Land. Doch für Italien trifft das noch viel deutlicher zu. Von den deutschen Kohlegruben kann man südlich der Alpen nur träumen. Auch der Uranreichtum hält sich im Vergleich zu Deutschland in engen Grenzen. Ohne Frage: Auch für Deutschland ist die Förderung (noch?) nicht lukrativ. Aber Berlin macht diese Fragen zu Luxusproblemen, während sie sich für Italien gar nicht erst stellen. Wegen dieser geografischen Beschränkungen hat Italien sehr früh auf Erdgas als bedeutendsten Energieträger gesetzt. 43 Prozent beträgt der Anteil bei der Nettostromerzeugung. Erdgas ist dabei auch deswegen eine Option, weil im Mittelmeer immer noch bedeutende Reserven schlummern.

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Dass diese bis auf einige große nordadriatische Bohrstellen ebenso wie die Ölreserven kaum angezapft werden, hat Gründe, die denen in Deutschland ähneln: ökologische Bedenken, Bürgerproteste, negative Referenden. Anders als Deutschland ist Italien jedoch auch ein Touristenmagnet. Die Bewohner an der Küste haben weniger die ökologischen Schäden im Blick als ihre eigene Existenz, sollte auf den Bohrstellen etwas schiefgehen und die Strände betroffen sein. Es ist also nicht so, dass auch die italienischen Regierungen nicht mit Widerständen in der Bevölkerung und mit Lobbys zu tun gehabt hätten. Eine der Folgen ist, dass der teilstaatliche Energiekonzern ENI nicht auf italienischer, sondern auf libyscher und kroatischer Seite nach Öl und Gas bohren lässt.

Während in Deutschland die Energieabhängigkeit als eine unhinterfragte Schicksalsfügung hingenommen wurde, gewissermaßen als kleines Übel, das man nun einige Jahrzehnte auszuhalten hätte, war die italienische Reaktion eine ganz andere. Spätestens 2003, als das ganze Land wegen einer gekappten Stromleitung vom Saft aus dem Ausland abgeschnitten war, musste Rom bewusst geworden sein, dass eine Energieabhängigkeit alles andere als „modern“ oder „smart“ war, sondern ein Übel, dessen schlimmste Konsequenzen man abmildern musste. An der Konstante, dass Italien vom Ausland abhängig ist, hat sich wenig geändert. Aber es hat durch strategische Entscheidungen die Zukunft gestaltbarer gemacht, um Bedrohungen der Versorgungssicherheit flexibel entgegentreten zu können.

Ein Erdgasland muss Pipelines und LNG-Terminals bauen – statt auf die grüne Zukunft zu vertrösten

Dazu gehört der Ausbau eines Pipeline-Netzes. Rund 90 Prozent des in Italien verwendeten Gases muss importiert werden. Unter der Regierung von Silvio Berlusconi wurde von 2003 bis 2004 eine Erdgasleitung (Greenstream) nach Libyen verlegt. Die Regierung plante eine zweite afrikanische Pipeline (GALSI), von Algerien über Sardinien auf das italienische Festland; das Projekt wurde jedoch nicht weiterverfolgt. Ebenfalls aus der Amtszeit Berlusconis stammt die Idee der Transadriatischen Pipeline, die den süditalienischen Stiefel mit Albanien und Griechenland und über die türkische, transanatolische Pipeline mit Aserbaidschan verbindet. Sie wurde von 2015 bis 2020 gebaut.

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Ähnlich verfolgte Italien auch eine Flüssiggasstrategie. Stand 2022 stehen dem Land drei LNG-Terminals zur Verfügung. Das erste davon ging 2009 in Betrieb – es handelt sich um eine Offshore-Anlage in der Nähe von Porto Levante in der nördlichen Adria. In der aktuellen Krise haben sie bei der Diversifizierung von Erdgasimporten eine wichtige Bedeutung. Ähnlich wie Deutschland hat auch Italien in Katar angefragt, mehr Erdgas zu importieren. Im Gegensatz zu Deutschland kann es aber solche Deals auch direkt umsetzen. Dasselbe gilt für die Entscheidung Italiens, mehr Gas aus Aserbaidschan und Algerien zu importieren, obwohl beide Länder als mit Moskau verbündet und damit als unsichere Partner gelten; im Falle Aserbaidschans muss man sich zudem fragen, ob man damit nicht den nächsten Krieg gegen Armenien mitfinanziert. Doch anders als Deutschland konnte Italien in wenigen Monaten seine Gasimporte aus Russland so vermindern, dass das Land dem Winter gelassen entgegensehen kann – weil nicht die kurzfristigen Entscheidungen, sondern langfristige Strategien in der Energiepolitik zählen.

Die Regierung Scholz kann ihr Gasproblem dagegen nicht lösen. Die zentralen Entscheidungen hätte man dafür nicht im März 2022, sondern vor Jahren treffen müssen. Neue Pipelines, neue Gasbohrstellen, neue Gastanker und LNG-Terminals entstehen nicht über Nacht. Wer mit Gas handelt, muss Jahre vordenken. Man kann strategische, langfristig getroffene Fehlentscheidungen nicht über wenige Monate revidieren. Die deutsche Energiestrategie zeichnet sich dadurch aus, dass es keine deutsche Gasstrategie gab. Für die deutsche Gasstrategie war Moskau verantwortlich. Die deutschen Regierungen nach Helmut Kohl haben nie verstanden, dass Energiepolitik, Außenpolitik und Sicherheitspolitik einen Dreiklang bilden.

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Dies war auch der Grund, warum die Italiener zusammen mit Spaniern und Franzosen den Griechen im Konflikt um Erdgasfelder in der Türkei Kriegsschiffe zuschickten, um die eigenen Interessen zu wahren. In der deutschen Debatte wird der Krieg um Ressourcen stets ausgeklammert: „Kein Blut für Öl“, lautet der Slogan. Doch Deutschland ging damals noch einen Schritt weiter: Nicht nur, dass es den Griechen als EU-Mitglied keine Solidarität zukommen ließ, es inszenierte sich als „Mediator“ zwischen Ankara und Athen und setzte seine seit dem Deutschen Kaiserreich bestehende turkophile Außenpolitik fort. Der „Club Méditerranée“ mag bei den deutschen Steuerzahlern wenig angesehen sein, er weiß aber wenigstens, wer seine strategischen Verbündeten sind – auch in Energiefragen.

Die hiesigen Medien haben bis heute weder verstanden noch berichtet, was diese Fehlentscheidung in Rom, Madrid, Paris und Athen ausgelöst hat. Es war das Pendant zum Unmut der Osteuropäer, allen voran Warschaus, dass sich Deutschland vor den Augen der Welt in die Abhängigkeit des russischen Gases gab, ohne die Konsequenzen einer solchen einseitigen Politik zu erkennen. Nicht zu Unrecht wird der von der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen konzipierte „Green Deal“ in einigen süd- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten als Europäisierung der deutschen Energiewende betrachtet. Statt den Realismus aus dem EU-Ausland zu importieren, exportiert Deutschland seine Utopie.

Nein, die italienische Energiepolitik ist nicht perfekt – ganz im Gegenteil. Aber es geht im Kern nicht um eine deutsche oder italienische Energiepolitik, sondern eine unvernünftige und eine vernünftige. Italien hat die schlechten Karten, die es vor 20 Jahren hatte, halbwegs vorteilhaft gespielt. Deutschland hat dagegen die Joker, die es hatte, ohne Not aus der Hand gegeben. Wer von der Gasspritze abhängig ist, muss seine Abhängigkeit einsehen – und Alternativpläne entwickeln, statt sich selbst mit dem grünen Label zu betrügen.

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Kommentare ( 29 )

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Stefferl
1 Jahr her

 Es war das Pendant zum Unmut der Osteuropäer, allen voran Warschaus, dass sich Deutschland vor den Augen der Welt in die Abhängigkeit des russischen Gases gab, ohne die Konsequenzen einer solchen einseitigen Politik zu erkennen.

Das halte ich für falsch. Die Polen und die Ukrainer hatten sich lediglich darüber geärgert, daß sie bei der Inbetriebnahme von Nordstream II keine Durchleitungsgebühren mehr kassieren können. Manchmal ist das sehr einfach.

Wilhelm Roepke
1 Jahr her

Der Deutsche träumt einfach gerne seine Utopie. Das lässt er sich nicht nehmen.

Deutscher
1 Jahr her

Ist doch ganz einfach: Der ganze Moralismus ist für den A***h! Es hätten doch alle, die jetzt die „Abhängigkeit von Putins Gas“ – ich nenne es schlichtweg Liefervertrag – lautstark beklagen, schon immer auf dieses Gas verzichten können. Hat aber auch niemand getan. Deswegen diese Moraldebatte, wie alle anderen auch, Heuchelei. In der industrialisierten Welt mit ihren weltweiten Märkten ist eben jeder von jedem ein Stück weit „abhängig“. Nicht zuletzt waren es doch gerade die Wirtschaftsfreundlichen, die die Globalisierung mit Macht vorantrieben: Neue Märkte, noch mehr Profit! Überhaupt: Was heißt schon „abhängig“? Bin ich etwa auch von meinem Bäcker „abhängig“,… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Deutscher
thinkSelf
1 Jahr her

Es ist doch viel einfacher. Der gemeine Deutsche will aus rätzelhaften Gründen unbedingt wieder zurück ins Mittelalter (da braucht man kein „Gas“), während der Durchschnittsitaliener das dann doch irgendwie doof finde.

Marcel Seiler
1 Jahr her

Danke für diese Klarstellungen. Das deutsche Volk hat über Jahrzehnte Politiker gewählt, denen die langfristige Zukunftssicherung des Landes sch…egal war und die sich stattdessen, mit Beifall aller, auf das Malen schöner, grüner Visionen verlegten.

Es ist kein Zufall, dass der Wirtschaftsminister jetzt ein Kinderbuch-Autor ist – der weiß eben, wie man mit völlig infantilen Wählern reden muss, wenn man gewählt werden will.

Last edited 1 Jahr her by Marcel Seiler
Dunkelsachse
1 Jahr her

Deutschland hat Pipelines und hätte auch genügend Gas, wenn es nur wöllte. Wer aus Haltungsgründen auf jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas zusätzlich freiwillig verzichtet, kann keinen Gasnotstand haben. Die Probleme bei Nord Stream 1 sind sanktionsbedingt, also weitere Eigentore. 6 oder gar 7? von 8 Verdichtern sind nicht einsatzbereit bzw vor Ort. „Die von den deutschen Behörden vorgelegten Dokumente berühren in keiner Weise die Möglichkeit der Reparatur und Wartung durch Siemens Energy in Bezug auf andere Turbinen“, heißt es bei Gazprom.Die Überholung anderer Turbinen sei aber „von entscheidender Bedeutung, um den normalen Betrieb“ der Pipeline wiederherzustellen. Seit April stehe bereits… Mehr

WGreuer
1 Jahr her

Deutschland, einig DeppenStaat. Sorry, ich muss es so hart formulieren.

F. Jung
1 Jahr her

Das „deutsche Gasproblem“ besteht aus NS2, und das Problem wurde am 30.7.2020 im Deutschlandfunk von einem sogenannten deutschen „politischen Schwergewicht“ ganz eindeutig benannt: Das ist eine Frage unserer Energieversorgung. Ich habe mit größtem Befremden in den letzten Tagen gesehen und gehört, wie die amerikanische Regierung jetzt ihre Sanktionsandrohungen gegenüber europäischen Firmen, auch zum Teil gegenüber Personen, die daran beteiligt sind, verschärfen. Das ist ein europäisches Projekt und hier geht es um unsere Energieversorgung, und ich will das mit aller Entschiedenheit zurückweisen, dass die Amerikaner auf diese Art und Weise sich hier in innereuropäische Angelegenheiten einmischen. Sie sind jederzeit frei, auch… Mehr

Last edited 1 Jahr her by F. Jung
Alrik
1 Jahr her
Antworten an  F. Jung

Natürlich ist amerikanisches Flüssiggas die einzige Alternative zu Nordstream I & II.
Die geplante Nabucco-Pipeline die Erdgas aus dem kaspischen Meer über die Türkei, Bulgarian, Rumäninen & Ungarn nach Österreich (und von da aus an andere mitteleuropäische Länder) bringen sollte wurde ja nicht umgesetzt.
Warum eigentlich? Damit wäre Europa viel weniger abbhängig von russischen Gas.

Michael M.
1 Jahr her
Antworten an  Alrik

Dass dieses Flüssiggas aber um ein Vielfaches teurer ist scheint Ihnen entgangen zu sein.
NS II in Betrieb zu nehmen wäre die einzige sinnvolle Aktion, die aber wohl mit den Grünen wohl kaum zu machen ist, denn die sehnen den deutschen Untergang ja geradezu herbei.

Ingolf
1 Jahr her

Italien und Deutschland … mir fällt da nur das Zitat „Über Italien lacht die Sonne, über Deutschland die ganze Welt“ ein …

elly
1 Jahr her

was ist noch der Unterschied zu Italien? Dank Wiederaufbaufond und UvdLs green deal „Italien: Steuervorteile von 110 % für energetische SanierungenFür die Baubranche gibt es in Italien seit 2020 spektakuläre Steuervorteile für Wärmedämmung und Heizanlagen von Wohnungen. Für deutsche Unternehmen ergibt sich somit auch ein interessanter Markt für Anbietern von Wärmeverbundsystemen. Für diese Maßnahmen ist ein Steuervorteil von 110 % vorgesehen, welcher selbst vom Bauherrn genutzt werden oder an Banken oder Lieferanten abgetreten werden kann. D.h. speziell Mehrfamilienhäuser haben derzeit größtes Interesse Wärmedämmungen vorzunehmen da die entsprechenden Kosten der italienische Staat mehr als für 100 % übernimmt.“ https://www.exportberatung.de/italien-steuervorteile-von-110-fuer-energetische-sanierungen/ https://www.dolce.de/news/artikel/superbonus-110-einmalige-gelegenheit-das-haus-in-italien-auf-kosten-des-staates-zu-sanieren/ „Die… Mehr