Der lange Schatten des Konzils

Zwischen „Bruch“ und „Kontinuität“ ringt die Kirche 60 Jahre nach Vaticanum II härter denn je um ihr Selbstverständnis – und um die Frage, ob Reform Rettung bedeutet oder Ursache der Krise ist.

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Papst Paul VI. bei einer öffentlichen Zeremonie des Zweiten Vatikanischen Konzils im Petersdom am 28.10.1965

60 Jahre liegt das Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils zurück. Dass ein solches Jubiläum Aufmerksamkeit erregt, hängt damit zusammen, dass es noch zahlreiche Zeitzeugen gibt – weniger als Teilnehmer, denn als Zuschauer und Leser dieses weltweit verfolgten Medienereignisses. Würde die Presse den Schluss des Ersten Vatikanischen Konzils in derselben Weise aufziehen? Oder gar des Trienter Konzils?

Mit dem Wegsterben der Gestalter und Teilnehmer des 2. Vatikanums liegt die Interpretation der Beschlüsse in der Hand der Nachfolger. Das Ringen um die Deutungshoheit geht dabei schon seit dem Pontifikat von Papst Franziskus in eine neue Runde. Mit Papst Benedikt saß ein Gelehrter auf dem Thron, der das Konzil selbst miterlebt und theologisch begleitet wie geprägt hatte.

Der Versuch, das Konzil als eigentliche Zäsur der katholischen Geschichte einzuordnen – das Ende des „mittelalterlichen“ Papsttums datiert demnach auf das Jahr 1965 – war zwar allzeit virulent. Eine ganze Reihe von Theologen und Intellektuellen, die einen „zeitgemäßen“ Katholizismus wünschten, sahen sich bereits als Zeitzeugen von Demokratisierung, von Partizipation und progressiven Reformen im Sinne einer materialistischen Weltanschauung, wie sie die Aufklärung eingeführt hatte. Sie interpretierten die Texte jeweils in ihrem Sinne.

Diese „Hermeneutik des Bruchs“ will die 1900 Jahre Kirchengeschichte zuvor als „überwunden“ ansehen. Für sie ist die Kirche nach 1965 etwas Neues, das sich aus der Vergangenheit gelöst hat. Alles kann zur Debatte stehen: selbst die Auferstehung oder die Jungfrauengeburt. Ähnlich wie die frühen Protestanten postulieren sie eine Rückkehr zur wahren, reinen Urkirche. Paradoxerweise verwirft sie religiösen „Fundamentalismus“, obwohl diese Anschauung deutlich fundamentalistischer ist als der Verweis auf die Geschichte, Tradition und Entwicklung der Una Sancta.

Benedikt XVI. hat allein durch seine Person und seine Gelehrsamkeit diese Ideologie im Zaum gehalten. Nicht die „Hermeneutik des Bruchs“, sondern die Kontinuität stand im Zentrum seiner Überlegungen. 1965 ist nichts aufgebrochen und nichts Neues entstanden. Die Kirche antwortet auf die Herausforderungen der Zeit. Das 2. Vatikanische Konzil ist nicht „das“ Konzil – so, wie es auch heute in den Medien postuliert wird – sondern eines, das sich in die Reihe der vielen Konzilien zuvor stellt. Konzilien ergänzen einander.

Neben der liberalen und der konservativen Deutung steht die traditionelle. Demnach hat das 2. Vatikanische Konzil mit seinen vagen Formulierungen, seiner rigorosen Liturgiereform und der Aufhebung von Traditionen tatsächlich für eine Verwirrung gesorgt, die die Autorität Roms und den Glauben des Volkes geschwächt hat. Das Konzil war nicht Ausweg, sondern Einbahnstraße in die gegenwärtige Krise. Die Positionen reichen von Kritik an der Liturgiereform bis hin zur völligen Negierung des Konzils.

Bemerkenswert ist, dass das liberale wie das traditionelle Lager sich in der Bruch-These einig sind. Diese Interpretation ist heute entscheidend. Mit der zunehmenden Machtlosigkeit und dem „Wegsterben“ der „Generation V2“ verliert die konservative Kontinuitäts-These ihre Befürworter. Der Rücktritt Benedikts ist das historische Menetekel.

Anders als Joseph Ratzinger war Jorge Mario Bergoglio nicht beim Konzil. Ihn prägte auch keine theologische Strömung des Konzils; sie war jesuitisch und lateinamerikanisch beeinflusst. Das Desinteresse an der Theologie des 2. Vatikanums hat dazu geführt, dass die Gegensätze größer geworden sind. Insbesondere die Liberalen hatten daher die trügerische Hoffnung, nun umsetzen zu können, was sie in den 1960er und 1970er Jahren nicht geschafft hatten.

Trotz eines turbulenten Pontifikats mit zahlreichen „Verwirrungen“ im Stile des Konzils – Johannes XXIII. hatte mit der Öffnung eines Fensters „frischen Wind“ in die Kirche bringen wollen, Franziskus forderte junge Leute dazu auf, „Lärm“ zu machen –, bleibt das theologische Erbe des argentinischen Papstes überschaubar. Die Ächtung der Todesstrafe und die Knebelung der „Alten Messe“ bleiben – aber selbst letztere könnte von seinem Nachfolger noch abgemildert werden, wie immer wieder gemunkelt wird.

Seine Bedeutung bezieht das Konzil daher nicht so sehr aus seinen Beschlüssen, sondern aus den daraus abgeleiteten Grabenkämpfen, die die Katholische Kirche noch tiefer durchziehen als damals. Es ist tatsächlich in der Hinsicht eine Zäsur, als dass der Bruch heute deutlicher geworden ist als die Kontinuität. Mit historischem Abstand wird deutlich, dass offenbar zahlreiche Konzilsväter sich nicht der vollständigen Tragweite des Unterfangens bewusst waren – zumindest nicht in „kirchenpolitischer“ Sicht.

Bezeichnend für beide Strömungen der „Bruch-These“ ist dabei ein Hang zur Einheitlichkeit. Bei der traditionellen Sichtweise ist diese klar, sie orientiert sich an der prä-konziliaren Zeit. Weitaus interessanter ist der Umgang der liberalen Interpretation mit Andersdenkenden. Während Toleranz bei Themen wie Frauenpriestertum, Homo-Segnungen oder der Transideologie eingefordert wird, zeigt sie sich ähnlich wie ihr politisches Pendant höchst intolerant gegenüber dem „Eigenen“, das heißt der katholischen Traditionen vor 1965. Die Aversion gegen alles Überbordende, Überflüssige, ja „Dekadente“ ist Markenzeichen von Puritanern jeder Couleur. Während man einerseits Dialog fordert, werden andererseits ideologisch Andersgefärbte rücksichtlos aussortiert.

Das wird besonders deutlich beim deutschen Synodalen Weg, der sich einerseits auf die Ideen und den „Geist“ des Konzils berufen hat, um die Kirche zu „reformieren“, aber zahlreiche Vertreter ausschloss oder mit Nichtbeachtung strafte, wenn sie etwa auf der Lehre bestanden oder Gruppen repräsentierten, die nicht in das Weltbild der Veranstaltung passten. Der Weg war vorgegeben, der Rest sollte folgen. Das „Um-sich-selbst-Kreisen“ der Kirche, ohne das Fußvolk mitzunehmen, war bereits beim Konzil selbst eine unangenehme Erscheinung: Ob die Gläubigen tatsächlich die Volkssprache wollten, wurde gar nicht gefragt. Man ging davon aus, dass dies gewünscht sei, weil es „offener“ war.

Der italienische Schriftsteller Giovannino Guareschi, der Vater von Don Camillo und Peppone, hat als damaliger Zeitzeuge und konservativer Katholik das Konzil bereits als abgehobene Intellektuellenveranstaltung kritisiert, die mit großen Reden und großen Ideen daherkommt – ohne Bezug zur Volksfrömmigkeit. Die „Entrümpelung“ der Kirchen war von oben verordnet. Die einfache italienische Landbevölkerung hing dagegen am heiligen „Klimbim“. Populäre Heilige wie etwa Katharina von Alexandria wurde aus dem Heiligenkalender gestrichen wegen mangelnder historischer Beweise. Auch das erinnerte den Italiener an die Reformation, die keine Volksbewegung war, sondern ein Projekt von intellektuellen Kirchenreformern.

Ein weiterer Punkt, der außerhalb Italiens wenig rezipiert wird: die Verbindung „beider Seiten des Tibers“. Was im kirchlichen Rom geschieht, tangiert auch das weltliche Rom – und andersherum. Zeitgleich mit dem Konzil formierte sich in Italien die erste Koalition aus Christdemokraten und Sozialisten. Das Konzil „öffnete“ die Kirche, gleichzeitig „öffnete“ sich die Democrazia Cristiana den Sozialisten. Für den Anti-Kommunisten Guareschi waren das keine Zufälle. DC und Kirche waren damals stark verdrahtet. Ein Entgegenkommen gegenüber links war politisch und gesellschaftlich in Italien gewollt. Der Einfluss italienischer Kardinäle in der Weltkirche war damals noch überwältigend.

Freilich wäre es verklärend, die Zeit vor dem Konzil als paradiesische Zeiten der Kirche zu bezeichnen. Das 20. Jahrhundert war das Zeitalter des Totalitarismus. In den Nachkriegsjahren orientierte man sich wieder mehr an Christus, weil die Ideologien in den Abgrund geführt hatten. Das war eine politische, keine spirituelle Entscheidung. Guareschi hatte mit „Don Camillo“ in den 1950ern großen Erfolg. Es kann aber nicht über die Oberflächlichkeit hinwegtäuschen. Christliche Verortung war in dieser Zeit eine List des Zeitgeistes. Die Kirche verließ sich zu sehr darauf. Die Gesellschaft erlebte eher das Nachklingen des 19. Jahrhunderts. Ideologie, Säkularisierung und Wohlstand hatten die Bindungen schon damals aufgelöst. Guareschi hat das bereits in diesen Jahren diagnostiziert, während andere sich Illusionen hingaben.

Das Konzil wollte deswegen populäre Priester wie Don Camillo. Es bekam abgehobene Theologen. Guareschis bekannteste Schöpfung zelebrierte dagegen bis zum Schluss die Alte Messe. Die Kirche hat viele alte Matrosen verprellt, ohne zugleich neue an Bord zu holen. Ähnlich wie die Patina der 1950er Jahre die um sich greifende Gottlosigkeit Europas übertünchte, und erst in den 1960er Jahren deutlich wurde, bringt auch der Tod des Jahrhundertpapstes Johannes Pauls II. und des Philosophen Benedikts XVI. die eigentlichen Probleme hervor.

Wie so häufig antwortet die Kirche erst um Jahrzehnte zeitversetzt auf akuten Herausforderungen. Das wird auch Leo XIV. bewusst sein. Sein bevorstehendes, langes Pontifikat könnte die letzte Möglichkeit sein, die Wogen zu glätten. Einer alten, liberalen Konzilsgeneration steht vermehrt eine junge, konservative Priestergeneration entgegen, die deutlich kleiner ist. Die Wahl bleibt wie schon bei Ratzinger: kleine Schar der Heiligen oder Auflösung als weltliche NGO in der Masse.


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