Zuwanderung: Es mangelt nicht an Toleranz, sondern an Vernunft

Das Problem sind weder die große Zuwanderung noch die Demonstrationen dagegen, sondern der dilettantische Umgang der Politik mit beiden. Ein Beitrag von Najib Karim.

Geostrategische Konflikte beilegen

Die Fluchtursachen, weltweite Armut, Korruption, Kriege, Diktaturen, wird man, wenn überhaupt, nicht schnell beseitigen können. Das ist eine Aufgabe mindestens einer ganzen Generation und sie ändert nichts am Recht der jetzt Lebenden, nach einem menschenwürdigen Leben streben zu dürfen. Umso wichtiger wäre es, dass die EU sich in der Ukraine und in Syrien an einer Beilegung der beiden geostrategischen Konflikte beteiligt, anstatt Mitspieler zu sein – gerade weil beide Konflikte nicht unabhängig voneinander gesehen werden können. Es reicht nicht aus, nur Frieden herzustellen, denn wie man jetzt auf dem Balkan feststellt, hilft kein Frieden, wenn man nicht auch Fabriken hinstellt. Fabriken dort bedeuten weniger Fabriken hier. Armut abbauen, heißt erstmal teilen zu lernen. Teilen bedeutet, dass man selber weniger hat. Erst im zweiten Schritt schafft man zusätzliches Wachstum an beiden Orten.

Es bliebe somit kurzfristig die dritte Alternative übrig: Hilfe für die Flüchtlinge. Hier kann man von der Geschichte lernen. Während des Jugoslawienkrieges hatte Deutschland in einem Jahr mit 350.000 Personen die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge vom Balkan aufgenommen und vier Jahre lang beherbergt. Davon sind nach dem Krieg weniger als 20.000 als besondere Härtefälle in Deutschland geblieben. Alle anderen sind von 1998 bis 2002 in ihre Heimat zurückgekehrt. Nun reden wir nicht von 350.000 Flüchtlingen, sondern der dreifachen Menge. Wir reden später über Familiennachzüge. Wir reden über eine wirkliche Wanderungsbewegung mit allen ihren Konsequenzen. In der Geschichte gibt es dafür nur Vergleichbares um das Jahr 1900 herum in den USA. 1892 haben die USA es geschafft, eine halbe Millionen Menschen über ihre zentrale Erstaufnahmestelle Ellis‘ Island aufzunehmen, ab 1900 wurden fast täglich 5.000 Personen nur in diesem einen Lager aufgenommen.

Niemand randalierte wegen der unbeheizten Schlafsäle und man aß und schlief gemeinsam zu Tausenden in einem Saal. Im Jahr 1907 erreichten über eine Million Menschen das Lager. Es ging alles, auch wenn es nach unseren heutigen Maßstäben nicht menschenwürdig war, aber das waren die Lebensbedingungen seinerzeit für fast alle nicht. Alles war eine Frage der Organisation und des politischen Willens. Die Ausgangslage war natürlich eine ganz andere.

Die amerikanische Wirtschaft dürstete nach Einwanderern, die Bundesstaaten standen im Wettbewerb um Arbeitskräfte und Einwohner untereinander, Kalifornien bezahlte Einwanderern sogar Reisekostenzuschüsse, wenn sie von New York gleich in Richtung Westküste weiterzogen. Die logistischen Herausforderungen inkl. Registrierung, Dolmetschern und Rechtsverfahren bei Einsprüchen waren jedoch bereits damals bewältigbar, wenn man den Anspruch hatte, den Menschen schnell eine Antwort zu geben und sie nicht lange menschenunwürdig auf Staatskosten zu verwahren. Der berühmte New Yorker Bürgermeister La Guardia machte sich vor seiner  politischen Karriere einen Namen als Dolmetscher und Rechtsanwalt abgewiesener Flüchtlinge. Über 100 Jahre später sind zumindest die Nationalstaaten Europas gnadenlos überfordert. Was die USA in einer einzigen Aufnahmstelle hingekriegt haben, schafft Europa nicht mal als Kontinent.

Die USA änderten ihre Politik jedoch. Um die „schwimmenden Särge“ mit denen die Wirtschaftsflüchtlinge aus Europa über den Atlantik kamen und den Zustrom auf den allmählich gesättigten Arbeitsmarkt einzudämmen, erfolgten keine Flüchtlingsaufnahmen mehr in den USA, sondern nur noch in den Herkunftsländern. Anstelle zentraler Aufnahmestellen gab es nur noch die dezentralen Botschaftsgebäude, an die sich die Flüchtlinge wenden konnten. Eine solche gesteuerte Flüchtlingspolitik erfordert jedoch die konsequente Schließung aller Außengrenzen, sonst funktioniert sie nicht. Dies ist heutzutage technisch kaum möglich, besonders, wenn man bereit ist zur Überwindung einer Grenze sein Leben zu opfern. Jede ausreichend große Menschenmasse wird jede noch so stark gesicherte Grenze überwinden können, wenn man nicht bereit ist, auf die Flüchtlinge zu schießen.

Unappetitliche Realpolitik

Damit wäre man im unappetitlichen Bereich der Realpolitik angekommen, bei der Beschäftigung gutbezahlter, brutaler Torwächter. Der Diktator Gaddafi war so einer. Für Zahlungen der EU sorgte er dafür, dass kein Afrikaner sein Land Richtung Europa verlassen konnte und wenn es doch mal einem Boot gelang, dann als Zeichen des Missmuts des Diktators gegenüber irgendeiner europäischen Entscheidung. Der Torwächter am Bosporus heißt Erdogan und weil er sich um seinen ruinierten Ruf beim Thema Menschenrechte nicht mehr scheren muss, ist er der ideale Partner für die EU bei der heiklen Aufgabe. Dies ist die Lösung, die Europas Politik anstrebt: Europa achtet wieder die Menschenwürde, behandelt die wenigen Flüchtlinge mustergültig und rechtsstaatlich und die Türkei erledigt die Drecksarbeit, über die man dann zivilisiert die Nase rümpft.

Der Diletantismus der Politik äußert sich jedoch woanders. Die eigentliche Frage, die es zu beantworten gilt, wird in unserer Demokratie nicht gestellt. Wollen wir eine stärkere europäische Integration und uns für weitere Zuwanderung öffnen? Es kann durchaus sein, dass die Mehrheit dies bejaht, aber wenn man den Menschen nicht die Möglichkeit gibt, über diese Fragen diskutieren und entscheiden zu können, werden die eventuellen Minderheiten, die nie gefragt wurden, sich ignoriert fühlen und radikalisieren. Das Erstarken der Rechten in Europa ist keine Reaktion auf die Flüchtlinge, sie ist Folge einer fehlenden Debatte über die entscheidende Frage nach der Zukunft Europas.

Damit schließt sich der Kreis, denn auch wenn der ursprünglich idyllische Zustand wieder erreicht würde, hätte das Eindringen der Fremden aufgezeigt, dass wir nicht die guten Menschen sind, für die wir uns halten. Viel schlimmer noch, angesichts der Umstände wissen wir jetzt, dass wir gar nicht die guten Menschen sein können, die wir sein wollen. Der Selbstbetrug wäre entlarvt und unsere Masken wären heruntergerissen von jenen fremden Eindringlingen, die ihre Hände Hilfe suchend nach uns ausstreckten und uns ungefragt mit den Realitäten der Welt und den Konsequenzen der globalen Außen- und Wirtschaftspolitik konfrontierten.

Über die Erkenntnis, dass ein funktionsfähiges gemeinsames Europa bislang nur ein Anspruch ohne Fundament und Identität ist, brauchen wir gar nicht erst zu reden. Daran hat wahrscheinlich jenseits der Lippenbekenntnisse ohnehin kein nationaler Regierungschef seit Mitterand und Kohl mehr geglaubt.

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