„Ihr hattet genug Zeit“ – wie die Kommunalwahlen NRW verändern könnten

Die AfD steht vor einer Verdoppelung ihrer Mandate, die Grünen vor einer Halbierung, die SPD vor einer Demütigung. Das Bundesland leidet unter einem massiven wirtschaftlichen Niedergang.

picture alliance/dpa | Oliver Berg
Wird sich Duisburgs amtierende Oberbürgermeister Sören Link (SPD) nochmal durchsetzen?

In einer Ära, die Jüngere im größten Bundesland nicht mehr kennen, übersetzten Sozialdemokraten das Kürzel NRW gern mit: „Noch regieren wir“. Damals verkörperten die Genossen die Macht an der Ruhr: absolute Mehrheit unter Ministerpräsident Johannes Rau, die Mehrheit in vielen Stadträten, SPD-Bürgermeister in den wichtigen Rathäusern. Das Ruhrgebiet nannten Parteianhänger und Journalisten gern „die Herzkammer der Sozialdemokratie“.

Heute steht diese Herzkammer fast vor dem Infarkt: In dem schwarz-grün regierten Land dümpelt die ehemals siegreiche SPD in Umfragen zur Landtagswahl gerade noch bei 18 Prozent. Und bei der bevorstehenden Kommunalwahl am Sonntag droht ihr auch noch ein guter Teil des ohnehin schmalen Unterbaus in Städten und Kreisen wegzubrechen. Besonders demütigend wirkt für Sozialdemokraten die Aussicht, dass in den alten und längst krisengeschüttelten Arbeiterstädten Gelsenkirchen und Duisburg Kandidaten der AfD im Bewerberfeld der Oberbürgermeisterkandidaten weit vorn liegen.

NRW-Kommunalwahlen
Gibt’s eine Klatsche für die etablierten Parteien?
In Duisburg tritt die blaue Partei mit Carsten Groß, 54, an, einem Energieelektriker, der aus einer Stahlarbeiterfamilie stammt. Er plakatiert: „Ihr hattet genug Zeit. Jetzt ist unsere Zeit“. In der Industriestadt unterhält Thyssen einen Standort – noch. Das Unternehmen schreibt rote Zahlen und plant, bis 2030 die Zahl der Jobs im gesamten Konzern von 27.000 auf 16.000 zu schrumpfen. Die Arbeitslosenquote in der Stadt liegt jetzt schon bei 13,2 Prozent. In einer Umfrage von Infratest dimap äußern sich nur 34 Prozent der Bürger positiv zur Qualität des Nahverkehrs, 33 Prozent zeigten sich zufrieden mit der Integration von Migranten, 32 mit der Lage am Wohnungsmarkt und nur 25 Prozent mit dem Zustand der Verkehrswege.

Trotz dieser Unzufriedenheit genießt der amtierende Oberbürgermeister Sören Link, 49, von der SPD noch relativ viel Zustimmung. Denn er spricht beispielsweise die schlechte Integration etlicher Migranten deutlicher an als viele Genossen in Berlin. Link findet auch, seine Partei sollte verständlich reden und „nicht alles von oben bis unten durchgendern“. Allerdings: Das zentrale Problem berührt er nicht: die systematische Erdrosselung der ehemals starken Industrie durch hohe Strompreise und CO2-Umlage. Die Stichwahl könnte auf ein Finale zwischen ihm und dem AfD-Bewerber Groß hinauslaufen. Allein schon die Aussicht, sich womöglich nur noch mit Hilfe einer Allparteienfront gegen den Herausforderer halten zu können, illustriert den Abstieg der SPD.

Die Grünen müssen am Sonntag mit einem regelrechten Einbruch in der Fläche rechnen. Bei der letzten Kommunalwahl erreichten sie landesweit 20 Prozent. Jetzt sagen ihnen die Demoskopen nur noch um die 13 voraus. Zieht man die zwei bis drei Prozentpunkte der üblichen Grün-Überbewertung in Umfragen ab, steht der Partei also möglicherweise eine Halbierung der Mandate an Rhein und Ruhr bevor. Das liegt zum einen daran, dass der Trend bundesweit und also auch in NRW gegen die Partei läuft: Die Zugkraft des Themas „Klima“ lässt merklich nach, zur Rezession beziehungsweise ihrer Bekämpfung weiß die neue Grünen-Führung noch weniger zu sagen als das frühere Parteiidol Robert Habeck.

Ihre Parolen, am Verbrennerverbot und an der Energieverteuerung durch die CO2-Abgabe dürfe nicht gerüttelt werden, passt 2025 noch schlechter in die politische Landschaft als im vergangenen Jahr. Erst recht, da sich schon ein Teil der Industrie davonmacht wie das Ford-Werk in Köln, das 2032 ganz schließt, und ein anderer wie Thyssen ums Überleben kämpft. Dazu kommen noch landesspezifische Themen, die das grüne Ergebnis am Sonntag vermutlich drücken. Zum einen trägt Flüchtlings- und Integrationsministerin Josefine Paul von den Grünen die politische Verantwortung dafür, dass sich der syrische Attentäter von Solingen, der 2024 auf einem Stadtfest drei Menschen ermordete, zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch in Deutschland befand. Denn eigentlich hätte der abgelehnte Asylbewerber nach Bulgarien abgeschoben werden müssen. Das passierte aber nicht. Paul blieb im Amt; Ministerpräsident Hendrik Wüst entließ sie aus Rücksicht auf seinen Koalitionspartner nicht.

Dieser grüne Partner setzte auch durch, dass NRW nicht wie andere Kohle-Länder erst 2038, sondern schon 2030 aus der Kohleverstromung aussteigt. Die nötigen Gaskraftwerke zum Ersatz stehen allerdings erst auf dem Planungspapier. Außerdem sollen sie nach dem realitätsfremden Wunsch der Grünen auch noch auf Wasserstoff umrüstbar sein. Woher die neuen Anlagen innerhalb von nur fünf Jahren kommen sollen, kann die Landesregierung nicht plausibel beantworten. In NRW kommt zu dem teuren Strom möglicherweise auch bald noch eine Energiemangellage, die Firmen erst recht vertreibt und Investoren fern hält.

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Trotzdem bleibt den Grünen eine Basis in den größeren Städten. In Köln könnten sie ihren Status als größte Ratsfraktion möglicherweise verteidigen. Und darum geht es bei ihnen: Defensive. Das gilt vor allem für die drei grünen Oberbürgermeisterposten im Land: in Bonn, Aachen und Wuppertal. In Bonn rief Stadtoberhaupt Katja Dörner die große „Mobilitätswende“ aus, die aus grüner Sicht vor allem bedeutet: Kampf gegen das Auto. Mit einer Rats-Koalition aus Grünen, SPD und Volt halbierte sie die Zahl der Autospuren auf den Hauptverkehrsachsen zugunsten von Radwegen, ließ massenhaft Blitzer aufstellen und verordnete für viele Straßen Tempo 30. Studenten und Beamte, die zur Uni beziehungsweise zu den Bonn-Ministerien radeln, finden das gut – Pendler, Händler und Handwerker protestieren. Aber dieses Milieu, so lautet offenbar Dörners Kalkül, wählt sowieso nicht grün. Da die Partei nirgends so treue Anhänger findet wie an Universitäten und im öffentlichen Dienst, könnte es für Dörner zumindest in der zweiten Wahlrunde noch reichen.

Der AfD sagen Umfragen landesweit eine Verdoppelung der Mandate voraus. Selbst wenn sie nach dem 14. September keine Oberbürgermeister stellen wird, ziehen ihre Kandidaten also gestärkt in die Ratssäle ein. Das stellt die CDU in den Kommunen vor ein erhebliches Problem: Entweder arbeitet sie mit der Partei dann doch zusammen und beseitigt die Brandmauer – oder sie zwingt sich selbst in Bündnisse mit SPD, Grünen und Linkspartei, die dann absehbar die Richtung vorgeben.

Die Angst der anderen vor der „blauen Welle“ lässt sich mit Händen greifen. Wenige Tage vor der Abstimmung brachte das Schauspiel Köln einen Aufguss der juristisch schon reichlich zerfledderten Correctiv-Wannsee-Story auf die Bühne. Zeitgleich präsentiert „Correctiv“ selbst einen angeblichen Kronzeugen – den Influencer Erik Ahrens, früher Wahlkämpfer für die AfD, der sich mit der Partei allerdings überworfen hat, und auf X über Geldprobleme klagt. Wirken dürfte diese Offensive in letzter Minute angesichts der Probleme in dem Bundesland nur in einem Milieu, das am Sonntag die grünen sowie die linken Kandidaten ankreuzt.

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Kommentare ( 76 )

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DonQuixote
2 Monate her

Bei der Bundestagswahl habe ich der CDU mit dem Merzschen Programm eine ketzte Chance gegeben. Er hat sein Programm noch vor der Konstituierung des gewählten Bundestags umgeworfen. Die Außenpolitik der AfD ist für mich indiskutabel. Auf kommunaler Ebene ist sie meine einzige Hoffnung. Wenn sie besteht, vielleicht nächstes Mal auch im Landtag.

Dellson
2 Monate her

Es wäre eine köstliche Trauerkomödie für jedes Kintopp, leider bittere Realität.
Die Verursacher von diesem Chaos, dem Niedergang, der Polarisierung, dem Abstieg in eine greifbare Anarchie mit dem Rückzug von Recht und Ordnung, biedern sich vor der Wahl als Unverantwortliche, besser noch als diesmal Geläuterte an den Wähler ran. Nichts, Null, Null Komma Null nichts wird sich ändern, es wird gleichsam weitergehen mit den gleichen Leuten bei vollen Bezügen!
Wahlen in Deutschland, Regierungswechsel? Als wenn der Liegestuhl auf der Titanic gewechselt wird!

Logiker
2 Monate her

In NRW wird doch nichts weltbewegendes passieren – die „Demokratischen Kräfte“ werden wieder glorreich siegen – natürlich nur in der Summe.
Denen geht es doch schon gar nicht mehr um die Prozente des eigenen Wahlvereins, sondern nur noch um die Summe der Verhinderungskoalition.

Sonny
2 Monate her

Ich gehe jede Wette ein, dass aufgrund der Umfragezahlen haufenweise Wahlmanipulationen versucht werden. Und von welcher Seite diese Betrügereien kommen werden, weiß ich auch schon.

Johann Conrad
2 Monate her

Was viele Leser, vor allem von außerhalb NRWs, nicht wissen: Die große Bedeutung der beiden Landschaftsverbände LWL (Westfalen-Lippe) und LVR (Rheinland). Sie verwalten alles mögliche im Sozialbereich, Kultur und vieles mehr. Dafür verfügen sie über einen gigantischen Etat (natürlich schuldengespeist) und am wichtigsten für die Altparteien: Sie vergeben Posten und Funktionen in den Verwaltungsapparaten. Wenn eine gestärkte AfD dann auch besser und stärker in den Beschlußgremien („Westfalenparlament“ für den LWL) vertreten ist, gibt es viel mehr Kontrollmöglichkeiten. Die Altparteien können nicht mehr alles unter sich ausmachen, weil man ihnen auf die Finger schaut. Genau das sind nämlich im kommunalen Bereich… Mehr

Ohanse
2 Monate her

Ich traue der Masse der Wähler in NRW schlicht nicht die Intelligenz zu, die nötig ist, um aus eigener Beobachtung die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die werden auch dieses Mal wieder an dieser Aufgabe scheitern.

Lotus
2 Monate her

„Ihr hattet genug Zeit. Jetzt ist unsere Zeit“

Bei all den hohlen und verlogenen Wahlwerbe-Slogans ist dieser AfD-Slogan erfreulich richtig. Zehn Jahre falsche Politik, zehn Jahre offenen Grenzen, zehn Jahre Regieren gegen eine Mehrheit der Bevölkerung, zehn Jahre Fürdummverkaufen des Wählers – es ist mehr als genug. Es ist aber zu befürchten, dass viel zu viele Bürger immer noch in der täglichen Medien-Propaganda gefangen sind. Und selbst wenn hier und da AfD-Bürgermeister kämen, ihre Möglichkeiten sind angesichts der Situation doch eher begrenzt.

Joe X
2 Monate her

Die AFD hat es noch nicht mal geschafft, in allen kreisfreien Großstädten OB-Kandidaten aufzustellen. Man kann sich des Eindruck nicht erwehren, dass die gar nicht regieren wollen.
Leider erwähnt der Beitrag nicht die zahlreichen freien Wählergruppen. Wenn es am Sonntagabend darum geht, am Wahlergebnis das Misstrauen gegen die etablierten Parteien abzulesen, dann muss man die aber mit berücksichtigen.

Leander
2 Monate her

SchwarzRotGrün, palimpalim…

kb
2 Monate her

Die CDU muss sich in NRW nicht in Koalitionen mit den Roten, den ganz Dunkelroten und den Grünen zwingen, se wird es mit wehenden Fahnen und linkem Wüst Politikverständnis einfach tun. Die CDU hat über 30 Prozent – mehr Zustimmung geht wohl in diesen Zeiten nicht. Nix wird doch ändern!