Köln schläft öfter, als man denkt

Warum führen Kölns geschlossenen Hotels und Kneipen in peinliche Situationen? Städte sind ihre Straßen und Gebäude, aber auch die Menschen, die sie prägen. Und ihre Geschichten. Diese stellt TE in der Serie "Stadtgesichter" vor. In dieser Folge geht es um Wolfgang Niedeckens Lieblingskneipe in einer Stadt, die gerne mal schläft.

IMAGO

Nicht verwechseln: New York ist die Stadt, die niemals schläft. Köln die, die selten wach wird. Was aber nicht schlimm ist: Es kann zu legendären Nächten führen – Frühstück und BAP-Devotionalien inbegriffen.

Das Chlodwig Eck war die Stammkneipe von Wolfgang Niedecken. Der BAP-Sänger konnte wundervolle Geschichten darüber erzählen, wie es ist, mit Schmal Boecker in der Südstadt zu zechen. Daher wollte ich da auch hin. Es bot sich die Gelegenheit dazu: im November 1994. Ich war Delegierter für den Bundesparteitag der Grünen in Deutz. Mein Kreisverband Neunkirchen war finanziell klamm. Ich wusste das, ich war der Kassierer.

Also entschloss ich mich, mit dem „Gute Nacht Ticket“ für 50 Mark nach Köln zu fahren. Den Rest der Nacht wollte ich mir im Chlodwig Eck oder doch wenigstens rund um den Chlodwigplatz um die Ohren schlagen. Um dann am nächsten Morgen frisch und unausgeschlafen zum Parteitag zu gehen, der, ganz wichtig: bei den Grünen „Bundesdelegiertenkonferenz“ heißt, weil sie doch etwas ganz besonderes sind.

Um 2.30 Uhr kam ich am Chlodwigplatz an. Das Chlodwig Eck war geschlossen. Ich machte mich auf die Suche nach der nächsten, offenen Kneipe. Doch so lebendig, wie ich mir die Südstadt in einer Freitagnacht vorstellte, war sie nicht. Die Bordsteine waren weiter nach oben geklappt als in Krähwinkel. Erst gegen 4.30 Uhr entdeckte ich tatsächlich und endlich eine offene Kneipe, in der ich mit den bemerkenswertesten Worten begrüßt wurde, die ich je in einer Kneipe gehört habe:

„Was willst du hier?“
„Ein Bier?“
„Ja, aber warum ausgerechnet hier?“
„Weil alle anderen Kneipen geschlossen haben.“
„Das stimmt ni … wobei doch, mittlerweile stimmt es. Setz Dich!“

Wir kamen dann an der Theke gleich ins Gespräch. Ich erzählte dem Wirt meine Geschichte und er mir, dass er mit BAP schon als Rowdy unterwegs war. Wir kannten uns keine zehn Minuten und er bot mir an, ich könne bei ihm pennen. Etwa zwei Stunden und einem Dutzend Kölsch später fuhren wir mit dem Taxi quer durchs dunkle Köln. Es war November und kalt. Wo wir genau hinfuhren, wusste ich nicht. Als er den Schlüssel in der Hand hielt, drehte er sich an der Haustür um und meinte: „Ich muss dich etwas fragen.“ Es folgte die längste Atempause meines Lebens.

Nun hatte ich keine Angst vor einer möglichen körperlichen Eskalation. Ich war 20 Jahre alt, Ringer und fit. Was mich eher beschäftigte waren Fragen wie: Wo genau bin ich eigentlich? Wie komme ich von hier aus nach Deutz? Um wie viel Uhr macht dort die Halle auf? Und hatte ich schon erwähnt, dass es kalt und dunkel war? Dann kam endlich seine Frage: Ob es mir denn etwas ausmache, wenn er jetzt noch eine Bong rauche? Eine Bong? I wo, nur zu. Ich selbst wollte nicht mitrauchen, sagte aber zu einer Flasche Rotwein nicht nein.

Der Morgen verlief nett. Er erwies sich als guter Gastgeber, erzählte von der Tour mit BAP und schenkte mir verschiedene Devotionalien. Leider erwies ich mich nicht als ganz so guter Gast. Als er schlief, ging ich ins Bad und erbrach den Rotwein. Ich wischte notdürftig durch, sah, dass es draußen hell geworden war und schlich mich davon nach Deutz. 28 Jahre später möchte ich sagen: Es tut mir leid. Ehrlich. Und den Zeitungshalter besitze ich heute noch. Theoretisch.

Aber es war nicht das einzige mal, dass ich in Köln strandete und eine bemerkenswerte Nacht verbrachte: 2003 hatte ich eine Konferenz in Bergisch-Gladbach. Montags. Sonntags hatte ich nix zu tun und einen voll getankten Dienstwagen vor mir stehen – aber auch ein Problem. Ich hatte keine Brille und kann im Dunklen eigentlich nicht ohne fahren. Zumindest keine Schilder lesen. Also rief ich eine Begleitung an, ob sie auf den sommerlichen Trip mitkommen wolle.

Wir hatten dann einen schönen Tag in Bonn und Dortmund – ja, das ist möglich – und kamen gegen 21 Uhr in Müngersdorf an. Zeit, Farbe zu bekennen: „Witzige Geschichte. Eigentlich habe ich dich vor allem mitgekommen, weil ich eine Hornhaut-Verkrümmung habe und nachts schlecht sehe. Du musst mich jetzt nach Bergisch-Gladbach lotsen.“ Die Antwort war lustig, aber auch irritierend: „Du weißt gar nicht, wie witzig das ist. Ich habe auch eine Hornhaut-Verkrümmung und sehe nachts ebenfalls schlecht.“

Wir kämpften uns bis zum Hauptbahnhof durch, parkten dort das Auto. Meine Begleitung fuhr mit dem ICE nach Hause und ich wollte mir ein Hotelzimmer suchen. Wie schwer kann das sein? Sonntags um 22 Uhr in Köln. Am Hauptbahnhof. Doch darf man als Auswärtiger nie unterschätzen, wie gerne Köln schläft. Zwei Stunden latschte ich rund um den Hauptbahnhof. Ich fand Hotels. Aber die waren alle geschlossen. Dann, endlich, ein Hotelschild und Licht, das aus Fenstern schien.

Ich fragte, was ein Zimmer koste und bekam als Antwort eine Gegenfrage: „für die ganze Nacht?“ Nun. Ja. Nochmal zwei Stunden rund um den Hauptbahnhof latschen wollte ich nicht und als Liberaler bin ich tolerant. Sie hatten ein Zimmer frei. Für die ganze Nacht. Es war wohl keine Stoßzeit. 40 Euro sollte es kosten. Ich bezahlte bar und musste eine weitere Enttäuschung in Kauf nehmen: „Frühstück machen wir aber nicht.“

Die Betten waren erstaunlich schmal. Andererseits liegt man ja auch darin nicht nebeneinander. Neben mir wurde lautstark gearbeitet und ich wog mich in den Schlaf, indem ich für mich selbst BAP-Texte zitierte: „Jo, der Jupp fährt grad sin Sejel hoch / unn er nimmt dich met / jedenfalls meint er ett / unn er verzählt sich froh.“ Gut fünf Stunden später wurde ich entlohnt. Ich wachte auf und sah den Dom. Vom Bett aus. Im Stundenhotel. Als ich mich wieder vom Tatort schlich, rief mir der – nennen wir es mal – Portier hinterher: „Ich hab‘ dir doch ein Frühstück gemacht.“ Ich verzichtete. Ich bin ein schlechter Gast.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 7 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

7 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Simplon
1 Jahr her

Schöne Geschichte. So kann es hier gehen.

…dem Wirt meine Geschichte und er mir, dass er mit BAP schon als Rowdy unterwegs war….
Er war nicht als Rowdy mit BAP unterwegs, sondern
als Roadie. So werden Tour-Techniker und Helfer bei
Konzert-Tourneen genannt. Ein Roadie hat mit Rowdy soviel zu tun, wie ein Ringer mit Bodenturnen.
Wolfgang Niedecken hat sich auch meiner Meinung nach, bei Corona echt fragwürdig geäußert. Trotzdem habe ich ihn bisher immer als angenehmen Menschen und Künstler kennen gelernt.

Viele Grüße aus Köln.

Sonny
1 Jahr her

Ein nettes Zwischenspiel, aber wenn man es ganz genau nimmt, ahnt man: Das ist nur der Anfang gewesen von allem, was Deutschland nicht mehr bieten kann.
In Wirklichkeit ist Deutschland mittlerweile auf der Stufe von armen Entwicklungsländern angekommen, in dem einige Despoten und Grüppchen den Rest unterdrücken, derweil das Land vor die Hunde geht.
Schwarzgelbgrünrot – ist unser Tod.

Reinhard Schroeter
1 Jahr her

Als Mitteldeutscher habe ich während des „Goldenen Zeitalters „ – das war es aus vielen Gründen für uns wirklich- unter Kanzler Kohl eine wunderbare Nacht in Köln verbracht. Der Flug nach Tel Aviv ging morgens um 6 Uhr von Köln-Bonn , am Abend zuvor kamen wir gegen 22Uhr aus Berlin mit dem Zug in Köln an. Was tun , war die Frage. Dass es gerade Fasnachtssonnabend war, hatte keiner von uns auf dem Schirm. Was war das für eine Nacht ! Unbeschwerte Lebensfreude und Spaß pur. Von einer der unzähligen Kneipen zur anderen, mit wildfremden Leuten sofort per Du ,keinerlei… Mehr

Jens Frisch
1 Jahr her

Köln, die Stadt die niemals wach wird.
Als Kölner kann ich dazu nur stehend applaudieren: Die „Armlängen-Abstand“ Henriette wurde doch glatt wieder gewählt und ihr 10m großes Portrait im Stile „Photoshop-Bonbon-Sozialismus“ prangt immer noch an einer Hauswand in der Severinsstraße…

Manfred_Hbg
1 Jahr her

Was die schlafenden Städte betrifft, hier habe ich als hamburger Nordlicht während meiner beruflichen Laufbahn die Erfahrung gemacht, dass umso weiter man in den Süden Deutschlands kommt, dass dann um so früher die Bordsteine hochgeklappt werden und die Städte am schlafen sind.

Aber vielleicht war ich als Hamburger auch nur vom hamburger Nachtleben ein wenig zu verwöhnt ?

Dieter Blume
1 Jahr her

Wolfgang Niedecken gehört zu den Menschen, die ich seit Corona ignoriere, weil er gegen Ungeimpfte und Maßnahmenkritiker gehetzt hat.

Andreas aus E.
1 Jahr her
Antworten an  Dieter Blume

Ja, widerlicher Gutmensch – aber der Artikel ist dennoch spaßig zu lesen.