Beobachtungen zum Interview Carlson-Putin

Das Tucker Carlson Interview mit Wladimir Putin spaltete die Gemüter: Während die Tagesschau gleich dazu rät, es „einfach zu ignorieren”, schwärmen andere von einem Präsidenten mit enzyklopädischem Wissen. Ein Versuch einiger Beobachtungen aus dem Gespräch abseits des Offensichtlichen.

IMAGO/Zuma Wire

Das Interview des US-amerikanischen Journalisten Tucker Carlson mit Russlands Präsident Wladimir Putin schlug wenig überraschend hohe Wellen. Während weite Teile westlicher Medien erwartungsgemäß das Gespräch als „Propagandaplattform für den Kremldespoten“ darstellten, sah die Gegenseite im Gespräch den Auftritt eines Staatsmanns mit fundiertem historischen Wissen. Keine der Seiten wird sich wohl von der gegenteiligen Position überzeugen lassen.

Wer die Position Russlands in Bezug auf die Ukraine-Frage seit längerem verfolgt, für den wird das Interview wenig grundlegend Neues geboten haben. Sowohl die historischen Ansprüche auf die Ukraine, als auch der Vorwurf der Bedrohung durch die NATO, sind altbekannt und wurden bereits vor vielen Jahren von Peter Scholl-Latour dargelegt (und seitdem wieder geflissentlich vergessen). Dennoch ließen sich in dem Interview einige interessante Beobachtungen anstellen, die bislang weniger thematisiert wurden.

— Tucker Carlson (@TuckerCarlson) February 8, 2024

Auch umfangreiches Geschichtswissen kann entscheidende Lücken beinhalten

In seinem ausführlichen geschichtlichen Exkurs zu Beginn des Interviews, der sich im Internet schon bald zu einem unterhaltsamen Meme verselbstständigte, erwies sich Wladimir Putin als zumindest partieller Kenner geschichtlicher Zusammenhänge, was es ihm erlaubte, die russischen Gebietsansprüche in der Ukraine historisch herzuleiten. Kritiker werfen Putin dabei gerne die Verbreitung von Halbwahrheiten vor, ignorieren dabei aber ihrerseits einige legitime Argumente. Wie dem auch sei, als Staatsoberhaupt Russlands galt Putins Interesse selbstverständlich der Rechtfertigung der eigenen Position und es wäre naiv zu erwarten, dass ein Politiker die im Gegensatz stehenden historischen Ansprüche anderer Nationen – wie z.B. Polens – in seine Argumentation einfließen lassen würde.

Doch gerade in seinen Ausführungen über die sogenannte Entnazifierung der Ukraine ging Putin geschichtlich selektiv vor, als er zwar die Kollaboration Banderas mit den Nationalsozialisten thematisierte, aber den Holodomor, der mitverantwortlich war für die Bereitschaft der Ukrainer, die deutsche Fremdherrschaft anfänglich als Befreiung anzusehen, mit keinem Wort erwähnte.

Russland ähnelt Deutschland darin, dass beide Länder eine totalitäre Vergangenheit haben. Die Herausforderung, damit konstruktiv umzugehen, stellt sich in beiden Ländern, der Umgang damit könnte jedoch unterschiedlicher nicht sein. Während Deutschland mit einem immerwährenden Schuldkult droht, historische Fehler unter anderer Flagge zu wiederholen, geht das Bestreben Russlands in den letzten Jahren wieder zunehmend in Richtung einer historischen Verklärung der sowjetischen Ära. Das Bedürfnis auch die 70 Jahre kommunistischer Herrschaft als einen Teil der Geschichte zu akzeptieren, ist nachvollziehbar, doch die Gefahr eines solchen positiven Geschichtsbewusstseins lauert z.B. in der Verherrlichung des Stalinismus als vor allem einer Zeit, in der Russland im Zuge des „großen vaterländischen Krieges” vor Aggressoren bewahrt wurde.

Putin wies in dem Interview darauf hin, dass Russland ein multiethnischer und multireligiöser Staat sei. Wenn aber Putin den Ukrainern eine positiv konnotierte nationale Identität Russlands bieten möchte, an der diese teilhaben können, muss ein Mindestmaß an historischer Selbstkritik vollzogen werden. Die nationalen Identitätsbestrebungen der Ukraine mögen tatsächlich erst im 19. Jahrhundert auf Initiative Österreichs entstanden sein, doch nichts hat wohl den Willen zur Distanz der Ukrainer von Russland mehr angefacht, als die unmenschliche Behandlung durch die Sowjets in den 1930er Jahren. Die Sympathien für den Nationalsozialismus in der Ukraine sind also gewissermaßen hausgemacht. Egal ob Putin sich die Ukraine einverleiben, oder diese zu einem neutralen Pufferstaat machen möchte – wenn eine positive Beziehung der Ukrainer zu Russland das Ziel ist, müsste der in den letzten Jahren zunehmenden Verherrlichung der Sowjetära ein Ende bereitet werden.

Der letzte westorientierte Präsident Russlands

Einer der Gründe für Putins zögerliche Hinwendung zu Peking könnte in dessen Westorientierung begründet liegen. Die Beschreibungen Wladimir Putins im Westen erscheinen häufig wie monsterhafte Karikaturen, denn als differenzierte Charakterisierungen. Der „Russe an sich“ erscheint dem Westmenschen oftmals fremd, dabei darf aber – bei aller kultureller Differenz – nicht vergessen werden, dass in Russland seit Peter dem Großen eine jahrhundertelanger Wunsch innerhalb der Intelligentsia und dem Adel bestand, nicht nur nach europäischen Standards zu denken und zu handeln, sondern dafür auch in Europa akzeptiert und anerkannt zu werden. Die Romane Dostojevskis und Tolstois zeichnen häufig Sittenbilder von Personen, die nicht nur davon getrieben sind, das Leben in Pariser Salons zu emulieren, sondern auch durch ihre besondere Kultiviertheit und Intelligenz in diesen als Gleichwertige, anstatt als „wilde Russen“, wahrgenommen zu werden.

Diese Tradition überdauerte auch die Sowjetunion und Wladimir Putin ist ein Vertreter jener Klasse, der glaubt, durch Argumente und guten Willen früher oder später im Westen, wie er es seit Jahren sagt, „auf Augenhöhe“ kommunizieren zu können. Gerade aus seinen ausschweifenden Darlegungen der Geschichte spricht Putins typisch russischer Versuch, mit Ratio und Intellekt den Westen von seiner Position überzeugen zu können. Ob gerechtfertigt oder nicht – diese Hoffnung wurde offensichtlich immer wieder enttäuscht, wie an verschiedenen Stellen des Gesprächs deutlich wurde. Die Versuche Russlands zur Kooperation wurden, wenn man Putin glauben darf, wiederholt ausgeschlagen. Putin selbst pocht darauf, immer und immer wieder die Hand zur Versöhnung gereicht zu haben.

Sowohl während des Interviews selbst, als auch in seiner Nachbetrachtung sprach Tucker Carlson von einem großen Gefühl der Verletztheit bei Putin in Folge dieser Ablehnung. Kritiker des russischen Präsidenten werden nun spotten, dass seine Gefühle sie nicht scheren könnten, er solle bloß aus der Ukraine abziehen. Wer sich allerdings auf eine neutrale Beobachterposition zurückzieht – wie weite Teile der Welt es tun – wird dabei schwerlich Sympathien für einen Westen entwickeln, der auf die Versuche einer Annäherung durch eine nahestehende Großmacht immer nur mit Spott und Ablehnung reagiert hat. Die Frage, ob dieser Bruch noch zu kitten ist (denn die vom Westen erhoffte Unterwerfung Russlands zeichnet sich geopolitisch in keinster Weise ab), muss mittlerweile wohl abschlägig beantwortet werden. Das mag für die USA, die in einem traditionellen Konkurrenzverhältnis zu Russland stehen, unerheblich sein, für Europa kann das schwerwiegende Folgen haben.

Wer glaubt, dass mit einem möglichen erzwungenen Ende der Herrschaft Wladimir Putins eine Öffnung Russlands gen Westen einhergehen würde, täuscht sich höchstwahrscheinlich gewaltig. Putin mag ein KGB-Agent gewesen sein, doch entstammte er im Endeffekt jener westorientierten Intelligentsia, die letztlich immer auf Anerkennung und Akzeptanz in Europa hoffte.

Doch wer auch immer auf Putin folgt, wird wohl einer anderen Generation angehören. Einer Generation, die – ob nun zurecht oder nicht – vom Westen und seinen Versprechungen von Liberalismus und Demokratie zutiefst enttäuscht wurde und die den Westen mittlerweile als dekadent, verlogen und unzuverlässig verabscheut. Es wäre naiv zu glauben, dass mit dem Ende Putins in Russland eine neuerliche Öffnung zum Westen einherginge. Viel wahrscheinlicher ist, dass Wladimir Putin der letzte westorientierte Politiker Russlands für eine lange Zeit sein wird.

Die Fragilität des politischen Christentums in Osteuropa

Es war wohl kaum die kritische Frage, die manch einer von Tucker Carlson erwartete, aber als dieser Putin nach der Bedeutung des orthodoxen Christentums für ihn persönlich fragte, löste er damit die wohl unbefriedigendste Antwort des Präsidenten im gesamten Gespräch aus. Denn während seine Ausschweifungen über die historische Bedeutung der Ukraine für Russland zwar zunächst den Anschein erweckten, der Schuldfrage des Kriegs auszuweichen, erwiesen sie sich letztlich nur als lange Herleitung mit einem deutlichen Ziel.

Die Frage aber nach der Religion offenbarte tatsächliche Schwächen, die offenbaren, auf welch tönernen Füßen das Christentum als kulturelles Fundament Russlands im Gegensatz zum hyperliberalen Westen steht. Denn Putin erklärte, es gehe dabei nicht darum, „jeden Tag in die Kirche zu gehen“, sondern vielmehr um ein diffuses Gefühl, für das er schon bald die gängigen Allgemeinplätze „Dostojevski“ und „russische Seele“ bemühte.

Angesichts des Anspruchs der Orthodoxie für die Wahrung der christlichen Tradition zu stehen, ist die Auslegung Putins wiederum bemerkenswert „westlich“ und scheint bereits von einem ähnlichen Relativismus befallen zu sein, den auch die Westkirchen seit Jahrzehnten zu beklagen haben. Auffallend war auch, dass Putin – wiederum in bester Tradition Dostojevskis – den Westen als „pragmatisch“ im Gegensatz zum transzendenten Naturell der russischen Seele beschrieb.

Als jedoch Carlson nachhakte, ob der russische Präsident die Geschehnisse auf der Welt von himmlischen Kräften bestimmt sähe, entpuppte sich Putin wenig überraschend als genau jener Pragmatiker, als den ihn auch viele seiner Anhänger kennen. Vom Wirken Gottes und des Teufels keine Rede, stattdessen seien es vor allem die menschengemachten Gesetze, die das Leben auf Erden bestimmen. Vergleicht man dies mit den immer wiederkehrenden Gottesbezügen in den Reden eines Viktor Orbán, kann man nur feststellen, dass bei Putin ein grundlegendes Missverständnis über den Idealismus des Westens (auch wenn dieser weitestgehend verschütt ging) vorliegt.

Russland mag glauben und hoffen, das Erbe der Sowjetunion überwunden zu haben, doch gerade an der zutiefst politisch-pragmatischen Herangehensweise Putins an den Glauben zeigt sich, wie wirkmächtig diese Vergangenheit bis heute ist. Am Beispiel Polens, das bislang als katholischtes Land Europas galt, nur um nach dem Regierungswechsel in Windeseile die Dechristianisierung in Gang zu setzen, zeigt sich, wie fragil die gegenkulturelle Instrumentalisierung des Christentums sein kann, wenn sie nicht von tiefen Wurzeln des Glaubens ausgeht.

Ein Aufruf an die USA zur Kursumkehr

Die womöglich wichtigste Frage ist, welche Wirkung sich Putin von diesem Interview erhofft. Viele westliche Medien deuteten das Gespräch sofort als „Putin-Propaganda“, die von einem „Putin-Freund“ ermöglicht wurde. Die Tagesschau fand das Gespräch kaum eine Erwähnung wert, ein einzelner Kommentar eines ehemaligen Moskau-Korrespondenten befand, man solle das Gespräch „am besten ignorieren“, da Carlson nicht kritisch genug war. Stattdessen empfiehlt es sich wohl nochmal Caren Miosgas Selenskij-Interview zu Gemüte zu führen, in dem kritisch-unabhängig die Freizeitgestaltung des ukrainischen Präsidenten thematisiert wurde.

Doch vor allem in den USA, die mit ihrer Unterstützung der Ukraine der entscheidende Faktor zur Beendigung des Konflikts sind, wird das Gespräch mit Tucker Carlson intensiv rezipiert. Dort sind die Positionen Putins bislang kaum bekannt gewesen und dürften viele Zuschauer hellhörig geworden sein, auch wenn einige Beobachter meinten, die historischen Exkurse könnten die Zuschauer abgeschreckt haben. Dieser Einschätzung schließen sich auch jene Medien an, die sofort eine Beeinflussung der anstehenden US-Wahlen befürchteten.

Allerdings äußerte Putin selbst die Einschätzung, dass es eben nicht nur eine Frage des amtierenden Präsidenten sei (er selbst hatte sowohl mit George Bush, als auch mit Donald Trump gute Beziehungen), sondern vor allem der Washingtoner Eliten hinter dem Präsidenten, die vorgeben, in welche Richtung die USA sich entwickeln. Als Wladimir Putin über die Schwächung der wirtschaftlichen Position der USA durch ihre Sanktions- und Schuldenpolitik sprach, richtete er sich damit wohl nicht so sehr an die amerikanischen Wähler, als vielmehr an jene Interessengruppen in den USA, die die Wirtschafts- und Außenpolitik entscheidend gestalten.

Eine neuerliche Wahl Donald Trumps würde wohl eine Fortsetzung des von ihm in seiner ersten Amtszeit eingeschlagenen Wegs des Isolationismus bedeuten. Das entspräche zwar nicht der von Putin beworbenen Öffnung und Zusammenarbeit mit China, ginge aber dennoch mit einer Abkehr vom Interventionismus (der auch in der finanziellen und militärischen Unterstützung der Ukraine zum Ausdruck kommt) einher. Es ist nur verständlich, dass auch die USA ihre Interessen verfolgen und ihren Platz an der Sonne nicht freiwillig aufgeben wollen. Der Versuch der Aufrechterhaltung des überdehnten Imperiums (vgl. dazu Heinz Theisens Beiträge bei TE) würde aber langfristig zu einer Schwächung der USA und des Westens im Allgemeinen führen. Die kompetenteren Köpfe in Washington werden diese Rechnungen wohl ebenfalls schon längst angestellt haben.

So bleibt wieder einmal die EU als größtes Fragezeichen. Ein Rückzug der USA aus Europa würde offenbaren, wie viel zerschlagenes Geschirr sich hier mittlerweile angesammelt hat. Der Weg aus diesem Scherbenhaufen zu einem selbstbestimmten Europa, das sich nicht nur als Lakai des einen oder des anderen Hegemons sieht, wird lang und steinig.

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