Cancel Culture versus Toleranz

Der Versuch, eine nationalkonservative Konferenz in Brüssel zu verhindern, bietet Gelegenheit, das Prinzip der Toleranz einmal grundsätzlich in Erinnerung zu rufen. Man versucht, es umzudeuten. Von Frank Furedi

IMAGO / Belga

Jüngst hat das politische Establishment in Brüssel versucht, die Nationalkonservative Konferenz (NatCon) zu verhindern. Es war entschlossen, dafür zu sorgen, dass kein Veranstaltungsort in Brüssel uns die Nutzung seiner Räumlichkeiten gestattet. Als eines der Mitglieder des Organisationskomitees war ich daher mit der Suche nach einem Ort für unsere Konferenz beschäftigt. Wir verloren einen Veranstaltungsort und dann einen weiteren, bevor wir einen Ort fanden, dessen Eigentümer uns einen Saal für unsere Veranstaltung zur Verfügung stellte. Doch dann beschloss der Bürgermeister, uns die Veranstaltung zu verbieten und drohte, die Polizei hineinzuschicken.

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Als wir uns weigerten, die Konferenz zu beenden, wurden mysteriöse Kräfte auf unsere Lieferanten aufmerksam. Das Unternehmen, das sich bereit erklärt hatte, das Catering für die Veranstaltung zu übernehmen, wurde gezwungen, unseren Auftrag zu stornieren. Sogar auf das Taxiunternehmen, das die Gäste und Redner zur Konferenz transportierte, wurde eingewirkt. Zum Glück gelang es uns, die Stellung zu halten. Medienberichte über den Versuch der örtlichen Polizei, unsere Konferenz zu schließen, gingen um die ganze Welt. Die Brüsseler Blase hat es eindeutig übertrieben, und es war für alle offensichtlich, dass sie gegen die grundlegendsten Normen der Demokratie verstoßen hat. Deshalb entschied ein belgischer Richter schließlich zu unseren Gunsten und die Konferenz konnte fortgesetzt werden.

Trotz unseres Sieges ist klar, dass der Kampf für die Freiheit in Brüssel noch nicht gewonnen ist. Wie ich in Politico geschrieben habe, muss jeder, der an die Meinungs- und Versammlungsfreiheit glaubt, bereit sein, dafür auf- und einzustehen. Es ist offensichtlich, dass der Versuch, unsere Konferenz zu vereiteln, als Probelauf für eine systematischere Kampagne der Intoleranz in Brüssel diente.
Meine Erfahrung zeigt, dass Brüssel zu einer toleranzfreien Zone geworden ist, in der sich Kommunalpolitiker wie kleine Diktatoren aufführen, obwohl die belgische Verfassung die Meinungsfreiheit und die Freiheit, sich friedlich zu versammeln, garantiert.

Intoleranz ist in Brüssel institutionalisiert worden, und das lokale Establishment ist der Ansicht, dass es die Ausübung der Meinungsfreiheit überwachen und das Recht auf Versammlungsfreiheit einschränken muss. Das öffentliche Leben in Belgien wie in vielen anderen Teilen Europas hat sich vom Ideal der Toleranz entfremdet. Deshalb ist es an der Zeit, die Frage der Toleranz neu zu stellen. Im Folgenden finden Sie einen Auszug aus meinem Buch „On Tolerance“, in dem ich erkläre, warum dieser Wert für die Gestaltung des öffentlichen Lebens so wichtig ist.

Was Toleranz ist

Toleranz ist ein wichtiges Ideal, das für das Funktionieren einer wirklich freien und demokratischen Gesellschaft unerlässlich ist. Dennoch ist es ein Ideal, das wir für selbstverständlich halten und nicht sehr ernst nehmen. In zahlreichen Artikeln und Büchern zu diesem Thema wird sie als langweilige, eher unbedeutende Vorstellung abgehandelt, die nicht ausreicht, um eine gerechte Gesellschaft zu gewährleisten. In anderen gilt Toleranz als Abneigung gegen Werturteile oder ausgeprägte Ansichten über das Verhalten anderer. Wir laufen zunehmend Gefahr, zu vergessen, was Toleranz als enger Begleiter der Freiheit bedeutet. Dieser Aufsatz soll uns daran erinnern, dass Toleranz einen der wertvollsten Beiträge der Aufklärung zum modernen Leben darstellen. Ohne Toleranz können wir nicht frei sein, können wir nicht in relativem Frieden miteinander leben, können wir nicht unserem Gewissen folgen und danach handeln, können wir nicht unsere moralische Autonomie ausüben und unseren eigenen Weg der Wahrheitssuche gehen.

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Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Toleranz historisch gesehen ein sehr junges Ideal ist. Bis zum 17. Jahrhundert wurde Toleranz gegenüber anderen Religionen, Meinungen und Überzeugungen als eine Form von moralischer Feigheit, wenn nicht gar als ein Symptom der Ketzerei interpretiert. In der Tat waren die mittelalterlichen Hexenjäger und Inquisitoren nicht nur daran interessiert, diejenigen zu stigmatisieren, die ihre intoleranten Praktiken in Frage stellten, sondern auch daran, Hexen und Ketzer zu jagen. Das Handbuch der Hexenjäger aus dem 15. Jahrhundert, der „Hexenhammer“, behauptete, dass jene, die die Existenz von Hexen leugneten, ebenso der Ketzerei schuldig waren wie die aktiven Anhänger der Hexerei. Im folgenden Jahrhundert wurde der Skeptizismus häufig als eine besonders gefährliche Form der antichristlichen Ketzerei betrachtet. Wie der französische Historiker Paul Hazard in seiner bahnbrechenden Studie „Die Krise des europäischen Geistes“ feststellte, war Toleranz bis zum 17. Jahrhundert „keineswegs eine Tugend, sondern im Gegenteil ein Zeichen von Schwäche, um nicht zu sagen Feigheit“. Er fügte hinzu, dass „Pflicht und Nächstenliebe“ den Menschen damals verboten, tolerant zu sein.

Im 17. Jahrhundert begann sich die Einstellung zur Toleranz gegenüber konkurrierenden Ideen und Religionen zu ändern. Zum Teil förderte das Aufkommen von Säkularismus und Rationalität eine skeptischere Haltung gegenüber religiösem Dogmatismus und Intoleranz. Dies war auch eine Zeit, in der Europa von erbitterten religiösen Konflikten heimgesucht wurde, die häufig in blutige Bürgerkriege mündeten. Unter diesen Umständen wurde der Ruf nach Toleranz von dem pragmatischen Kalkül beeinflusst, dass ohne ein gewisses Maß an religiöser Toleranz endemische Gewalt und Blutvergießen nicht verhindert werden konnte. Dies war der Zeitpunkt, an dem eine bedeutende Minderheit der Europäer erkannte, dass Toleranz eine Voraussetzung für das Überleben ihrer Gesellschaft war. Der amerikanische Philosoph Michael Walzer unterstrich die Bedeutung dieser Einsicht, als er erklärte, dass Duldung „das Leben selbst erhält“. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass, wie er es formulierte, „Tolerierung Unterschiede möglich macht; Unterschiede machen Duldung notwendig“ .

Das Ziel von Verfechtern der Toleranz im 17. Jahrhundert wie John Locke war es, den religiösen Glauben vor staatlichem Zwang zu schützen. Sein Eintreten für Toleranz war ein Aufruf, die politischen Autoritäten davon abzuhalten, sich in die Arbeitsweise des individuellen Gewissens einzumischen. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich dieses Bekenntnis zur religiösen Toleranz dahingehend ausgeweitet, dass es die freie Äußerung von Meinungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen ermöglicht, die im Zusammenhang mit der Ausübung des individuellen Gewissens stehen. Toleranz ist eng verbunden mit der Bejahung der grundlegendsten Dimension der Freiheit – der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Das Ideal der Toleranz verlangt von uns, dass wir das Recht der Menschen akzeptieren, nach Überzeugungen und Meinungen zu leben, die sich von unseren unterscheiden und manchmal sogar im Widerspruch zu ihnen stehen. Toleranz fordert uns nicht dazu auf, die Gefühle anderer Menschen zu akzeptieren oder zu feiern. Sie verlangt nur, dass wir mit ihnen leben und es unterlassen, uns einzumischen oder andere zu zwingen, sich unseren eigenen Ansichten anzuschließen.

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Toleranz gehört in den Bereich des Politisch-Philosophischen, da sie sich zum Grundsatz der Nichteinmischung in die Art und Weise bekennt, wie Menschen Überzeugungen und Meinungen entwickeln und vertreten. Toleranz bekräftigt die Gewissensfreiheit und die individuelle Autonomie. Solange eine Handlung nicht gegen die moralische Autonomie einer Person verstößt und anderen Schaden zufügt, fordert Toleranz auch die Abwesenheit von Einschränkungen bei Verhalten, das mit der Ausübung der individuellen Autonomie in Zusammenhang steht. Aus dieser Perspektive kann Toleranz daran gemessen werden, inwieweit die Überzeugungen und das Verhalten der Menschen nicht durch institutionelle und politische Eingriffe und Zwänge beschränkt werden.

Zweitens ist Toleranz auch eine soziale bzw. kulturelle Errungenschaft. Eine tolerante Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Toleranz als kulturelle Orientierung soziale Intoleranz verhindert und eindämmt. Dies war ein Anliegen, das der Philosoph J.S. Mill wortgewandt verfolgte, der vor der „Tyrannei der öffentlichen Meinung“ warnte und ihrer Tendenz, Minderheiten und Andersdenkende zu stigmatisieren und zum Schweigen zu bringen. Die Bereitschaft zur Toleranz aufrechtzuerhalten, ist immer eine Herausforderung, und wie die Erfahrung zeigt, können rechtliche Schutzvorkehrungen immer wieder ins Wanken geraten, wenn sie mit einer Flutwelle der Intoleranz konfrontiert werden.

Was Toleranz nicht ist

Wer sich politische Dokumente, Leitbilder, Schulbücher und Reden von Politikern und Entscheidungsträgern zu Gemüte führt, dem fällt auf, wie häufig der Begriff Toleranz verwendet und gepriesen wird. Zumindest nach außen hin scheinen alle die Toleranz zu feiern, und man stößt kaum auf nennenswerten Beifall für Intoleranz. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass sich die Bedeutung dieses Begriffs radikal gewandelt hat. Er ist zu einem oberflächlichen Signifikat für die Akzeptanz und Bejahung von allem und jedem mutiert. In amtlichen Dokumenten und Schultexten wird Toleranz als wünschenswerte Charaktereigenschaft beschrieben statt als Möglichkeit, mit widerstreitenden Überzeugungen und Verhaltensweisen umzugehen. Man kann demzufolge ohne irgendeinen Bezug auf ein System von Überzeugungen oder Meinungen tolerant sein.

Darüber hinaus ist Toleranz – als Akt der Nicht-Einmischung und der unterlassenen Bemühungen, Anschauungen zu unterdrücken, die den eigenen Ansichten widersprechen – der Vorstellung gewichen, dass es darum geht, keine Werturteile über andere Menschen und ihre Ansichten abzugeben. So gesehen dient Toleranz nicht mehr dazu, mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen, sondern ist zu einer Methode geworden, sie nicht ernst zu nehmen. Wenn man aber Toleranz als eine Art überparteiliche Gleichgültigkeit oder als höfliche Geste der automatischen Akzeptanz betrachtet, dann wird aus der Tugend ein Laster.

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In der Vergangenheit wurde Toleranz unter anderem deshalb als Tugend angesehen, weil sie die Bereitschaft voraussetzte, abweichende Überzeugungen und Meinungen zu tolerieren, statt sie zu unterdrücken. Gemäß der klassisch-liberalen Auffassung beinhaltete Toleranz einen Akt der Bewertung und Unterscheidung. Toleranz erfordert die Achtung des Rechts der Menschen, Überzeugungen gemäß ihrem Gewissen zu vertreten. Die Anerkennung des Vorrangs der Tugend der Freiheit erlegt dem wahrhaft Toleranten sogar die Verantwortung auf, nicht zu versuchen, religiöse und politische Gegner zum Schweigen zu bringen. Der Voltaire häufig zugeschriebene Ausspruch „Ich missbillige, was du sagst, aber ich werde dein Recht, es zu sagen, bis zum Tode verteidigen“, bringt die enge Verbindung zwischen dem Urteilsvermögen und der Verpflichtung zur Freiheit zum Ausdruck. Eine Analyse des aktuellen Sprachgebrauchs des Wortes „tolerant“ im Englischen zeigt, dass der Begriff häufig in einem Atemzug mit „inklusiv“ und „werturteilsfrei“ genannt wird. Die Neigung, das Verhalten anderer nicht wertend zu beurteilen, hat zwar ihren Reiz, ist aber nicht unbedingt ein Ausdruck sozialer Toleranz.

Die Verwechslung des Begriffs der Toleranz mit der Idee der Akzeptanz und Wertschätzung der Überzeugungen und Lebensstile anderer Menschen wird in der Erklärung der Unesco über Prinzipien der Toleranz eindrucksvoll veranschaulicht. In dieser Erklärung heißt es: „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt.“, und sie ist „Harmonie über Unterschiede hinweg“. Aus dieser Perspektive wird Toleranz zu einer expansiven und diffusen Sensibilität, die andere Kulturen unhinterfragt wertschätzt. Es ist eine Sensibilität, die nicht wertet, sondern automatisch andere Ansichten und Kulturen akzeptiert und ihnen bedingungslose Wertschätzung entgegenbringt. Diese offiziell sanktionierte, deklaratorische Rhetorik der Toleranz wird häufig in Schulen verwendet, und Kinder interpretieren sie als Aufforderung, nett zu anderen Menschen zu sein.

Die Interpretation von Toleranz als Akzeptanz, Empathie und Respekt hat dazu geführt, dass sie in der öffentlichen Diskussion ihre eigentliche Bedeutung verloren hat. Dabei ist es gerade die enge Verbindung zwischen Meinungsunterschieden und Toleranz, die der Toleranz so große Bedeutung verleiht. Der Akt der Duldung verlangt Reflexion, Zurückhaltung und Respekt vor dem Recht anderer Menschen, ihren Weg zur Wahrheit zu finden. Sobald Toleranz eine Form der automatischen Akzeptanz bedeutet, wird sie einfach zu einer Verhaltenswartung. Die beunruhigendste Folge der Verwandlung dieses Begriffs ist die Abkopplung der Toleranz von der Fähigkeit, zu unterscheiden und urteilen. Wenn Toleranz zu einer Standardreaktion wird, die Zustimmung bedeutet, werden die Menschen vor der Herausforderung bewahrt, sich mit moralischen Dilemmata auseinanderzusetzen.

Die Aufforderung, Toleranz in ein Gefühl umzudeuten, das Urteilslosigkeit oder Gleichgültigkeit ausdrückt, wird oft als positive Charaktereigenschaft eines aufgeschlossenen Menschen dargestellt. Die Geste der Bejahung und Akzeptanz kann jedoch als eine Möglichkeit gesehen werden, schwierige moralische Entscheidungen zu vermeiden und sich der komplizierten Aufgabe zu entziehen, die Werte zu erklären, die es zu verteidigen gilt. Es ist viel einfacher, auf die Vorstellung eines moralischen Werturteils zu verzichten, als zu erklären, warum eine bestimmte Lebensweise einer anderen vorzuziehen ist, die man zwar tolerieren, aber nicht begrüßen kann.

[…]

Toleranz unter Beschuss

Der Begriff der Toleranz war immer sehr selektiv. Von Anfang an befürworteten ihre Anhänger die Duldung einiger Ansichten, aber nicht anderer. Während des gesamten 17. Jahrhunderts neigten religiöse Führer, Philosophen und Politiker dazu, Toleranz opportunistisch und taktisch zu fördern. Diese Tendenz hält bis heute an. Während einer Debatte in Amsterdam traf ich auf Menschen, die der Meinung waren, dass man gegenüber Personen, die den Islam kritisieren wollen, tolerant sein sollte, aber dass gegenüber Holocaust-Leugnern null Toleranz gelte. Ich hatte auch das Vergnügen, mit Menschen zu diskutieren, die das Gegenteil behaupteten und darauf bestanden, dass man es zwar tolerieren könne, die Existenz von Gaskammern in Auschwitz in Frage zu stellen, dass aber jede Blasphemie gegenüber dem Koran verboten werden sollte.

Brüssel
Belgischer Premier wegen später Reaktion zu NatCon unter Druck
Die Doppelmoral in Diskussionen über den Holocaust oder den Islam besteht leider bei vielen Themen und zwar selbst in der seriösen akademischen Literatur. Irgendwie enden abstrakte philosophische Erkundungen der Spannungen, die in der Toleranz enthalten sind, mit einer Parteinahme. Solche philosophischen Untersuchungen sind weit davon entfernt, unvoreingenommene Studien über die Anwendung von Toleranzvorstellungen auf Identitätspolitik, Lifestyle-Kontroversen oder das Recht auf freie Meinungsäußerung zu sein. Allzu oft sind sie ein Plädoyer für Respekt gegenüber Gruppen und Ansichten, die die Autoren selbst befürworten, und für eine intolerante Haltung gegenüber denen, die sie verurteilen. So besteht die italienische politische Philosophin Anna Galeotti darauf, dass Minderheiten nicht nur toleriert, sondern auch respektiert werden müssen. Dagegen sollen jene, die gegen sie zu „Hate Speech“ greifen, zensiert und zum Schweigen gebracht werden. „Die Einschränkung der Freiheit einiger Menschen ist notwendig, um die Toleranz von Unterschieden, die Zielscheibe von Vorurteilen sind, zu ermöglichen“, behauptet sie.
Die Regelmäßigkeit, mit der in Bezug auf Toleranz mit zweierlei Maß gemessen wird, deutet darauf hin, dass diese Inkonsequenz nicht nur ein Symptom für moralischen Opportunismus ist, sondern auch für das Fehlen einer soliden Basis der kulturellen Verankerung echter Toleranz. Es fällt in der Tat auf, dass es der offiziellen Aufforderung, tolerant zu sein, an nennenswertem intellektuellen und moralischen Rückhalt mangelt. Von einigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, scheinen Wissenschaftler und Gesellschaftskommentatoren Toleranz nicht wichtig zu nehmen. Oft wird Toleranz beiläufig als Banalität abgetan oder als ein Ideal, dessen Bedeutung in der Vergangenheit lag, inzwischen aber überholt ist. Toleranz gilt oft als ein notwendiger, aber passiver Akt, bei dem es darum geht, die Ansichten eines anderen zu ertragen. Häufig wird die Auffassung vertreten, dass der Akt des Duldens eine grundsätzlich negative Konnotation hat, weil er die Duldung von als falsch oder minderwertig angesehenen Ansichten beinhaltet. „Wegen der negativen Konnotation von Toleranz wird sie häufig als politisches Prinzip zugunsten höherer Ideen wie Gleichheit, Freiheit oder Respekt abgelehnt“, schreibt eine aufmerksame Kommentatorin zu diesem Thema.

In den letzten Jahrzehnten hat die negative Darstellung von Toleranz erheblich an Dynamik gewonnen. „In vielen Kreisen hat die Toleranz ein negatives Image“, schreibt ein australischer Politikwissenschaftler. Er fügt hinzu, dass „sie entweder mit bloßer Duldung (im Gegensatz zu einer Art enthusiastischer Akzeptanz oder Respekt) und auch mit der notwendigerweise mit einem negativen Wert assoziiert wird“. Die Vorstellung, dass „bloße Duldung“ nicht ausreiche oder sogar respektlos sei, wird durch eine kulturelle Sensibilität genährt, der es zutiefst unangenehm ist, Werturteile zu fällen und bei anderen deren Version der Wahrheit zu hinterfragen und zu kritisieren. Eine Möglichkeit, Toleranz von ihrem negativen Image zu befreien, besteht in der Tat darin, sich von Werturteilen zu distanzieren.
[…]
Die Dissonanz der westlichen Kultur mit der Toleranz wird noch dadurch verstärkt, dass sie den therapeutischen Wert der Bestätigung und des Selbstwertgefühls feiert. Heute gilt die Bestätigung der Identität des Einzelnen und der Gruppe häufig als heilige Pflicht. Es ist genau der Widerspruch zwischen Toleranz und Bestätigung, der ein ungünstiges kulturelles Klima für die Ausübung von Toleranz schafft.

Kurze Presseschau:
Demonstratives Desinteresse an Meinungsfreiheit
Eine Strategie zur Überwindung dieses Widerspruchs besteht darin, die Bedeutung von Toleranz um die Idee von Akzeptanz und Respekt zu erweitern. Galeotti plädiert in diesem Sinne für eine „Generalüberholung des Toleranzbegriffs“. Sie schlägt vor, die Bedeutung von Toleranz so zu verändern, dass sie den Akt der Anerkennung vermittelt. Sie stellt fest, dass „Duldung als eine Form der Anerkennung unterschiedlicher Identitäten im öffentlichen Raum verstanden wird“, und zwar durch eine „semantische Erweiterung von der negativen Bedeutung der Nichteinmischung hin zur positiven Bedeutung der Akzeptanz und Anerkennung“. Diese semantische Erweiterung des Begriffs um die Idee der unkritischen Anerkennung verändert seine eigentliche Bedeutung. Positive Toleranz ist ein Widerspruch in sich. In Wirklichkeit ist sie ein anderer Begriff für bedingungslose Akzeptanz.

Die Gegner der klassischen Toleranzidee beharren darauf, dass sie etwas anstreben, das höher oder fortschrittlicher sei als die Geste der bloßen Duldung. Oft pochen sie darauf, dass der klassische Toleranzbegriff zu negativ sei und dass sie eine positivere Version dieses Ideals vorschlügen. Der frühere irische Premierminister Garrett FitzGerald formuliert, dass das Wort Toleranz für ihn immer noch „bestenfalls mit widerwilliger Akzeptanz und schlimmstenfalls mit unverhohlener Feindseligkeit verbunden ist“, weshalb er sich einen positiveren Begriff wünscht, der die „menschliche Solidarität“ bekräftigt. Der deutsche Philosoph Karl-Otto Apel argumentiert, dass negative Toleranz nicht ausreiche, um die Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft zu bewältigen. Er plädiert für eine „positive oder bejahende Toleranz“, die eine „Vielfalt von Wertetraditionen“ respektiert und „sogar“ unterstützt.

Die Behauptung, das klassische Toleranzideal sei lediglich negativer Natur, beruht jedoch auf einem Missverständnis der Dialektik von Toleranz und Ablehnung. Ein Beispiel für diese Verwirrung liefert Galeotti, wenn sie schreibt, dass „tolerante Menschen, wenn sie könnten, sich wünschen würden, dass das tolerierte Verhalten nicht mehr existiert“. Das Argument, dass die Toleranten, wenn sie nur die geringste Chance hätten, lieber die Ansichten loswerden würden, die sie missbilligen, missversteht den Sinn der Toleranz. Der Akt der Toleranz ist keine zähneknirschend überbrachte altruistische Geste. Er meint auch nicht lediglich die Entscheidung, mit Verhaltensweisen und Gefühlen zu leben, die man missbilligt. Er meint vielmehr eine positive Wertschätzung der Notwendigkeit einer Vielfalt von Ansichten und widersprüchlichen Überzeugungen. Wie Mill feststellte, kann sich die individuelle Autonomie nur entfalten, wenn sie einer Bandbreite von Meinungen, Überzeugungen und Lebensstilen ausgesetzt ist. Toleranz steht für eine positive Ausrichtung auf die Schaffung von Bedingungen, unter denen Menschen ihre Autonomie durch die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, entwickeln können.

NatCon Brüssel
Kritiker der so genannten negativen Toleranz übersehen nicht nur ihr befreiendes Potenzial, sondern werden durch das Versäumnis, dieses Ideal ernst zu nehmen, oft zu Komplizen von Projekten der Intoleranz. Sobald Toleranz als instrumenteller Akt der Gleichgültigkeit gegenüber Ansichten und Meinungen betrachtet wird, verliert die Wahrung der Glaubens- und Redefreiheit ihren eigentlichen Wert. Deshalb konnte Herbert Marcuse in seiner Kritik an dem, was er als „repressive Toleranz“ bezeichnete, mühelos von seiner Anprangerung der kapitalistischen kultureller Dominanz zur Forderung nach Unterdrückung von Ansichten übergehen, die er für anstößig hielt. Er hatte kein Problem damit, „dass Gruppen und Bewegungen die Rede- und Versammlungsfreiheit entzogen wird, die eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen befürworten oder sich der Ausweitung öffentlicher Dienste, sozialer Sicherheit, medizinischer Fürsorge usw. widersetzen“.

Zahlreiche zeitgenössische Kritiker der ‚negativen‘ Toleranz folgen Marcuses Weg und plädieren schließlich für einen selektiven Ansatz bei Toleranz und landen bei der Ausarbeitung einiger sehr einfallsreicher Argumente für die Einschränkung von Meinungsäußerungen und die Zensur von Ansichten, die sie verabscheuen. Unter diesen Umständen ist die Entwicklung eines konsequenten und wirklich ernsthaften Zugangs zur Toleranz eine dringliche Aufgabe für alle, die sich um die Zukunft der Demokratie sorgen.


Dieser Beitrag ist zuerst auf Frank Furedis Substack erschienen.
Frank Furedi ist geschäftsführender Direktor des Think-Tanks MCC-Brussels, Autor zahlreicher Bücher und politischer Kommentator der Gegenwart. Mehr von Frank Furedi lesen Sie in den aktuellen Büchern „Die sortierte Gesellschaft – Zur Kritik der Identitätspolitik“ und „Schwarzes Leben, weiße Privilegien? Zur Kritik an Black Lives Matter“.

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Kommentare ( 3 )

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Haba Orwell
15 Tage her

> Bis zum 17. Jahrhundert wurde Toleranz gegenüber anderen Religionen, Meinungen und Überzeugungen als eine Form von moralischer Feigheit, wenn nicht gar als ein Symptom der Ketzerei interpretiert.

Viele Konferenzteilnehmer wie etwa Morawiecki reden 1:1 genauso, falls jemand versucht, die Positionen der Russen und der Chinesen zu verstehen. Wenn die Toleranz einzig für weißen „Garten“ reserviert werden soll (der auch noch eine gartenige Hierarchie kennt: Angelsachsen > übriges Westeuropa bis Elbe > westliches Osteuropa > Russland), war es eine wertvolle Lektion, dass ein paar Konservative erfahren durften, wie sich „westliche Werte“ anfühlen.

Georgina
16 Tage her

Schon 1970, in einem interessanten Gespräch in San Diego [Kalifornien, USA] zwischen Herbert Marcuse und Friedrich Hacker, musste Marcuse eingestehen, dass die utopische Vorstellung, die Enttabuisierung der Sexualität und die Realisierung der Libido baue Aggressionen ab, ein verhängnisvoller Irrtum war. Trotz Abbau von Autorität und Scham (beides gehört zusammen) trotz zunehmender „Toleranz“, trotz Verminderung der Triebeinschränkung ist Aggressivität rasant angestiegen und steigt weitweit weiter an. Soviel Realismus zum Traum der angeblilch selig machenden Toleranz, sofern die Fraktion (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) die Macht innehaben darf, die Diskussion „leiten“, weil sie sich für die gescheiteste Partei hält, unter der Sonne. Die echte… Mehr

Last edited 16 Tage her by Georgina
Dieter Rose
16 Tage her

Sie haben nicht bemerkt, dass es zwei Arten von Toleranz gibt:
Wenn jemand die gleiche Meinung vertritt, gilt sie, wenn jemand eine andere Meinung vertritt, gilt sie nicht. Man kann ja nicht verlangen, dass man seine Pfründe bloß wegen andreren Meinungen aufgeben muss.