In Gelsenkirchen ist der Versuch von SPD und CDU gescheitert, die AfD vom Bürgermeisteramt fernzuhalten: AfD-Fraktionschef Norbert Emmerich wurde per geheimer Wahl zum zweiten Bürgermeister gewählt – mit drei zusätzlichen Stimmen aus unbekanntem Lager, eine politische Zäsur.
picture alliance/dpa | Henning Kaiser
SPD und CDU in Gelsenkirchen wollten es eigentlich einfach halten: eine gemeinsame Liste, zwei Bürgermeisterposten, kein Amt für die AfD. Am Ende steht nun ausgerechnet AfD-Fraktionschef Norbert Emmerich als zweiter Stellvertreter von Oberbürgermeisterin Andrea Henze (SPD) im Protokoll.
Ausgangspunkt war die konstituierende Ratssitzung für die Wahlperiode 2025–2030. Nach Vereidigung der Oberbürgermeisterin und Verpflichtung der 66 Stadtverordneten sollte die Doppelspitze aus Manfred Leichtweis (SPD) als Erstem und Werner Wöll (CDU) als Zweitem Bürgermeister durchgewinkt werden. 43 Ratsmitglieder votierten für die gemeinsame Liste von SPD und CDU, 23 für den Gegenkandidaten Emmerich. Entscheidend war nicht die Lautstärke im Saal, sondern das D’Hondt-Rechnungsverfahren. Für den zweiten Platz werden die Stimmen rechnerisch geteilt – für Wöll blieben 21,5 Stimmen, Emmerich kam mit seinen 23 Voten darüber. Gewählt wurden damit Leichtweis und Emmerich. Der Versuch von SPD und CDU, durch eine gemeinsame Liste eine Beteiligung der AfD an den Bürgermeisterämtern zu verhindern, lief ins Leere.
Emmerich, 72 Jahre alt, Bankkaufmann und seit Jahren im Rat, zeigte sich nach der Wahl sichtlich überrascht. „Ich bin überrascht, mir fehlen die Worte. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass wir drei Stimmen mehr kriegen, als wir im Rat haben“, sagte er. Und mit Blick auf die Absprachen der anderen Fraktionen fügte er hinzu: „Da sieht man wieder, man kann im Hinterzimmer kungeln, soviel man will, es gibt ehrliche Menschen, die sagen, wir lassen uns nicht verbiegen.“
Im Lager von SPD und CDU war der Schock früh sichtbar. Ihre Fraktionsgeschäftsführerinnen begleiteten die Auszählung und erkannten das Ergebnis, bevor es offiziell verkündet wurde. Während die AfD-Fraktion jubelte, blieben die übrigen Ratsmitglieder regungslos. Werner Wöll zeigte den auf der Besuchertribüne sitzenden CDU-Mitgliedern den Daumen nach unten. Die ersten Reaktionen fielen entsprechend hart aus. CDU-Fraktionschef Sascha Kurth sprach von einem „Desaster“ aus Sicht seiner Partei. Die drei zusätzlichen Stimmen für Emmerich hätten die politische Arbeit „für die nächsten Jahre schwer beschädigt“. SPD-Fraktionschef Dominic Schneider erklärte: „Die drei sollten sich wirklich fragen, ob sie Demokraten sind.“ Sein Fazit über den Tag der Wahl: „Ein schlechter Tag für Gelsenkirchen.“
Offen bleibt, aus welchem Lager die drei zusätzlichen Stimmen stammen. Neben SPD, CDU und AfD sind neun weitere Parteien im Rat vertreten. Schneider schloss aus, dass die Stimmen aus der SPD-Fraktion kommen. Offiziell hat sich bislang niemand zu einem Votum für Emmerich bekannt – das Rätselraten im Rathaus ist damit programmiert.
Die Wahl fällt nicht aus heiterem Himmel: Bereits vor wenigen Wochen waren zwei stellvertretende Bezirksbürgermeister aus der AfD gewählt worden. Im Bezirk Ost ergab sich dies aus den Mehrheitsverhältnissen, im Bezirk Süd musste es mindestens einen Abweichler aus den Reihen von SPD oder CDU gegeben haben. Nun ist von „drei Lokalpolitikern“ die Rede, die sich mit ihren Stimmen auf die Seite der AfD gestellt haben sollen.
Zusätzliche Spannung gab es schon vor der Ratssitzung. Nach Informationen aus dem Umfeld der Stadtverordneten wurde befürchtet, dass sich unter den sechs Einzelmandatsträgern von WIN, AUF, PARTEI und BSW so viele bei der Wahl enthalten, dass es für Werner Wöll eng werden könnte. Vertreter von AUF und der PARTEI hatten demnach eine bessere finanzielle Ausstattung der Einzelmandatsträger eingefordert und sonst Enthaltungen in Aussicht gestellt. Öffentlich erklärten beide später in Pressemitteilungen, Wöll wählen zu wollen und betonten, ihr Ziel sei es, eine Besetzung durch die AfD zu verhindern.
Vor Beginn der Sitzung demonstrierte die AUF gemeinsam mit anderen Gruppen gegen die AfD vor dem Rathaus. Nach Emmerichs Wahl wurde die Sitzung für rund 40 Minuten unterbrochen. Anschließend legten Leichtweis und Emmerich ihren Amtseid ab. Als Emmerich an der Reihe war, verließen – mit Ausnahme der Einzelmandatsträger von WIN und BSW – alle übrigen Stadtverordneten geschlossen den Saal. Emmerich hatte bereits zuvor als Oberbürgermeisterkandidat der AfD bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt. In der Stichwahl gegen Andrea Henze unterlag er zwar, erzielte aber 33 Prozent. In der vorangegangenen Wahlperiode (2020–2025) arbeitete er als ehrenamtlicher Stadtverordneter, nun steht er der 20-köpfigen AfD-Fraktion vor. Als zweiter Bürgermeister kann er die Oberbürgermeisterin künftig bei offiziellen Anlässen vertreten – von Empfängen über Kranzniederlegungen bis hin zu Ausstellungseröffnungen.
Der Rat kommt bereits am Donnerstag erneut zusammen, um unter anderem die Fachausschüsse zu besetzen. Parallel verhandeln SPD, CDU, FDP und Grüne über eine mögliche Vierer-Koalition. Die fehlgeschlagene SPD/CDU-Liste bei der Bürgermeisterwahl und die offene Frage nach den drei Stimmen für Emmerich dürften den Gesprächen eine zusätzliche Note geben.
Bad Salzuflen hat bereits vorgemacht, wie man ein unerwünschtes Wahlergebnis wieder aus dem Verkehr zieht: Dort wurde AfD-Politikerin Sabine Reinknecht erst zur Vize-Bürgermeisterin gewählt und nach wenigen Tagen vom Rat wieder hinauskomplimentiert. Gelsenkirchen steht nun vor derselben Versuchung – die Wahl Norbert Emmerichs nachträglich als Betriebsunfall zu behandeln und politisch rückgängig zu machen.

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